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Seegeschichten/2. Die Springstange

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Textdaten
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Autor: Heinrich Kruse
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Titel: Seegeschichten
2. Die Springstange
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 253
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[253]
Seegeschichten.
Von Heinrich Kruse.[1]
2. Die Springstange.

Hundert Meilen zurück aus dem Weltmeer warf uns die Windsbraut,
Und zehn Tage schon waren wir nicht aus den Kleidern gekommen;
Denn wir trieben für dumm in den Nebeln der englischen Küste,
Jeglichen Augenblick auf den Strand zu laufen gewärtig.
Spät stieg eben der Mond aus den Wogen, von Wolken umzogen,
Und wir sahen ein strandendes Schiff, daneben die Küste.
Portland war’s, in die Wellen gestreckt, als wär’ es ein Eiland,
Hoch und kahl, baumlos, nur ein weiter, gewaltiger Steinbruch.
„Siehst Du?“ sagte mir Jahn, der Matrose, „da haben wir Portland.
Ist doch wahr, was man spricht, sieht aus, als wenn es ein Sarg wär’.
Wollte man alle die Menschen zusammen begraben, die hier schon
Zuviel Wasser geschluckt, kaum faßte sie alle der Sarg da!“
Also sagte zu mir Jahn Meier, der alte Matrose,
Sonst die vergnüglichste Haut und voll gutmüthiger Einfalt,
Und: „Nichts leichter, als das!“ war stets sein Wort und Gerede;
Doch jetzt war es ihm auch ein wenig bedenklich geworden.
Als ich hörte vom Sarg und den vielen ertrunkenen Menschen,
Hatt’ ich der Sache genug. Ich ging hinunter, der Wogen
Schreckliche Schlacht nicht ferner zu schau’n. Ich legte mich nieder,
Wo mein Lager bereitet mir war, dort unter die Treppe;
Aber der Raum war schmal, und nicht in gewöhnlicher Folge
Gingen die Glieder hinein, ich mußte sie einzeln verpacken:
Hoch auf standen die Knie’, doch der Kopf lag in der Vertiefung.
Da nun kroch ich hinein und versank in Betäubung. Doch bald ward
Schrecklich ich wieder geweckt. Ich hörte die Stimmen der Mannschaft
Durch das Gekrache des Schiffs und das Heulen und Klatschen der Wogen.
„Noth! Noth! Noth!“ so tönte der Ruf. Ich stoße den Kopf mir,
Daß mir die Stirn aufschwillt, und schreie nach oben: „Was giebt es?“
„Nichts, mein Junge!“ so rief mein Gönner, der obere Steu’rmann,
„Als daß schwimmen wir müssen ein wenig; drum ziehe Dich leicht an,
Nichts als Leinwand, Jung’, so knapp am Leibe wie möglich;
Brauchest ’ne Schwimmhos’ nur. Und rasch, mein Junge!“ Ich konnte
Aber nicht rasch. Mir war’s wie im Traum, wo man fertig zu werden
Nicht im Stande sich fühlt und sich ängstigt. Da hör’ ich den Bootsmann
Neben mir fluchen. Er hatte sich auch zum Schlafen begeben,
Ehrliches ruhiges Blut! als draußen der Sturm ihm zu wild ward,
Und nun konnt’ er die Schuh’ nicht finden und fluchte gewaltig:
„Du nichtswürdiger Preuße, wo hast Du die Schuhe gelassen?“
„Bootsmann, seid doch gescheidt. Mir ist wahrhaftig so wohl nicht,
Daß ich zu meinem Vergnügen Euch wegstibitzte das Schuhzeug.“
„Junge, wo hast Du die Schuhe versteckt? Wo sind sie? Wie darfst Du,
Königssclav’, wie Du bist, einem freien Bürger von Bremen
Nehmen das Seinige? Sprich! Ich will Dir die Späße vertreiben!
Wart’, ich bezahle Dich noch!“ So sprach Klaus Babbe, der Bootsmann,
Während er sucht’ nach den Schuh’n. Indeß bin ich fertig geworden
Und will eben hinauf mit der Eile des Todes. Der Bootsmann
Zieht bei’m Bein mich zurück, und ich falle herab wie vom Kirschbaum.
„Jung’, bei solcher Gelegenheit bist Du immer der Letzte.
Erst kommt Ohm und dann sein Sohn!“ So sprach er behaglich,
Und fuhr rasch in die Schuh’, die glücklich sich wiedergefunden.
Ich lag aber derweil am Boden, betäubt von dem Falle,
Rollte herüber, hinüber mit Kasten und Kleidern und Sachen,
Während des heftigen Stampfens des Schiffs. Klaus sagte vergnüglich:
„So, nun brauch’ ich doch nicht barfuß zum Teufel zu laufen!“
Und dann stieg er hinauf. Ich erhob mich, so wie ich allein war,
Und stieg eilig ihm nach, mit der Angst, die fast ich vergessen
Ueber die Affenkomödie da, die Klaus mir gespielet.
Draußen ertöne die feine und weibliche Summe des Steu’rmanns,
Welche den Sturm durchdrang so klar wie Flöten. Er schimpfte
Fürchterlich, gegen die eigene Art. Bei rauhem Geschäfte
War er ein zierlicher Mensch. Nun donnert’ er: „Schurken und Hunde!
Hat drei Masten, ich seh’s; von Amerika ist es dem Bau nach.
Sind an die offene See nur gewöhnt und bequemliches Segeln.
Hier im kleinen Gewässer verlieren sie gleich die Besinnung.
Ja, sie fürchten, die Hunde, sich hier und legen aus Feigheit
Sich in die Kojen hinein und lassen vom Winde sich treiben.
O, man sollte sie all aufhängen am obersten Raae!
Schurken und Hunde!“ So schrie mit männlichem Zorne der Steu’rmann.
Aber der Herr war ganz zum Weibe geworden und heulte,
Seiner verlassenen Braut mit Seufzen und Jammern gedenkend.
„Adelheid, Adelheid, muß mich das Unglück treffen!“ so klagt’ er.
„Was für ein Unglück?“ rief ich bestürzt. Doch mich würdigte Keiner
Auch nur Rede zu stehn. Vorn standen geschaart die Matrosen,
Lugten hinaus. Kein Stern war oben am Himmel zu sehen;
Nur vom verborgenen Mond aufsogen die Spitzen der Wellen
Ein unheimliches Licht und bildeten Schreckensgestalten.
Dort! Wird dunkler die Nacht? Was ist das? Es naht sich ein Schwarzes.
Ach, nun seh’ ich es auch! Herr Gott im Himmel, ein Schiff kommt
G’rad’, ein gewaltiges Schiff, auf uns los! Wir können nicht weichen!
Und vor der Ewigkeit stehen wir jetzt! – Von Wogen und Schaum fährt
Plötzlich dazwischen ein Berg. Nichts sahen wir mehr von dem Schiffe.
Da, Allmächtiger, kommt es von Neuem, als stieße es nach uns!
Sanft handbreit vor dem Spiegel vorbei, reißt Kreuz und Besan uns
Prasselnd mit Allem davon, und schießt in die Nacht und den Sturm fort.
Ah, wir athmeten auf, wie entgangen dem jüngsten Gerichte!
„Ich war gar nicht bang’!“ ruft plötzlich Jahn, der Matrose.
„Was? Du warst nicht bang’,“ sagt Steu’rmann ärgerlich, „Schwachkopf?
Nun die Gefahr vorüber, da bist Du muthig geworden.
Sprich, was konntest Du thun, Du Narr?“ Jahn sagte mit Ruhe:
„Mein Entschluß war gefaßt: ich sprang auf’s andere Schiff ’rauf.“
„Da war freilich auch Zeit!“ sprach lachend der obere Steu’rmann.
„Ehe wir Amen gesagt, wär’ fertig die Sache gewesen.
Jahn, Du bist nicht gescheidt. Und dann, armseliger Prahler,
Sprich, wie kannst Du denn springen, wenn eben wir unter den Kiel gehn,
Zehn Ell’n hoch auf den Bord?“ Jahn Meier erwidert’ und sagte:
„O, nichts leichter als das! So hätt’ ich ’ne Stange genommen.“
Ueber die Springstang’ lachten wir sehr und pflegten zu sagen:
„O, nichts leichter als das für Jahn: er springt mit der Stange!“


  1. Mit Bezug auf unsere neuliche Notiz in Nr. 3 haben wir heute nachzutragen, daß H. Kruse noch ein drittes Drama: „Wullenwever“ geschrieben, dessen zweite Auflage vor Kurzem erschienen ist.
    Die Redaction.