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Die Gartenlaube (1863)/Heft 25

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[385]


Dank an die Glückwünschenden zum 16. Mai 1863.[1]



So viel Flocken der Mai duftigen Blüthenschnees
Mit verschwendrischer Hand jetzt dem Gefilde streut,
     So viel regneten Wünsche
Meinem Feste von fern und nah.

5
So viel Blumen im Thau schmeichelnde Morgenluft

Weckt und küssend in Schlaf wieget der Abendwind,
     So viel Freuden zu pflücken,
Meine Wünschenden, wünsch’ ich Euch.

Auch des blühendsten Mai’s blühendste Blüthe welkt,

10
Und eh’ sie sich besinnt, sieht sich die Jugend alt;

     Doch nie welket und altert
Mir im Herzen das Dankgefühl.

Dank, daß mir zum Gesang öffnet’ ein Gott den Mund,
Dank, daß meinem Gesang dankend ein Hörerkreis

15
     Auch antwortet, und Dank, daß

Ich ihm heute noch danken kann.

Fr. Rückert.


Eine dunkele That.
Erzählung von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Der Justitiar hatte bei den letzten Worten langsam den Kopf gehoben und blickte dem Arzte in’s Gesicht, als suche er darin das Verständniß für einen noch unausgesprochenen Gedanken. In des Doctors Zügen hatte sich indessen der Ausdruck der frühern Starrheit und Sorge mit jedem gehörten Satze mehr aufgeklärt, und der Blick des Redenden traf auf ein Auge, in welchem sich kaum mehr als die ernste Spannung auf das Ende der begonnenen Mittheilung verrieth.

„Meine erste Sorge, als sich mir die Unmöglichkeit einer Wiederbelebung vor die Augen stellte,“ fuhr der Justitiar, den Kopf wieder senkend, von Neuem fort, „war es, die gesammten Hausgenossen einzeln zu verhören, ob nicht während der Nacht irgend eine Bemerkung die zu weiteren Schlüssen hätte Veranlassung geben können, von einem derselben gemacht worden war. Die Kunde des Geschehenen war bereits durch das ganze Haus gedrungen, und es machte einen wohlthuenden Eindruck auf mich, als, kaum daß wir den Körper im Hinterzimmer niedergelegt, die junge Frau Amtsräthin, gänzlich verstört und nur mit dem bekleidet, was sie in Hast über sich geworfen, hereinstürzte, bei dem Anblick des mit Blut bedeckten Todten aber fast besinnungslos in den nächsten Stuhl sank und nur noch die Worte: „Schicken Sie um Gotteswillen nach dem Doctor!“ hervorbringen konnte. Wir wußten ja Alle, daß sie den Amtsrath nicht eben aus Liebe genommen. Sie konnte ich jetzt natürlich nicht mit Fragen quälen und übergab sie der Sorge ihrer Christine, die halb eine Wirthschaftshülfe, halb eine Art Kammermädchen bei ihr vorstellt; begann dann im anstoßenden Zimmer ein Verhör mit den Knechten und Mägden, konnte aber bei Niemand zu einer Angabe, die irgend einen Verdacht hätte rege machen können, gelangen. Da stellte sich, als ich eben ziemlich hoffnungslos den ganzen dunkeln Fall mir noch einmal vor die Seele rief, die Christine wieder ein, warf einen raschen Blick durch das Zimmer, ob sie auch völlig mit mir allein sei, und wies dann auf den neben mir auf dem Tische liegenden gefundenen Handschuh, den Keines der Uebrigen hatte kennen wollen. „Ich denke, Herr Justitiar, ich weiß, wo der Handschuh dort hingehört, wenn ich auch damit nicht das geringste Schlimme weiter gesagt haben will,“ begann sie geheimnißvoll; „ich halte es aber bei der schrecklichen Geschichte auch für meine Pflicht, Ihnen etwas Anderes zu erzählen, das mit dem Handschuh zusammenhängen könnte.“ Und nun folgte ihrerseits eine Mittheilung, welche mich mit jeder Minute mehr spannte. Der junge Rothe, Ihr Nachbar, Doctor, war am Nachmittag bei der jungen Frau gewesen, und das Mädchen wollte im Vorbeigehen an der Stubenthür einige Worte des Gesprächs zwischen Beiden aufgefangen haben, welche sie unwillkürlich zum Stillstehen gebracht. Die Beiden im Zimmer hatten sich gegenseitig ihre Liebe erklärt, und Rothe war endlich zu den Worten gekommen: um eines Mißverständnisses willen, durch welches die Heirath der Amtsräthin herbeigeführt worden, dürften sie nicht Beide zeitlebens elend werden, und es müsse noch Mittel geben, die junge Frau wieder frei zu machen – Abends um elf Uhr wolle er im Obstgarten sein, um das Weitere mit ihr zu besprechen. Christine behauptete ferner, daß die Neugierde sie getrieben, um die besprochene Zeit die mondhelle Umgebung des Hauses von ihrem Fenster aus zu beobachten, daß sie den jungen Rothe wirklich auf dem Wege nach der Rückseite des Hauses bemerkt, denn aber ihre Aufmerksamkeit dem Zimmer der Amtsräthin zugewandt habe. Sie [386] sei indessen, als dort nach geraumer Zeit sich nichts geregt, eigeschlafen und wisse nicht, ob die Zusammenkunft stattgefunden. – So sehr nun auch der letzte Punkt im Zweifel liegt,“ fuhr der Justitiar, sich rasch durch das graue Haar streichend, fort, „so hat sich doch mit voller Beweisstärke herausgestellt, daß Fritz Rothe in der letzten Nacht an demselben Orte im Obstgarten, wo der Mord stattgehabt, sich befunden hat – denn,“ setzte er langsam aufsehend hinzu, „den gefundenen Handschuh bezeichnet nicht allein Christine für den Rothe’s, sondern auch ich entsinne mich desselben deutlich – ein ähnliches Paar, wie es der junge Mensch als eine Art von Stutzer trug, werden Sie vergeblich auf unsern Dörfern umher suchen. Wenn erst festgestellt worden, wo der Amtsrath die letzte Nacht gewesen und wann er den Heimweg angetreten, wird sich auch ermitteln lassen, wie die Zeit von Rothes Anwesenheit mit der Rückkehr des Ermordeten stimmt – mir ist,“ fuhr der Gerichtsmann in sichtlicher Erregung fort, „wenn ich an die Mittheilung über das stattfindende Verhältniß zwischen der jungen Frau und dem jungen Menschen denke, der ganze Sachverlauf so klar, daß ich wohl kaum noch ein weiteres Wort darüber verloren hätte, wenn sich nicht die ganze Macht meiner rein menschlichen Anschauung, die sich in der langen Bekanntschaft mit den beiden jungen Hauptbetheiligten gebildet, gegen die Ueberzeugung des Inquirenten auflehnte.“

Das wohlgenährte Gesicht des alten Arztes war im Verlaufe der Rede bleicher und bleicher geworden; dennoch blickte sein Auge fest und ruhig in das des Sprechenden. „Ich kann die gewaltige Macht einer Beweisführung, wie Sie diese andeuten, verstehen,“ sagte er jetzt langsam; „Sie vergessen nur, daß nach Ihrer eigenen Angabe der Stich vom Rücken aus erfolgt, daß das Gras umher unzertreten gewesen ist und daß mithin ein wohlbedachter Meuchelmord vorzuliegen scheint. Wollen Sie sich diesen aber in Verbindung mit einem jungen Manne denken, der seiner Gemüthsart und seinem ganzen bisherigen Leben nach –“

„Das ist es ja eben, was mich in vollen Widerspruch mit mir selbst bringt,“ unterbrach ihn der Justitiar eifrig, „wollen Sie sich aber vermessen, in alle Tiefen der menschlichen Leidenschaft zu dringen, um genau die Grenze zu bestimmen, bis wohin sie Den, welcher ihr in einer unglücklichen Stunde verfallen, führen kann?“

Der Doctor hob kräftig den Kopf. „Alles recht, lieber Herr,“ versetzte er, „aber ich sage Ihnen, daß selbst die Spitze der Leidenschaft einen kräftigen, edlen Charakter nie zum feigen Meuchelmörder machen wird; sage Ihnen, daß diese beiden jungen Leute so unschuldig an dem Geschehenen sind, als wir, die wir hier sitzen, selbst. – Welche Maßregeln haben Sie bereits getroffen?“ setzte er hastig hinzu.

Der Andere zuckte bedauernd die Achseln. „Ich habe pflichtgemäß Rothe’s Verhaftung anordnen müssen – die Amtsräthin habe ich ersucht, bis zu Ankunft der Gerichts-Commission ihr Zimmer nicht zu verlassen, und habe die äußerliche Bewachung desselben angeordnet –“

„Lassen Sie mich den Todten sehen!“ rief der Arzt, sich rasch erhebend, und schritt seinem Gesellschafter selbst nach der Thür voran.




Eine halbe Stunde danach war der Doctor wieder auf dem Heimwege; als er aber den Wald durchschnitten, lenkte er das Pferd, das gewohntermaßen die Richtung nach der kleinen Besitzung an der Anhöhe jenseits des Thales nehmen wollte, auf die Straße nach dem Dorfe im Grunde. Es war das erste Mal, daß er auf seinem Ritt das starr vor sich hin blickende Auge gehoben, und nur ein einziges Bild war es, welches bis dahin seinem innern Auge vorgeschwebt – das war der gefesselte Fritz Rothe, welcher ihm, den Gensd’arm an seiner Seite, beim Austritte aus dem Hofe des amtsräthlichen Gutes begegnet. Ein einziger, voller Blick auf den Verhafteten hatte dem Arzte ein wohl todtenbleiches, aber wunderbar ruhiges Gesicht gezeigt, auf dem sogar etwas wie ein stiller, freudiger Strahl geleuchtet, der in diesem Momente indessen des Alten Gefühl fast wie ein Frevel berührt. „Fritz, um Gotteswillen,“ hatte dieser wie von einem peinlichen Zweifel ergriffen gerufen, „hast Du dem Teufel erliegen müssen? – aber es ist nicht so, ich weiß es, ich weiß es!“ hatte er dann rasch, wie über seine eigenen Worte erschrocken, hinzugesetzt, und ein plötzliches Erstarren in Rothe’s Zügen, als er dem Doctor in’s Gesicht geblickt, hatte sich bei dessen Nachsatze gelöst. „Onkel, das habe ich nicht gethan, was da geschehen ist, und daran halten Sie nur fest!“ war die Antwort gewesen, die unter aufleuchtenden Augen, aber wie aus vertrockneter Kehle sich hervorgerungen; „es spielt wohl Niemand umsonst mit dem Teufel, und darum büße ich jetzt; aber Gott hat uns nicht verlassen!“

Und diese letzte Aeußerung war es, mit welcher der Alte, trotz seiner festgewordenen Ueberzeugung von Rothe’s Unschuld, sich bis jenseit des Waldes herumgequält – etwas mußte vorgefallen sein, was den jungen Mann mit dem Geschehenen in Verbindung brachte, und mehr als einmal hatte der Grübelnde sich die meuchelartige Weise des Mordes wieder vor die Seele rufen müssen, um wieder zu seinem früheren unumstößlichen Halte zu gelangen.

Der eingeschlagene Weg führte nach der Mitte der langgestreckten Häuserreihe; ehe er diese indessen erreicht, ließ er das Pferd in einen Fußpfad einbiegen, welcher nach dem Ende des Dorfes, der nächsten Nachbarschaft von seiner eigenen Besitzung führte. Ein stattliches Haus, mehr im städtischen Style gehalten und durch die ausgedehnten Wirthschaftsgebäube den Wohlstand des Besitzers andeutend, blickte ihm dort entgegen, und schon von Weitem ließ der Hinzureitende die Augen durch den offenen Hof, wie über die Umgebung des Hauses schweifen, als wolle er dort irgend ein menschliches Wesen entdecken, ehe er selbst das Haus betrat; ringsum aber schien Alles wie ausgestorben, und mit einem tiefen Athemzuge, hörbar aus schwerem Herzen kommend, trieb er sein Pferd zu rascherem Schritte an. Als er endlich in den reinlichen Hof einritt, steckte ein Knecht den Kopf scheu aus einer halboffenen Stallthür heraus und trat sodann, den Angekommenen erkennend, heran, ohne einen Versuch zu machen, den verstörten Ausdruck seines Gesichts zu verdecken. Der Alte nickte ihm ernst und verständnißvoll zu und fragte, ihm das Pferd übergebend, halblaut: „Sind sie zu Hause?“

„Die Frau ist drinnen, aber der Herr ist nach der Stadt zum Advocaten, wie ich gehört!“ war die gedämpfte Antwort, und langsam wandte sich der Doctor nach der breiten Hausflur, dort vor der nächsten Thür einige Secunden, wie sich sammelnd, stehen bleibend. Geräuschlos und ohne anzuklopfen öffnete er dann und trat in ein geräumiges, völlig städtisch eingerichtetes Zimmer, in dessen Hintergrunde eine Frauengestalt im Sopha lehnte, den von dichtem grauen Haare eingehüllten Kopf in die Seitenkissen gedrückt.

Einen Augenblick blieb der Eingetretene in der Mitte des Zimmers stehen, die Dasitzende schweigend betrachtend, dann sagte er in einem so weichen Tone, wie man ihn kaum aus diesem von Runzeln umzogenen Munde erwartet hatte: „Lisbeth!“

Die Frau fuhr auf und zeigte ein bleiches, starres Gesicht, das trotz der deutlichen Spuren des Alters die Feinheit und frühere Schönheit ihrer Züge noch immer hervortreten ließ; nur einen Moment hafteten die sichtlich vom Weinen gerötheten Augen auf dem Dastehenden, dann löste sich plötzlich die Starrheit ihres Ausdrucks und mit einem, wie im vollen Schmerze hervorbrechenden: „Maiwald – Doctor. Gott sei Dank, daß Sie kommen – haben Sie es denn gehört – wissen Sie es denn?“ erhob sie sich und streckte ihm beide Hände entgegen.

„Nur Ruhe und Fassung, das ist jetzt das Nöthigste!“ erwiderte der Alte, ihre Hände fest in die seinen nehmend, während er ein Aufwallen der eigenen Weichheit zu unterdrücken schien; „er ist unschuldig, verlassen Sie sich darauf, oder ich habe noch niemals in eines Menschen Seele lesen können –“

„Gott gebe es, Doctor, und bringe es an den Tag!“ rief sie mit den neu hervorbrechenden Thränen kämpfend; „aber ich glaube nicht recht daran, es sind nicht Alle solche Engelsseelen, wie Sie, Maiwald, und der Fritz vielleicht am wenigsten! Ich habe gewußt, wie es mit ihm steht, und habe doch nicht zu ihm reden können,“ fuhr sie erregter fort. „es war mir, als hätte ich damit die eigene Schuld meiner Jugend wieder aus der Vergessenheit aufwecken müssen – und jetzt kann ich es nicht aus den Gedanken bringen, daß an ihm gestraft werden soll, was ich einmal in meinem Leichtsinne gesündigt –“ ein krampfhaftes Schluchzen unterbrach ihre Rede, und der Doctor, um dessen Mund es plötzlich wie eine mühsam niedergehaltene Seelenbewegung zuckte, führte sie langsam nach dem Sopha zurück.

„Regen Sie sich nicht noch absichtlich mit Vorstellungen auf, Frau Rothe, die nur Ihre angegriffenen Nerven erzeugen,“ versetzte er ernst und gehalten, nachdem er sich den nächsten Stuhl herbeigezogen; „wenn von einer Sünde gesprochen werden soll, die sich [387] an alte, längst begrabene und vergessene Dinge knüpft, so ist es der Aberglaube, der sie wieder lebendig machen und in den weisen Rathschluß unseres allgütigen Herrgotts hereinpfuschen lassen will. Wenn ich zufrieden bin mit dem, was einstmals geschehen, und mich glücklich in meinem jetzigen Schicksale fühle,“ setzte er weicher hinzu, „wer hätte dann wohl ein Recht, auch nur eines Haares Schwere auf Sie zu legen, Elisabeth?“

Die noch immer schönen, dunkel blauen Augen der Frau hoben sich wie unter einer warmen Empfindung nach dem Gesichte des alten Arztes; dieser aber wich ihrem Blicke aus und sagte. „Lassen Sie uns ruhig mit einander reden; ich bin von seiner Unschuld wie von meinem Leben überzeugt, das hilft aber in dem Falle, wie er liegt, bei dem Gerichte nichts, und wir haben mit allen unsern Verstandeskräften zu arbeiten, daß wir Punkte auffinden, aus denen ein ordentlicher Advocat den Beweis seiner Unschuld herleiten kann. Wissen Sie, daß er vergangene Nacht aus dem Hause gewesen ist?“

„O, ich habe ihn gehen und kommen hören,“ rief sie schmerzlich, „ich ahnte es, daß er zu ihr ging, mir war es, als müsse ein Unglück daraus entstehen, und ich konnte ihn doch nicht warnen. Dann, als er heimgekommen war und fast noch eine Stunde in seiner Kammer rastlos auf und ab ging, da wußte ich, daß etwas Uebeles geschehen sein mußte, und als beim frühen Morgen die Nachricht kam, der Amtsrath sei erschlagen, wollten die Beine unter mir brechen, denn ich wußte nun, daß er mit dem zusammengetroffen war –“

Ein rasches, unwilliges Kopfschütteln des Arztes unterbrach sie. Er ist nicht mit ihm zusammengetroffen, sagte er kurz und bestimmt, „der Mord ist heimtückisch und hinterrücks geschehen – halten Sie den Fritz dessen fähig? – Und noch Eins!“ fuhr er erregt fort, „die Todeswunde ist mit einem ungewöhnlich breiten Messer beigebracht, etwa von der Art wie es zum Vorschneiden in der Küche gebraucht wird – haben Sie wohl mehr als eins davon hier im Gebrauche?“

Die Mutter sah dem Sprecher einen Augenblick starr in’s Gesicht, als verstehe sie ihn nicht. „Hinterrücks ermordet – mit dem Vorschneidemesser?“ sagte sie stockend; „o nein, o nein!“ brach es dann aus ihrem Munde, und zugleich schnellte sie auf ihre Füße, hastig aus dem Zimmer eilend. Der Doctor sah ihr mit einem langsamen Kopfneigen nach und hielt den Blick auf die Thür geheftet, bis sie eilfertig mit einem großen Vorlegemesser wieder erschien. „Da ist es – an derselben Stelle, wo es gestern Abend noch gebraucht worden ist!“ rief sie schon beim Eintreten, „o, er mag im Kampfe einen Todtschlag begangen haben, als der Amtsrath Beide überrascht hat, aber ein Meuchelmörder ist er nimmer, nimmer!“

„Und sonst ist keins dieser Art im Hause?“ fragte der Alte, das Messer aufmerksam betrachtend, welches in dem fettigen Aussehen noch von dem letzten Gebrauche sprach. „Und die Wirthschafterin könnte jedenfalls auch Zeugniß ablegen, daß sie es in demselben Zustande wiedergefunden, wie sie es aus der Hand gelegt?“ setzte er nach der hastigen Verneinung der Frau hinzu, – „aber das ist ja Alles noch kein Beweis; es giebt ja so viele Messer in der Welt,“ unterbrach er sich, mit der Hand unmuthig in das buschige Haar fahrend, „hier muß ein geriebener Jurist die Sachen in die Hand nehmen. Sagen Sie mir nur, ob Sie auf die Stunde seines Gehens und Kommens geachtet haben?“

„O, ich habe jede Viertelstunde an der alten Uhr schlagen hören, so lange er weg war. Es konnte noch nicht halb elf sein, als er sich fort schlich, und eine geraume Weile schon wanderte er wieder in seiner Kammer umher, als es eins schlug. Er kann sich kaum länger als eine halbe Stunde drüben aufgehalten haben! Uebrigens hörte ich, wie er beim Heimkommen ein kurzes Wort mit dem Knechte wechselte, der nach dem kranken Pferde sah!“

Der Doctor nickte hastig. „Das wäre etwas – wenn sich nur bald ein sicheres Anzeichen findet, zu welcher Stunde der Amtsrath nach Hause gekommen, und das muß sich finden, denn er wird nicht allein in der Nacht im Felde umhergelaufen sein. Und nun, Frau Rothe,“ fuhr er fort, ihr seine Hand reichend, „seien Sie ruhig und stark, halten Sie fest an dem Glauben, daß, was auch in letzter Nacht geschehen sein möge, er doch an dem Morde unschuldig ist. Was seine Freunde thun können – und Sie wissen, daß ich an dem Jungen hänge, als wäre es mein eigenes Kind – das wird geschehen, um bald Licht in die dunkele That zu bringen. Sobald aber der Advocat kommt, lassen Sie es mich wissen! – Wollen Sie dem Jungen und mir zu Liebe sich stark machen und sich nicht mehr mit allerhand Gespenstern abgeben?“ setzte er hinzu, ihr mild in die Augen sehend.

„Ich will, Doctor, ich will!“ erwiderte sie, seine Hand drückend, während die Thränen auf’s Neue über ihre welken Backen rollten, und der Arzt erhob sich, nach seinem Hute greifend.

Die nächsten Minuten hatten ihn wieder auf das Pferd gebracht, das ihn aus dem Hofe trug, aber kaum schien er darauf zu achten, wohin dieses seinen Weg nahm. Schlaff ruhten die Zügel in seiner Hand, seine Augen blickten ziellos, als horche er nur seinen Gedanken, in’s Weite, und um den welken Mund lag ein wehmütiger Zug. Wie die ferne, in Dämmerung versunkene Landschaft plötzlich noch einmal von einem Strahl der scheidenden Sonne erhellt und in rosiges Licht getaucht wird, so hatte die eben durchlebte Scene ein ganzes, abgethanes Jugendleben mit seinen gescheiterten Hoffnungen und längst überwundenen Schmerzen wieder in ihm wach gerufen. Alles aber glänzte eben nur in dem stillen Lichte des letzten Abendroths.

Da stand weit unten im Dorfe, unweit der Kirche, das Pfarrhaus, heute noch so, nur etwas grauer, wie vor fünfundzwanzig Jahren; dort hatte der junge Student der Medicin regelmäßig die Ferien bei seinen Eltern verbracht – aber wenn auch die Pietät gegen die alten Leute ihren Antheil an seinen regelmäßigen Besuchen in der Heimath haben mochte, so war es hauptsächlich doch ein anderer, glänzenderer Stern gewesen, welcher ihn oft hatte die lockendsten Einladungen reicher Commilitonen ausschlagen und den Aufenthalt in dem stillen Dorfe vorziehen lassen.

Drüben an der Anhöhe wohnte auf einer eigenen keinen Besitzung ein pensionirter Officier, sich nur mit der Pflege seines Gartens und der Erziehung einer Tochter beschäftigend, welche eben so frisch aufblühte, wie die schönste Rose in seinem Blumenflore. Sein Hauptumgang bestand nur aus zwei Familien des Ortes, der seines nächsten Nachbars, des Gutsbesitzers Rothe, welcher gleich ihm die Kriege mitgemacht, und der des Pfarrers. In beiden Familien waren Söhne von gleichem Alter, und im Dorfe wußte man genau, daß die beiden jungen Menschen sich mit gleichem Eifer um die Gunst der schönen Elisabeth bewarben. Während aber der praktische Sinn des alten Hauptmanns sich auf die Seite des reicheren Rothe neigte, hatte sich das Herz der Tochter längst dem jungen Pfarrerssohn ergeben und mit diesem die Schwüre ewiger Treue ausgetauscht. Wenn Maiwald sein Doctor-Examen bestanden, sollte seine Niederlassung in der Gegend, die längst eines Arztes bedurft, erfolgen, und dann die Einwilligung des Vaters zur ersehnten Verbindung erobert werden. Aber Mädchenherzen sind schwach. Der alte Rothe starb, seinem Sohne das schöne Besitzthum hinterlassend, und der Hauptmann, welcher im Interesse seiner Tochter zu handeln meinte, that diese zu einer Verwandten in der Stadt, um sie, während der Trauerzeit des jungen Gutsbesitzers, Maiwald’s Augen und ferneren Bewerbungen zu entziehen – dort mochte wohl im Sinne des Vaters auf sie eingewirkt worden sein, und während dem Studenten jede Gelegenheit selbst zu schriftlichem Verkehr mit ihr abgeschnitten war, hatte Rothe, welcher nie ohne seine zwei raschen Rappen vor dem leichten Wagen in der Stadt erschien, freies Spiel. Als Jener endlich nach länger als Jahresfrist mit dem Doctordiplom in der Tasche bei den alten Eltern eintraf, fand er seine Elisabeth in Rothe’s neu und prächtig eingerichtetem Hause als dessen Frau.

Es hatte nach dieser Zeit Niemand ein Wort der Klage von ihm gehört; eifrig hatte er sich der ihm in weitem Umkreise zufallenden Praxis hingegeben, und nur eine eigenthümliche Ruhe und Blässe bei den oft unvermeidlichen Begegnungen mit den Rothe’s hätten dem Kundigen seinen Seelenzustaud verrathen können. Als der Hauptmann gestorben und dessen kleines Besitzthum öffentlich zum Verkauf ausgeboten worden war, hatte ein unbekannter Bieter sich eingestellt und das Grundstück erstanden; als aber Elisabeth am selben Abend noch einmal den Boden desselben betreten, um Abschied von den Räumen ihrer Kindheit zu nehmen, hatte sie den Doctor als den neuen Eigenthümer angetroffen. Es war das erste Mal gewesen, daß sich Beide wieder allein gegenüber gestanden, und die junge Frau hatte im ersten Schrecken sich abkehren und davon eilen wollen; er aber hatte mit seiner sanften ruhigen Stimme gefragt: „Habe ich Ihnen denn etwas zu Leide gethan, Elisabeth? Gott mache Sie glücklich, das ist mein heißester Wunsch [388] – wir hatten uns Beide in einander getäuscht; warum sollen wir aber deshalb absichtlich und auffällig einander ausweichen?“ Sie indessen hatte wie ganz vernichtet durch seine Milde, die Hände vor das Gesicht geschlagen und so den Garten verlassen. Seit dieser Zeit hatte die wohl nirgends sichtlich und nur den Betheiligten fühlbar gewesene Spannung zwischen den beiden Familien sich gelegt; der Pfarrer hatte sich pensioniren lassen und war mit der alten Mutter zu dem Sohne gezogen; in dem Amtsnachfolger war eine unbetheiligte immer mehr ausgleichende Verbindung zwischen den jetzigen Nachbarn erwachsen, und als in einer Nacht Rothe den Doctor herausgepocht, damit dieser sein plötzlich erkranktes, einziges Söhnchen rette, als Maiwald bis zum Tagesgrauen nicht von dem Bette des Kindes gewichen war, hatte sich Seitens der jungen Eltern eine seltsam zarte Begegnungsweise gegen den Arzt, fast wie eine fortlaufende, stumme Abbitte, herausgebildet. Und so wäre das beiderseitige Verhältniß mit der Zeit vielleicht in eine alltägliche Bahn eingelaufen, wenn Maiwald nur daran gedacht hätte, sich selbst zu verheirathen. Auch nach dem Tode seiner Eltern lebte er mit Wirthschafterin und Knecht als einsamer Junggeselle auf seinem kleinen Besitzthum fort, ein überall willkommener und verehrter Gast, der unter einem nach und nach erwachenden glücklichen Humor alle weichen Stellen seines Innern zu bergen verstand; was aber sein Herz noch an besonderer Liebe barg, schien sich auf Elisabeths kleinen Sohn, welcher der einzige geblieben war, concentrirt zu haben, und Rothe ließ nie ein mißbilligendes Wort hören, wenn auch der Knabe oft Tage lang bei dem „Onkel am Berge“ sich aufhielt.

Das Alles war es, was jetzt nach zwanzig Jahren in der Seele des altgewordenen Arztes sich wieder belebt und ihm für eine kurze Zeit die Sorge um die Gegenwart fast aus der Seele gedrängt hatte.

Erst als plötzlich eine jammernde Stimme vor ihm laut wurde, riß er sich aus seinem Sinnen und fand sich seinem eigenen Häuschen gegenüber, wohin das Pferd ihn getragen; in der Thüröffnung aber stand die alte Wirthschafterin und empfing den Ankommenden mit gerungenen Händen. „Ach, Herr Doctor, Herr Doctor, wer hätte das jemals von dem Fritz denken sollen!“

„Denkt Sie es von ihm?“ fuhr der Alte in hörbarem Unmuthe auf.

„Ach, ich möchte ja nicht, aber der Herr Justitiar hat gesagt, wie der Flurschütze berichtet –“

„Daß der Flurschütz gerade so ein altes Weib ist, wie Sie.“ unterbrach Jener die Sprechende, sich aus dem Sattel schwingend, „und damit hat er Recht; sonst aber ist der Herr Justitiar gerade so wenig dabei gewesen, als das Verbrechen begangen wurde, als ich und Sie, und kann deshalb eben so wenig von jetzt noch völlig verborgenen Dingen wissen. Seinen Freunden aber redet man eher das Gute als das Schlechte nach,“ fuhr er fort, dem herbeieilenden Knechte den Zügel zuwerfend und sodann dicht an die Frau herantretend, „und wenn Sie etwas Besseres in der Sache thun will, als darüber zu jammern und zu klatschen, so strebe Sie danach, zu erfahren, wo der Amtsrath in letzter Nacht gewesen und wann er heimgegangen ist – es kann ja sonst Niemand im Dorfe hier oder drüben einen Schritt thun, ohne daß Ihre Gevatterinnen Buch und Rechnung darüber führen; jetzt könnte Sie damit das Leben eines unschuldigen Menschen retten, denn der Fritz ist unschuldig, das sage ich Ihnen!“

Er schritt an der sichtlich Verschüchterten vorüber nach dem Innern des Hauses, wo ihm plötzlich eine andere, aber halb kleinmüthige Stimme entgegenklang: „Herr Doctor, der Herr Justitiar möchte wünschen, daß Sie doch einmal nach der Frau Amtsräthin sähen, die ihm gar nicht gefiele –“

„Ah, Sie sind das, Flurschütze,“ war die barsche Entgegnung, „und so will ich Ihnen denn sagen, daß Sie mit Ihren unbefugten Reden gegen jedes alte Weib mir auch nicht gefallen, und wenn mir noch einmal etwas dergleichen in Dingen, die Sie nicht verstehen, zu Ohren kommt, so werde ich Sie dafür zu nehmen wissen. Im Uebrigen werde ich kommen, das mögen Sie melden!“

Er wollte mit finster zusammengezogenen Brauen an ihm vorüber nach seinem Zimmer schreiten, als die Haushälterin sich mit einem kurzen Husten wieder neben ihm bemerkbar machte. „Herr Doctor, wegen dessen, wo sich der Herr Amtsrath in der Nacht aufgehalten.“ begann sie halb zögernd, „so möchte ich nur sagen, daß das sicher nicht bei der Meier-Lotte – Sie wissen, mit der er es immer gehalten – gewesen ist; die hat jetzt einen Fleischer, der sie heirathen will –“

Dem Arzte schien ein derbes Wort über die negative Auskunft auf den Lippen zu schweben, aber von einem aufsteigenden Gedanken wieder zurückgedrängt zu werden. Das eine Wort „Fleischer“ hatte plötzlich die „Eigenthümlichkeit“ der von ihm untersuchten Todeswunde wieder vor seinen Geist gerufen und ihn an die Fleischermesser, wie sie von den Betreffenden bei ihren Geschäftsgängen über Land in einer starken Lederscheide geführt werden, erinnert. Schon im nächsten Augenblicke meinte er auch die völlige Unfruchtbarkeit des Gedankens erkannt zu haben. Was hätte einen Fleischer, selbst wenn er der Bräutigam von des Amtsraths früherer Liebsten war, zu einem Morde, der heimlich und unprovocirt geschehen, wie dies alle bis jetzt entdeckten Umstände andeuteten, treiben sollen, zumal nicht einmal eine Beraubung stattgefunden?“

„Schaffe Sie mir ein kräftiges Frühstück, da ich nicht weiß, ob ich heute noch einmal zum Essen kommen werde!“ sagte er, sich langsam nach seinem Zimmer wendend, „Jakob aber soll mir das Pferd in einer halben Stunde wieder bereit halten.

(Schluß folgt.)


Aus dem Norden.
Von Brehm.
VII. Ein Reisebild.[WS 1]

Ein thaufrischer Sommermorgen liegt über dem schönen Guldbrandsdalen,[2] und dahin geht die Fahrt durch das morgenfrische grüne Alpenthal. Zu beiden Seiten erheben sich schroff und steil die gewaltigen Berge; wild durcheinander gehäuft, oder über einander gebaut, liegt ein grauenvolles Gewirr von Felsblöcken und Steinen, welche die Höhe herabsandte an den beiden Rändern des Thales; aber silberglänzende Birken wuchern dazwischen hervor, und dunkle Föhren über ihnen scheinen sie zu schirmen vor den noch immer thätigen feindlichen Gewalten des Gebirges, welches schwarze Massen drohend über dem grünen Thale hängen läßt, – drohend auch über den einzelnen Höfen, die überall von dort aus in das Thal herunterschauen, wo der Mensch dem Gestein sein tägliches Brod abtrotzte mit dem Schweiße seiner Arbeit. Die grünen Rasendächer der holzbraunen Häuser wetteifern mit den saftigen Wiesen im Grunde, und heiter blicken die Wohnungen nieder, wie unbesorgt ob der furchtbaren Schwere der über ihnen hängenden Felsen, welche sie jeden Augenblick unter Trümmer begraben können. Allein trotz der freundlichen Gebäude würde das Thal dunkel erscheinen und die düsteren Farben vorherrschend werden, trügen die fröhlichen Kinder der Höhe nicht blendende Lichter auf. Auf allen Wänden liegen die silbernen Bänder der Gebirgsbäche, und rauschend und brausend, oder rieselnd und gleitend wandert das belebende Wasser seine tausend Wege zum Schmucke der Landschaft.

Es ist sommerlich kühl im Thale und die Wiesen dampfen noch, aber munteres Leben herrscht überall. Aus dem Walde tönen die Heerdenglocken; auf den Geröll- und Felswänden klettert das lustige Volk der Ziegen umher; im saftigen Grün zu beiden Seiten des Weges ruhen weidesatte Pferde. Schaaren von Elstern, die heiligen Vögel des Landes, begleiten das Gefährt lange Zeit und schwatzen mit dem Wasser um die Wette; mit Geschrei fliegt die Ringamsel von Stein zu Stein und warnt die ganze Vogelwelt vor dem Wanderer, worauf auch gleich ein ganzes Dutzend von Krammetsvögeln durch lautes Geknarr ihr zu erkennen giebt, daß man die Warnung verstanden; fröhliche Stahre durchsuchen im Geleit der Nebelkrähen Wiesen und Felder; Pieper umschaaren den Wagen, Goldammern und Bachstelzen weichen ihm vertrauend eben nur aus; das ewig regsame Volk der Meisen fliegt munter von

[389]

Scenerie in Guldbrandsdalen.

Baum zu Baum; im Wasser aber huscht die purpurgefleckte Forelle pfeilschnell über den steinigen Grund, wenn der Schatten des vorübereilenden Wagens sie schreckte.

An einem grünen See vorüber führt der Weg. Hundert gletschergrüne Wasseradern hat er in sich aufgenommen und trägt nun selbst das wunderbare Kleid derselben, jenes unbeschreiblich frische, klare Wellengrün des Hochgebirges, welches man selbst geschaut haben muß, um sich vorstellen und begreifen zu können, wie fest das Auge und das Herz davon gefesselt werden. Zwei Buben wiegen sich im leichten Kahne und werfen die Angel in die Tiefe, den köstlichen Oerret oder die Alpenforelle zu berücken; ihre feuerrothen Mützen heben sich grell ab von dem Grün der Wogen. Einzelne Landleute gehen vorüber, jeder hat einen Gruß, eine Frage an den „fremden Mann“, jeder einen Glückwunsch für seine fernere Reise.

Höher und höher steigt die Straße empor; endlich überschreitet sie den Gebirgskamm und gestattet eine freie Aussicht in ein neues Thal, schön wie das erste, aber großartiger und reicher. Seine Sohle ist breiter, und die schimmernde Otta, welche durch das Grün sich zieht, ist schon ein ziemlich bedeutender Fluß, obgleich er noch in aller Jugendlust und in seinem Jugendkeid dahinbraust. Die zahlreichen Wasserfäden, welche er rechts und links aufnimmt, trägt er jauchzend dem Laagen zu, mit welchem er sich wenige Meilen unterhalb vereinigt, zur weiteren Wanderung. Im Hintergrund schimmert der Vaagevand; der See, welcher auch für ihn sammelt und wohl hundert Bäche zu seinem Schooße ladet, um sie zu vereinen und jenem dann zu schenken. Ganz in der Ferne zeigen die Berge krystallne Kronen; es sind die Vorläufer des gewaltigen Galdhaaspiggen, welcher seine ewig beeisten Hörner höher hinaufstreckt in die Bläue, als irgend ein anderer Berg des Landes, ja der Norden von Europa. Die Thalwände erscheinen wie besät von Gehöften, und im Grund vereinigen sich die wohnlichen und behaglich aussehenden Gebäude fast zu einem Dorfe.

[390] Das eine große Gehöft ist die Wechselstelle für die Reisepferde, und darauf zu trabt vergnügt das kundige Rößlein. Zwischen reifenden Getreidefeldern und blühenden Hagen, zwischen Gärten und Häusern hindurch geht der Weg zum Stift. Ohne Verzug erhalte ich ein frisches Pferd, und dieses jagt mit mir nach dem nahen Wasser. Dort ist das Boot rasch bestellt und noch ein zweites, welches eine sanglustige Gesellschaft aufnimmt, wird gebracht, und mit gleichmäßigem Schlage treiben die Ruderer beide Fahrzeuge durch die grünen Wogen. Mehr und mehr erstirbt der Gesang aus dem andern Boote, welches sich weiter von dem meinen entfernt. Aber neuer Klang tönt von allen Bergen hernieder. Glatt und ruhig liegt der See vor mir, doch dröhnt und donnert es ohne Unterlaß; das Wasser, welches von den Bergen stürzt, rauscht und braust seine gewaltigen Weisen. Welch’ eine Landschaft! Grün und Schwarz und blendend Weiß sind die Farben des Bildes: grün sind die Wellen des Sees, grüner kaum die Wände des Thales; aber dunkel sind die Berge wie früher, und nur die Wildbäche ziehen ihre lichten Streifen. In der Ferne raucht es, als ob ein gewaltiges Feuer brenne; es ist der Wasserstaub über dem prächtigen Fall der Tesse, welche einen See verläßt, um sich in den andern zu stürzen. Eine Viertelmeile weit hört man den Donner der sich zu Gischt auflösenden Wassermassen. Jede neue Biegung des Sees rollt andere prächtige Bilder auf, aber jedes einzelne ist gleich großartig und gleich bezaubernd. Die Gehöfte am Ufer zeigen von dem behäbigen Wohlstand ihrer Bewohner. In dem größten Hofe dort wohnt der reiche Engländer, welchen die schönste Bewohnerin des Sees hier fesselte, welcher einem Bauermädchen zu Liebe norwegischer Bauer wurde.

Stetig und ruhig schwimmt das Boot weiter, der Wechselstelle Gardmoe zu, welche endlich in dem Grün der Birken sichtbar wird. Das ist ein echt norwegisches Haus! Alle Giebel und Gesimse sind mit Schnitzwerk geziert, und zwar mit Schnitzwerk, welches einem Bildhauer zur Ehre gereichen würde, so schmuckvoll und mannigfaltig sind die Arabesken. Die Schränke im Innern der großen Stube sind nur eine Schnitzerei. Einzelne Gebäude stehen, wie es hier Sitte ist, auf hölzernen Säulen, aber auch diese sind zierlich gearbeitet worden. Das Gehöft ist still und leer, denn fast alle Bewohner sind ringsum mit der Ernte beschäftigt. Doch jetzt ruft sie die in einem Vorbau wie in einer Siedelei hängende Glocke heim zur Erfrischung und Erquickung. Auch ich finde köstliche Milch und gutes Brod zum Mittagsmahl.

Gardmoe ist keine feste Wechselstelle, sondern nur eine Vermittlungsanstalt zwischen den Reisenden und den Bauern, welche verpflichtet sind Erstere weiter zu befördern. Der Mann, an welchem heute die Reihe ist, erscheint und befördert mich mittelst seiner entsetzlichen Stolkjärre in kurzer Zeit nach Lom.

Das hölzerne Gotteshaus dieses ausgedehnten Kirchspiels bezeigt durch seine dunkle Färbung, daß es schon vor Jahrhunderten erbaut wurde, und die merkwürdigen Drachenköpfe, welche alle Firstenenden des mehrfach abgesetzten und immer höher steigenden Daches krönen, scheinen an jene Zeit erinnern zu wollen, in welchem die nordländischen Könige in ihren Meerungeheuern die salzige Meeresfluth durchzogen, um den Ruhm ihrer Waffen weithin durch die Lande zu tragen. Rings um das Gebäude breitet sich der frischeste, grüne Wiesenteppich aus, und selbst an den Felsen weben die Birken lichtgrüne Blüthen und die Bäche lichte, silberne Bänder ein. Neben der Kirche liegt der Pfarrhof, ein stattliches und gar freundliches Holzgebäude.

Im nahen Stift klappert der Webstuhl, die Tochter des Bauers sendet mit gewandter Hand das emsige Schifflein durch die selbst gesponnenen und gefärbten Wollfäden, um das bunte Zeug zu bereiten, aus welchem sie für sich und die Ihrigen Kleider fertigen will. Ein neuer Wagen wird bestellt und rasch bespannt, und weiter geht die Fahrt der tobebden Bäbra entgegen. Immer höher werden die Felsen, immer steiler werden die Wände, immer enger wird das Thal. Die Felder schmelzen zu kleinen Beeten zusammen, welche hier und da zerstreut zwischen den Blöcken liegen und nur mit wenig Garben die schwere Arbeit lohnen können; die Gehöfte hängen wie Adlerhorste an den Steilungen. Eine wahrhaft großartige Gebirgswelt rollt sich vor dem trunkenen Auge auf und läßt dem Blick in Einem die Frische und den Reichthum der Tiefe und die schimmernde Anmuth und Kälte der Höhe erfassen. Die eisigen Gletscher hängen über den grünen Wiesen und fruchttragenden Feldern.

Ein Bewohner des Thales gesellt sich zu mir mit freundlichem Gruß und legt vertraulich die Hand an den langsam bergansteigenden Wagen, um allerlei Fragen an mich zu richten und zu erfahren, ob im großen Deutschland das Volk ebenso frei und glücklich sei, wie in seinem Norge; ob denn wirklich die Deutschen gegen Gesetz und Recht den Dänen ihr Land nehmen und den ganzen Norden überschwemmen wollten, wie er in den Zeitungen gelesen; ob es in meinem Vaterland auch so „häßliche“ Berge gäbe wie hier u. s. w. Erst nach langem Zwiegespräch wendet sich der freundliche und redselige Mann von mir und wandert seinem Hause zu, welches er mir vorher zeigte mit allem Stolz und aller Freude eines glücklichen Besitzers.

Immer einsamer wird das Thal, immer seltener werden die Gehöfte, mehr und mehr verdrängt die wilde Natur den Menschen. Plötzlich endet der Weg. In einer Gebirgsschlucht hat das Wasser ungeheure Massen von Blöcken und Steinen von der Höhe herab in das Bett der Bäbra getragen und dabei das ganze Thal verschüttet und in eine Wildniß verwandelt. Diesseits des Wildbachs stehen Hunderte von Karren und Wagen, der Besitz aller Landleute, welche im Sommer oder jahraus jahrein oberhalb dieser Orte im Thale wohnen, aber ihr Fuhrwerk erst von hier aus benutzen können. Dorthin wird auch mein Karjol gestellt, und das davor gespannte Pferd von nun an als Saumthier benutzt, denn die Wechselstelle Rödsheim liegt noch weiter oben im Thal, dort wo die wilde Bäbra sich mit der aus den Gletschern des Galdhaaspiggen geborenen Wiesendalelf vereinigt.

Der Besitzer von Rödsheim verspricht, selbst mit mir über die Gebirge zu reisen, und führt am andern Tage das starke Saumpferd vor, welches mein Gepäck und, wenn der Weg es erlaubt, auch mich über das Fjeld tragen soll. Wir nehmen Abschied von der freundlichen Hausfrau und ziehen weiter nach oben, der Bäbra entgegen. Anfangs führt der Weg noch an mehreren Gehöften vorüber, doch erhebt er sich bald mehr und mehr und läßt den Menschen und sein Treiben unter sich, dafür aber das Gebirg den Blicken erschließend. Die gewaltigen Massen, welche sich westlich von uns zusammenbauen, um den Riesen des Landes zum Fuß zu dienen, sind sämmtlich mit Gletschern bedeckt; das ewige Eis der Höhe breitet sich meilenweit vor dem Auge aus und zeigt sich überall, in der Nähe wie in der Ferne. Die Birken krüppeln und verkümmern, aber noch deckt die niedliche Zwergbirke mit dem Wachholder und der wie Abendroth schimmernden Haide die Bergflächen und Gehänge. Ein Volk Morastschneehühner läuft über den Weg und zeigt sich in seiner bunten Sommertracht, wenn auch nur auf Augenblicke dicht neben den einsamen Wanderern – ein gar seltenes Schauspiel! Sonst begegnet man nur noch dem überall gegenwärtigen munteren Steinschmätzer und hier und da einem Falken, alle übrigen Thiere meiden die Höhe.

Mild und heiter senkt sich der Abend nieder, und sein Schimmer spiegelt sich wieder auf den krystallenen Dächern der Berge; aus der Tiefe tönen noch leise die Heerdenglocken wie fernes Abendläuten herauf; dann wird es still und dunkel, und nur die Gletscher leuchten noch der geschiedenen Sonne nach, bis auch sie im grauen Nebel der Nacht verschwimmen. Der Weg führt wieder in die Tiefe herab, und das verständige Saumthier prüft jetzt vor jedem Schritte die Stelle, auf welcher es fußen will. Das Wasser allein ist noch lebendig und rauscht seine ewigen Weisen in die Stille der Nacht. Endlich zeigt uns ein schimmernder Lichtstrahl das Ziel der Wanderung. Zwei Sennhütten liegen am Ufer des Sees, sie sind ärmlich und unfreundlich, und von dem dicken Schmuze, welcher sie umgiebt ist ein guter Theil auch in ihr Inneres gekommen, aber sie sind die einzigen Wohnungen weit und breit und deshalb willkommen. Die Aufnahme läßt Vieles zu wünschen übrig, ja, die Besitzerin ist sogar recht unfreundlich; doch Keiner von uns kehrt sich daran. Wir richten uns ein, so gut es gehen will, bereiten uns selbst das einfache Abendbrod und suchen dann trotz alles Käsegeruchs im Raume auf unserm erbärmlichen Lager die Ruhe. Am andern Morgen belehrt uns die Unverschämtheit unserer Wirthin, daß Engländer auch hier schon die angestammte Gastfreundschaft durch ihr Gold zu verbannen wußten.

Wir steigen noch immer längs der Bäbra bergan. Die Landschaft wird öder und trauriger mit jedem Schritte. Die Pflanzenwelt scheint bis auf Moose und Flechten erstorben, nur hier und da zeigen sich einzelne verkümmerte Büsche in dem Morast, welcher sich überall bildete, wo das Wasser nicht raschen, freien Abzug fand. [391] Der Weg ist kaum noch ein Weg zu nennen, obgleich Steinhaufen und Holzpfähle an seiner Seite auf eine Straße deuten. Vor der letzten Höhe, dort, wo das gewaltige Eisfeld, welches um den Galdhaaspiggen liegt, in zwei Thälern zwei Gletscher zur Tiefe sendet, liegt ein kleines Haus zum Schutze der Reisenden; Pferde weiden in seiner Nähe, es werden auch Leute sichtbar, und Einer ladet uns zur kurzen Rast in die Hütte ein. Es sind Rennthierjäger, welche schon seit Tagen vergeblich das Hochgebirg durchkreuzt haben, ohne ihres scheuen Wildes habhaft geworden zu sein. Mich lockt es hier nach dem kaum fünfhundert Schritt vom Wege abliegenden Smörstabgletscher, dessen blaue Krystallgrotten gar zu wunderbare Gestalten, Formen, Zacken, Ecken und Spitzen zeigen. Mehr als hundert Fuß hoch liegt dort, wo das Wasser den Gletscher aushöhlte, das Eis übereinander und zeigt dem Auge alle jene märchenhafte Pracht der Farben und Formen, welche man kaum verstehen und noch viel weniger beschreiben kann.

Unser Pfad hat nun die Höhe des Gebirges erreicht. Eine ungeheure Oede umgiebt uns; das Auge sucht fast ängstlich nach etwas Lebendigem. Kalt und todt, nicht einmal in Farben lebendig, liegen die Eismassen auf den dunklen schwarzen Bergen, und dort, wohin sie ihre Ausläufer nicht senden konnten, starrt uns ein Wirrsal von Blöcken und Steinen entgegen. Nicht überall haben sich die gelblichen Rennthierflechten ausbreiten können, alle übrigen Pflanzen gedeihen nicht mehr hier oben. Todtenstill liegen die dunklen Seeen in ihren Schluchten, nur ein einziger prangt in seinem wunderbaren Grün. Selbst die Bäche rauschen und brausen hier nicht mehr fröhlich dahin, denn die Ebene des Fjeldes hemmt ihren Lauf. Die Einöde ist großartig, aber kalt, fast schauerlich, trotz der Gletscher und scharfgeschnittenen Felsenzacken und Hörner! Und dennoch ist das Leben hier noch nicht gänzlich erstorben! Inmitten des Eises der Höhe zeigt es sich in aller Frische und Anmuth. Munter tanzt der liebe Steinschmätzer von Stein zu Stein, vertraulich nähert sich das jetzt felsengrau gekleidete Alpenschneehuhn dem Wege, und dort über dem Fanerok zieht ein Steinadler seine Kreise und schwimmt stolz dahin

„Hoch über allem Erdenleben,
Hoch über allem Tod!“

Uns aber treibt es wieder der Tiefe zu, und wir eilen, so schnell wir und unser Lastthier gehen können, über die stille Ebene dahin. Abfließendes Wasser leitet uns dem Thale zu; aber noch ist der Weg lang und beschwerlich, noch befinden wir uns in der Höhe des Eises, gleichsam zwischen Gletschern eingezwängt; aber plötzlich öffnet sich ein wahres Zauberbild den Blicken. Zwischen den dunklen, schneegekrönten Bergen hat das ewig arbeitende Wasser ein Thal eingegraben, dessen Anfang mehr als dreitausend Fuß über demselben Meere liegt, welches mehr als seine Hälfte erfüllt, ein Thal, in welchem man binnen drei Stunden von den Glerschern zum Meere herabsteigen kann! Wohl zwanzig Seitenthäler und Schluchten münden in dieses Thal ein und durch alle eilen die Gesandten der Gletscher zu dem ewigen Meere hinab. Die Armuth der Höhe und die Fülle der Tiefe reichen sich in diesem Thale die Hand; von dem Tode zum Leben ist hier gleichsam nur ein einziger Schritt.

Und wieder braust und tönt das Wasser, welches in unzähligen Fällen zur Tiefe stürzt, klangvoll zu uns herauf; wieder läuten die Heerdenglocken den Abend ein, welcher zu allem Glanz da unten nun auch noch seinen Schimmer auf die eisigen Höhen legt; da steigen und klettern wir an den steilen Gehängen hernieder und wandern den Hütten zu, von denen uns Schalmeienkänge entgegen grüßen. Alle Beschwerden und Mühen werden vergessen; das reich beglückte Herz stählt die ermatteten Glieder, und tiefer und tiefer geht es hinab, zu den Sennhütten, zu den ersten Gehöften, zum Dorfe. Neben dem lebendigen Wasser hinab führt der Saumpfad, mit ihm durchwandert er alle Windungen des Thales. Freundliche, biedere Menschen wohnen in ihm; jedes Haus steht dem Fremden offen. Am andern Morgen folge ich dem Bächlein weiter und sehe es mit Lust zum Bache und Flusse anwachsen. Der führt mich durch die herrliche Landschaft meinem Ziele zu, und dieses liegt auch bald so hold und lieblich vor mir, daß ich – es nicht erkenne. Denn der Führer muß mir zwei und drei Mal sagen, daß jener stille, sonnenklare grüne Alpensee, den ich umwandern will, die Salzfluth, das Meer ist, bevor ich ihm Glauben schenken will! Ich stehe am Meere – und kenne das Meer nicht; – was brauche ich nach diesen Worten noch von dem Zauber zu sagen, in welchem der Lysterfjord meine Sinne verstrickt hatte! Ich überlasse es Jedem, sich ein solches Stück Meer selbst auszumalen.




Noch mehr „zu Deutschlands Größe auf dem Meere“.[3]

Ganz Deutschland kauft für etwa fünf Millionen Thaler Seeproducte vom Auslande und würde jedenfalls noch mehr dafür ausgeben, wenn der Bedarf, namentlich an frischen Seefischen, zur Nothwendigkeit und wohlfeiler, schneller, massenhafter befriedigt würde, so daß man während der kälteren Monate auch in Leipzig und Dresden und gleich weit oder weiter vom Meere entlegenen Städten frische Waare von der Nordsee und der Bank von Rockall und zu jeder Zeit wohlfeile Seeproducte zu kaufen im Stande wäre. Unternehmungen, die auf einen Absatz bis zu 5 Millionen und später bis zu 10–15 Millionen (nach dem Beispiel und der Erfahrung in andern Gebieten) rechnen können, lassen sich leicht berechnen. Wie viel Capital kann man hinein stecken, um besserer Verzinsung sicher zu sein, als in anderen Unternehmungen? Will man noch Patriotismus, Schule für deutsche Seetüchtigkeit, für eine Land und Leute, Handel und Wandel schützende deutsche Flotte mit einrechnen, desto besser. Wir müßten eine Seefischerei-Flotte von etwa zweihundert entsprechenden Schiffen haben, um unsern Bedarf aus dem Meere selbst zu befriedigen.

Wer soll diese bauen und das Geld dazu hergeben? Wie ist’s überhaupt anzufangen? Der Artikel in Nr. 11 der Gartenlaube hat im Königreich Sachsen, obgleich es vom Meere abgeschlossen ist, mehrere Männer angeregt, an praktische Ausführung zu denken und sich nähere Aufschlüsse über diese Angelegenheit zu erbitten.

Wir wollen versuchen, die betreffenden Thatsachen und einen bereits im Drucke erschienenen Plan in den Hauptzügen zu beleuchten. Der ehemalige Generalkonsul J. J. Sturz hat in seiner Broschüre: „Der Fischfang aus hoher See“ etc. die Frage: „Auf welche Weise kann dem Fischerei-Betrieb für Deutschland eine größere Ausdehnung gegeben werden?“ zu allererst mit Unsinn beantwortet. Er sagt nämlich: 1) durch Zollvereinsprämien. Diese seien nothwendig, „um den Egoismus des Einzelnen durch Aussicht auf Gewinn anzuregen“; Napoleon, England, Amerika hätten’s in Bezug auf Seefischerei ebenso gemacht. Amerika ist gleich ein blutiges Beispiel, wie diese Schutzzöllnerei, diese gewaltsame Beraubung Aller zu Gunsten Einzelner wirkt. Der abgefallene Süden der nordamerikanischen Freistaaten führt unter seinen Anklagen gegen den Norden die Seefischerei-Prämien als eine der hauptsächlichsten an.

Ja, kann es etwas Unsinnigeres, Erbitternderes geben, als ein ganzes Volk zu zwingen, Geld für Fische zu bezahlen, gleichviel, ob es hernach Fische kaufen will oder nicht? eine Industrie zu erziehen, die ihre Prämie nicht in sich selbst hat, die überhaupt nur einen künstlichen Verlust mehr erzeugt? Jetzt kosten uns die Seeproducte etwa 5 Millionen Thaler jährlich. Nun sollen wir ungeheuere Capitalien aus ihren jetzigen lohnenden Beschäftigungen in Unternehmungen verlocken, die sich nicht selbst bezahlt machen. Das ist tausendfach erwiesener, praktisch widerlegter Unsinn.

Herr Sturz will den Schaden, womit die deutschen Seefischereien arbeiten sollen, durch einen dreifach erhöhten Tabakszoll und Verdoppelung der Tabakssteuer decken. Er meint, kein Deutscher, der sein Vaterland liebe, könne dagegen Einwendungen machen. Die Tausende von Cigarrenmachern, Tabaksfabrikanten und Händlern und die Millionen Raucher sollen sich also für ihre Verluste durch Patriotismus entschädigen, während die Prämie, die sie zahlen, dazu dienen soll, „den Egoismus der Einzelnen durch Aussicht auf Gewinn anzuregen“.

Unsinn! Unsinn! Anreizung zum Verbrechen! Und wenn’s auch kein Unsinn, kein Aufruf zu einem Zollvereinsstaaten-Verbrechen

[392] wäre: wozu Prämien, da sich die Seefischerei bei einigermaßen richtiger und großgeschäftlicher Ausführung und praktischem Betriebe ganz von selbst lohnen muß? Als in England die Seefischerei-Ausfuhr mit Staatsprämien unterstützt ward, brachte man’s bis auf 180,000 Faß jährlich. Seit mehr als 30 Jahren hat diese Ausfuhrprämie aufgehört, und seit dieser Zeit ist die Ausfuhr von 180,000 auf 600,000 Faß jährlich gestiegen. Das führt Sturz selbst an, um die Vortrefflichkeit der Prämie zu beweisen.

Die andern von Sturz angeführten Mittel zur Ausdehnung des deutschen Seefischerei-Betriebes verstehen sich von selbst, da es das Geschäft aus eigener Nothwendigkeit so mit sich bringen wird. Er sagt: „Organisation eines planmäßigen Vertriebs von Seefischen nach dem Binnenlande“ sei das zweite Mittel. Nun ja, das ist’s, aber wohl nicht ein Mittel, sondern der Vertrieb, die Ausdehnung des Vertriebs, das Geschäft selbst. Dieser Vertrieb „muß“ organisirt werden. Er muß? Wer soll ihn zwingen? Die Polizei? Der Staat? Schafft nur Schiffe und Fischer, dann macht sich’s von selbst. Man denke sich mehrere Schiffsladungen frischer Seefische in Hamburg. Dort würden sie spottbillig, in Berlin aber theuer sein. Die Fische würden dann jedenfalls so schnell wie möglich nach Berlin kommen und hier viel Geld einbringen. Damit ist die Sache schon „organisirt“ und würde sich sehr schnell zu einem planmäßigen Vertriebe ausbilden. Dafür sorgen die Eisenbahnnetze, die Eisenbahn-Compagnien, die Leute, welche Fische verkaufen, und die Leute, welche Fische kaufen wollen, ganz von selbst. Jeder verfolgt sein Interesse, seinen Gewinn, und das giebt dann den „planmäßigen Vertrieb“, die „Organisation“.

Alles in Allem, das A und O der ganzen Sache ist: eine oder mehrere Gesellschaften, Associationen oder Compagnien zur Ausdehnung und Vergrößerung des Geldes, das sie haben, vermittelst der Ausdehnung und Vergrößerung unserer Seefischerei. Man muß Geist und Geld auf den Punkt richten, einsehen und zeigen, daß hier viel Geld zu machen ist, mehr Geld, als durch andere Unternehmungen, dann Geld dazu sammeln, zeichnen lassen und entsprechende Seeschiffe bauen. Es sind nicht gleich 200 nöthig. Man kann sehr klein mit zwei anfangen, dann je nach dem Erfolge fortfahren, dann werden’s auch mit der Zeit 200 und jedenfalls eher, als die Meisten jetzt zu hoffen wagen.

Jeder, der etwas Geld und Geist hat, kann sein Scherflein dazu beitragen und auf mehr Erfolg rechnen, als die Thaler, Groschen und Pfennige, die für die deutsche Flotte gesammelt wurden. Denn die beabsichtigte Seefischereiflotte bringt uns wohlfeile, frische Seefische, Geld und das Zeug und die Kraft zu einer Vertheidigungsflotte.

Um aber das willige Geld und den dafür erweckten Geist wirklich zu sammeln und zur Kraft der Ausführung zu vereinigen, muß zunächst Einer oder ein kleiner Verein von sachverständigen, begeisterten Männern, womöglich gleich mit einigen guten Bankier-, Kaufmanns- und Rhedernamen und einem bestimmten Plane und Programme auftreten und darlegen, wo und wie entsprechende Schiffe gebaut, bemannt und in Thätigkeit versetzt werden sollen, was sie nach den bisherigen Erfahrungen in England u. s. w. kosten und was sie durch ihre Ernten einbringen mögen.

Die nördlichen Häfen Deutschlands haben allein über 3000 Segelschiffe und beinahe 100 Dampfer mit mehr als einer Million Tonnengehalt und über 30,000 Mann und Matrosen, wozu noch über 10,000 Mann Deutsche, jetzt auf englischen, französischen, amerikanischen Schiffen, kommen würden, wenn man ihnen nur erst lohnende Arbeit auf deutschen Fahrzeugen böte. Aus diesem geübten und unzähligen Lehrlings-Material, das jetzt auf trockene, miserable Anstellungen auf trockenem Lande hungert, ließen sich die neuen Seefischerei-Boote leicht und gut bemannen.

Die Fahrzeuge müßten theils für Fang an den Küsten, theils für Rockall eingerichtet werden. Mit letzteren wäre wohl anzufangen. Die Actien-Gesellschaft oder Compagnie mit etwa 300,000 Thaler Capital, das natürlich nur nach und nach eingezahlt zu werden brauchte, Hauptsitz vielleicht in Hamburg, würde zunächst drei Schiffe à 40–50 Tonnen à fünf Mann und fünf Jungen am geeignetsten Platze bauen lassen und dazu drei größere Schiffe à 20–30 Mann zunächst pachten oder mit Theilzahlungen kaufen.

Damit wäre der Stamm, die Grundlage erworben. Die großen Fahrzeuge haben den planmäßigen Betrieb mit Arbeitstheilung zu übernehmen, die kleineren müßten als Proviantschiffe für Wasser, Salz, Lebensmittel, als Beförderer der frischen und gesalzenen Waare und der Abfälle dienen, damit die großen immer bei der Arbeit selbst bleiben können. Hauptsache wäre für den unmittelbarsten Gewinn die Landung und der Transport frischer Seefische. Auf dem Meere selbst lassen sie sich sehr gut erhalten, und von Hamburg aus könnten sie in geeigneter Verpackung höchstens binnen zwölf Stunden im tiefsten Innern Deutschlands abgeliefert werden. Daß dazu Abkommen mit den Eisenbahnen getroffen werden müssen, versteht sich ebenso von selbst, wie daß in den Hauptverzehrorten, namentlich in Berlin, wo der frische, nahrhafte, wohlschmeckende Seefisch noch einen theuern, seltenen Luxusartikel bildet, geeignete Verkaufs- und Conservirungshallen erbaut werden. Dafür giebt es in Billingsgate und bei den Fischhändlern in London, wie in der Halle „aux poissons“ zu Paris vorzügliche Muster. In der Halle selbst, wie bei den Einzelverkäufern, liegen die köstlichen Ungeheuer des Meeres frisch und appetitlich auf schrägen Marmorplatten, wo sie mit wohlfeilem Eiswasser und Eis (das auch bei uns durch Fabrikation im Großen spottbillig werden wird) so lange frisch, appetitlich und rein gehalten werden, bis sie in die verschiedenen Küchen wandern. Daneben häufen sich Hummern, Austern, Krebse, Shrimps und andere Delicatessen des Meeres, auch den beschränktesten Mitteln zugänglich.

Um den Einzelvertrieb rasch und leicht zu machen, schlägt Sturz sehr praktisch vor, die gleich nach Ankunft in großen Partien verauctionirten Fische für den Ort selbst in einspännige Wagen mit Draht-Etagen so zu packen, daß jede Fischart von außen sichtbar wäre. Die Wagen müßten dann mit besonderem Geklingel oder Ausruf sich in die verschiedenen Straßen vertheilen und so jedem Kauflustigen die Waare vor die Thüre fahren. Angehängte Preise könnten noch den Aufenthalt durch Handeln und Feilschen beseitigen. Für die Fälle großer Häufung der Zufuhr müßten Einrichtungen zum Backen und heißen Verkauf der Fische auf der Straße getroffen werden. Jeder könnte sich dann oft, wie in London, für 1 Sgr. ziemlich gut und schmackhaft satt essen, und Berlin würde manchmal in einem Tag mehr Seefische verschmausen, als jetzt das ganze Jahr hindurch.

Von dem Verkaufs-Mittelpunkte in Berlin müssen die weiter südlich und im Innern gelegenen Orte versorgt werden. Das geht in eisernen Kasten mit Eis sehr gut. Mit dem Telegraphen erfährt man die Ankunft und die Masse der Fische vorher. Mit dem Telegraphen kann man vorher in Leipzig, Dresden etc. anfragen, ob und wie viel dortige Händler abhaben wollen. Die Bestellung geht dann mit der Eisenbahn gleich weiter. Um durch zu große Ernten den frischen Fisch nicht zu entwerten, ist für Salzungs- und Räucherungsanstalten zu sorgen.

Doch wir wollen uns noch nicht vor dem Zuviel fürchten. Vorläufig haben wir in unsern Soldaten- und Commißbrod-Düften noch nicht einmal Fischgeruch.

Vorerst gilt’s an die Hauptsache zu gehen. Diese ist ein provisorischer Verein von sachverständigen und tüchtigen Männern, die sich’s etwas Zeit und Geld kosten lassen mögen, genau zu ermitteln, wie viel die Herstellung und der Betrieb der Seefischerei, besonders mit Bezug auf Rockall, kosten mag, wie die Ernten aus diesem Meere ausfallen, was sie an frischen Fischen, Oel, Thran etc. für Gewinn versprechen, und zu welcher Procenthöhe das angelegte Capital, mit einer Berechnung von wahrscheinlichen Verlusten, der Versicherung der Schiffe etc., sich verzinsen wird. Nach englischen Erfahrungen aus Rockall kann diese Berechnung nur sehr glänzend ausfallen und eine bessere Prämie durch sich selbst in Aussicht stellen, als die Unternehmung je durch Beraubung der Tabaksfabrikanten und Cigarrenmacher erhalten würde.

Ist aus allen vorhandenen Thatsachen ein guter Gewinn in Aussicht gestellt, so werden Egoismus und Patriotismus sich gern vereinigen, um einer zu diesem Zweck begründeten Gesellschaft (vielleicht mit Actien von 5 Thaler an, damit sich auch der Aermere betheiligen kann) das nötige Geld und die Thatkraft zum Handeln anzuvertrauen.

H. B.

[393]
Eine unheimliche Seefahrt.

„Wann werden wir in Bremen sein?“ fragte ich Mr. Wilson, den ersten Mate des Dampfers, als er eben aus dem Maschinenraume auftauchte, wo er mit dem Oberingenieur eine längere Zwiesprache gehalten hatte.

„Kann’s nicht sagen; wenigstens bei diesem Curse niemals!“ war die kurze Antwort Wilson’s, der rasch nach dem Steuerhause ging und einige hastige Worte an die beiden Leute am Ruder richtete, welche dieselben mit Kopfschütteln beantworteten.

Diese brüsken Worte Wilson’s setzten mich einigermaßen in Erstaunen, da derselbe sonst immer sehr zuvorkommend war. Es mußte etwas vorgefallen sein, was ihn beunruhigte, auch hatte ich schon bemerkt, daß seit zwei Tagen die Schiffsofficiere – der Capitain war fast gar nicht zu sehen – die Köpfe zusammensteckten und leise miteinander flüsterten. Da ich aber im Seewesen keinesweges ganz unbewandert war, indem ich schon öfter die Tour über den Ocean gemacht hatte, und keinen Grund zu irgend einer Besorgniß entdecken konnte, so hatte ich über dieses sonderbare Benehmen bis dahin weiter nicht nachgedacht.

Wir hatten New-York vor dreizehn Tagen verlassen und näherten uns nun nach einer nicht übermäßig rauhen Passage der Mündung des englischen Canals, auch hofften wir am nächsten Morgen Land zu sehen und vielleicht noch in der Nacht die beiden bekannten Leuchtfeuer von Cap Lizard. Der Aufenthalt, welcher den Segelschiffen so häufig dadurch entsteht, daß sie an dieser Stelle auf steife Ostwinde stoßen, die ihnen die Einfahrt verwehren, kann bei einem Dampfschif nicht stattfinden, und so hofften denn alle Passagiere, das Ziel ihrer Bestimmung bald zu erreichen. Wie es auf den transatlantischen Fahrten dieser Linie die Sitte war, den letzten Abend vor dem Erblicken des Landes durch ein splendides Souper zu feiern und den an Bord so schnell geschlossenen Freundschaften eine Abschiedslibation zu widmen, so hatte auch unser vortrefflicher Stewart in dem großen Salon der Staatskajüte ein Mahl aufgetragen, das einem Hotel erster Classe Ehre gemacht hätte. Selbst die Damen, welche während der ganzen Reise an Seekrankheit gelitten und sich nur selten auf Deck gezeigt hatten, erschienen in geschmackvoller Toilette, als die silberne Schelle der Aufwärter den Anfang des Festes anzeigte. Die Herren standen nach amerikanischer Sitte hinter den Plätzen, welche sie gewöhnlich einzunehmen pflegten, und warteten, bis das schöne Geschlecht sich gesetzt hatte, ungeduldige Blicke nach dem obern Ende der Tafel werfend, wo der Capitain zu präsidiren gewohnt ist, wenn ihn nicht Berufsgeschäfte abhalten.

Statt seiner erschien der Schiffsarzt, sonst ein jovialer junger Mann, mit befangener Miene, und ich las in seinen Zügen, daß ihm Etwas schwere Sorgen machte. Indessen verlief das Mahl ziemlich heiter, wie es bei solchen Gelegenheiten der Fall zu sein pflegt, und die gewöhnlichen Toaste wurden munter und witzig beantwortet. Gegen zehn Uhr endlich erschien der Capitain im Salon, warf einen zerstreuten Blick über die Anwesenden und sagte in höflichem Tone: „Ebbe und Fluth warten auf Niemand, und eine lustige Tafelgesellschaft braucht es auch nicht zu thun. Erlauben die Damen und Herren, daß ich auf ihre Gesundheit trinke.“ Er trank, aber wie trank er, obgleich sein echauffirtes Wesen und seine blutunterlaufenen Augen deutlich zeigten, daß er des Guten schon mehr als zu viel genossen hatte! Die Hast, mit welcher er dem Schiffsjungen, der zu seiner Bedienung bereit stand, sein immer leeres Glas zum Füllen hinhielt und mit welcher er den starken Punsch hinuntergoß, war unnatürlich und hatte etwas Krankhaftes. Meine Augen begegneten sich mit denen des Doctors, welcher endlich von seinem Sitze aufstand und dem Capitain etwas in das Ohr flüsterte, ehe er auf das Deck ging.

„Verdammt will ich sein,“ schrie dieser, „wenn der Pflasterkasten das Recht hat, mir vorzuschreiben, wie viel ich trinken soll! In die Hölle mit ihm! Wenn der Pillendreher sich noch einmal so etwas herausnimmt, so schicke ich ihn zu den Feuerleuten. Hollah, Dick,“ sich an den Schiffsjungen wendend, „eine neue Bowle von meinem Santa-Cruz-Rum, und recht stark! Verdammter Junge, soll ich Dir Beine machen? Sie da, Mr. Ladenschwengel, Sie können ja singen, wie eine virginische Nachtigall, geben Sie uns doch eins von Ihren Liedern zum Besten, aber ein recht lustiges. He?“

Der Angeredete, das Muster eines Dandys, der in dem Seidenpalaste Stewart’s auf dem Broadway Lyoner Shawls den Damen anzuprobiren gewohnt war und im Besitz einer erträglichen Stimme allabendlich, wenn es das Wetter erlaubte, auf dem Promenadedeck zu seiner Guitarre sang, fuhr bei diesen rauhen Worten auf, als wenn ihn eine Tarantel gebissen hätte, während die Ladies erschrocken Anstalten machten, den Tisch und den Salon zu verlassen.

„Capitain, wenn Sie mich aus solche Weise auffordern,“ sagte der junge Kaufmann, „werde ich sicher nicht singen. Uebrigens wird Ihr Betragen den Credit des Schiffes und dieser Linie nicht vermehren.“ Mit diesen Worten entfernte er sich nebst einigen andern Passagieren. Fast wäre ich seinem Beispiele gefolgt, aber die Spannung zu erfahren, wie sich das seltsame Betragen des Capitains noch weiter entwickeln würde, hielt mich nebst einigen Bekannten, welche wohl der gleiche Wunsch beseelte, an der Tafel zurück.

„Wenn der Ladenschwengel nicht singen will, so mag er sich zu Davy Jones (Teufel) scheren,“ rief der Capitain, „ich aber will Euch zeigen, was so ein echtes Seemannslied ist. Hört!“ Und er sang:

„Ich lag mit starrem Aug’, so träumt’ ich diese Nacht,
Auf einem morschen Wrack im tiefen Meeresschacht.“

Hier konnte er nicht weiter, denn die überreizte Natur wollte ihre Rechte haben, auch schien es mir, als wenn bei seinem verschlossenen Wesen ihn Etwas zurückhalte, den Rest der grauenvollen Verse herauszubringen. Seine stieren Augen nahmen dabei einen unheimlichen Ausdruck an, den man nicht ganz auf Rechnung der Trunkenheit bringen konnte, und jeder Rest von Heiterkeit, der noch bei den wenigen Gästen am Tische vorwaltete, verschwand. Es war daher Allen erwünscht, daß der Capitain sich von Dick nach seinem Stateroom geleiten ließ, und somit das so unangenehm gestörte Fest ein Ende nahm.

Um vor Schlafengehen noch einmal frische Luft zu schöpfen, stieg ich auf das Deck hinauf, wo noch ein großer Theil der Passagiere auf- und abwandelte und sich lebhaft über die Vorfälle bei dem Abendessen unterhielt. Der erste und zweite Officier standen hinten am Steuerhause, in lebhafter Unterhaltung mit dem Doctor begriffen, der, so weit ich es bei dem Helldunkel der Nacht unterscheiden konnte, lebhaft gesticulirte. Bald wandte sich dieser ab und kam auf mich zu, als ich auf die Brüstung gelehnt den Myriaden von Funken nachsah, welche die mächtigen Schaufeln des Dampfers den dunkeln Wellen entlockten.

„Wir werden eine rauhe Nacht haben, Herr,“ sagte er, „und wir müssen dicht an der Küste sein. Ich wollte, wir führen mit halber Schnelligkeit.“

„Ei, weshalb das?“ erwiderte ich, „wir haben Alle Eile, nach Southampton zu kommen. Wir sind schon dreizehn Tage aus, und ich denke, wir müssen morgen die Kreidefelsen von England sehen.“

„Das glaube ich auch,“ unterbrach mich der Schiffsarzt, „aber ich fürchte, am unrechten Orte. Wissen Sie, daß wir aus dem Course sind und zwar zu weit nördlich? Wir hätten schon seit gestern Ost zum Südost ansteuern müssen, um die beiden Leuchtthürme von Cap Lizard auszumachen. Doch der Capitain hat Wilson streng befohlen, den alten Curs zu halten, trotz aller Einwendungen. Sagen Sie, was hielten Sie von dem Betragen des Capitains heute Abend? war es nicht auffallend?“

„Auffallend im höchsten Grade,“ erwiderte ich, „aber ich denke, er hat seit ein paar Tagen des Guten zu viel genossen. Fast sollte ich meinen, er hätte einen Anfall von Säuferwahnsinn.“

„Das wohl; es ist aber nicht das Delirium tremens allein. Mit dem wollte ich schon fertig werden. Es ist eine viel tiefere Seelenstörung bei ihm vorhanden. Seit er von seiner Frau geschieden ist, hat sein Geist trübe Perioden. Das Schlimmste ist, er weiß es selbst, und in diesem quälenden Bewußtsein trinkt er die stärksten Getränke, um sich zu betäuben. Sie werden sehen, in seinem Wahnsinn ist Methode. Ihnen und einigen verständigeren Passagieren mache ich diese traurige Mittheilung, damit Sie im Fall der Noth mit bei der Hand sind und auch Zeugniß ablegen können.“

Der zweite Mate, ein Deutscher von Geburt und ein äußerst entschlossener Mann, trat jetzt hinzu und sagte dem Doctor, der Capitain schlafe jetzt, und deshalb habe er im Einverständnis mit [394] Wilson die Ingenieure unten beauftragt, nur mit halber Schnelligkeit zu fahren.“

„Wir fahren jetzt,“ sagte Dammann, denn so hieß der zweite Officier, „zwölf Meilen die Stunde, und wenn wir die Nacht so fortmachen, so sitzen wir morgen früh, ehe es hell wird, irgendwo bei den Scilly-Inseln auf dem Felsen. Mäßigen wir die Schnelligkeit auf sechs, so können wir nach meiner Rechnung immer noch ein Dutzend Meilen westlich von Bishops-Rock sein, und wenn dann der Alte“ – er meinte den Capitain „keine Vernunft annimmt, so können wir je nach den Umständen handeln. Sie, Doctor, müssen das Beste dabei thun, denn Sie tragen die Hauptverantwortlichkeit, wenn wir gezwungen sein sollten, den Alten festzunehmen.“

„Jedenfalls,“ antwortete der Schiffsarzt, „halte ich es für besser, einem Unzurechnungsfähigen das Commando abzunehmen, als Schiff und Passagiere dem sichern Untergange auszusetzen. Wir Alle wissen, wie strenge die Gesetze der Disciplin an Bord sind, und welche Strafe auf Meuterei steht, doch sind wir hier im Ausnahmezustande.“

Es schlossen sich hier dem Gespräche noch mehrere Passagiere an, welche von Wilson über den Zustand des Capitains unterrichtet waren, und wir Alle beschlossen erwartungsvoll die Nacht über aufzubleiben. Die Officiere bestimmten den vom Capitain vorgeschriebenen Curs so lange einzuhalten, bis sich directe Gefahr zeige, was, da die Maschine jetzt nur mit halber Kraft arbeitete und eine rauhe See gegen uns stand, vor Anbruch des Tages wohl nicht zu erwarten war. Es wurde auch, um keinen unnützen Lärm zu machen und namentlich um die Damen und Kinder an Bord nicht zu erschrecken, welche vielleicht durch ihr Geschrei den Capitain hätten erwecken können, unter uns ausgemacht, den Rest der Passagiere ruhig schlafen zu lassen. So verging ein Theil der stürmischen Nacht, ohne daß weiter etwas Besonderes vorfiel, außer daß die Wache vorn zu besonderer Aufmerksamkeit aufgefordert wurde, da wir in der Nachbarschaft des Landes waren. Wir steuerten nämlich noch immer direct östlich, unmittelbar auf die Scilly-Inseln zu, in deren bedenklicher Nähe wir uns befinden mußten. Wer jene Gegenden des atlantischen Oceans kennt, wird wissen, daß jedes Schiff gern einen weiten Umweg macht, da dieser kleine Archipelagus voll der gefährlichsten Untiefen und Klippen ist.

Von weitem gesehen, gleichen diese öden, nur von einem halbwilden Fischervölkchen bewohnten Inseln den Rücken riesiger Schildkröten, so gänzlich entbehren diese flachkuppigen Felsen aller Vegetation, da die convergirenden Stürme des Oceans und der irischen See keinen Pflanzenwuchs aufkommen lassen. Für einen menschenfeindlichen Einsiedler kann man sich keinen bessern Platz wünschen, und wenn ein Maler die letzten Schrecken der Sündfluth darstellen wollte, wie die tosenden Wogen die granitnen Spitzen der höchsten Berge zu überschwemmen drohen, die äußerste Zuflucht des Menschengeschlechtes, so könnte er hier die passendsten Studien machen. Am weitesten nach Westen vorgeschoben, der äußerste Vorposten Englands, liegt ein schwarzer Schieferfelsen, der Bishops-Rock, von dem die Sage geht, daß St. Patrick, der Apostel Irlands, sich dort in der Einsamkeit, von dem scharfen Geschrei der Möven unbeirrt, zu seinem heiligen Berufe vorbereitet habe. Hier hat die englische Regierung in ihrer bekannten Vorsorge für die Seefahrer einen Leuchtthurm gebaut, dessen weitscheinendes Drehlicht die vom Westen kommenden Schiffe in finstrer Nacht vor dem Verderben schützen soll, das in diesem Labyrinth voll Klippen auf den Unvorsichtigen oder den von Sturm gepeitschten Seemann lauert.

Während ich an die Thür des Maschinenraums gelehnt den feurigen Schein beobachtete, welcher aus dem mächtigen Schlote des Dampfers in der Finsterniß aufsteigend die schlanken Masten und Spieren erhellte, schlich eine Gestalt geräuschlos auf mich zu. Ich erkannte Dammann, den zweiten Officier. „Kommen Sie,“ sagte er, „hier in meine Koje. Ich will Ihnen etwas zeigen.“ Dort sah ich bei dem schwachen Scheine der Laterne, welche bei dem starken Stampfen und Schlingern des Schiffes hin und her schwankte, einen Revolver in seinen Händen. „Sie wollen doch nicht? Um Gottes Willen, was soll das bedeuten?“ war meine hastige Anrede.

„Seien Sie ruhig,“ erwiderte er. „Sie verstehen nicht, was ich damit will. Dieser Revolver gehört dem Capitain, und ich schlich, um ihn ja nicht aus dem Schlafe zu erwecken, in Strümpfen vor sein Bett, um mich der Waffe zu bemächtigen. Sie wissen nicht, welche übertriebene Ideen er von Subordination hat, und es steht zu fürchten, daß er, wenn es zu dem Aeußersten komm’, auf uns schießen wird, um Gehorsam zu erzwingen. Es handelt sich nun darum, den Revolver unschädlich zu machen. Sie sehen“ – dabei zeigte er mir die sechs Mündungen der Waffe – „er ist scharf geladen, und die Zündhütchen sind erst frisch aufgesetzt. Ich will ihn aber so zurichten, daß der Capitain keinen Schaden damit anrichten kann und daß er nichts davon merkt. Sollte er also auf den Doctor, Wilson oder mich abdrücken, so brauchen Sie keine Sorge zu haben; jedenfalls müssen Sie dann aber bezeugen, daß er den Versuch der Tödtung machte. Auch werden Sie gut thun, die eingeweihten Passagiere von der Unschädlichkeit der Waffe zu unterrichten.“

Nach diesen Worten zog Dammann sorgfältig die sechs Kugeln aus den Läufen und schüttelte das Pulver vorsichtig bis auf das letzte Korn aus. Dann rammte er jene wieder an ihren alten Platz, so daß Niemand bemerken konnte, was mit der Waffe vorgegangen war. Hierauf schlich er sich leise die Treppe nach der Kajüte hinunter, um den Revolver wieder über des Capitains Kopfe aufzuhängen, und erschien einige Minuten später wieder mit der Nachricht, daß Alles in Ordnung sei.

Es war ungefähr fünf Uhr Morgens, kurz vor dem Grauen des Tages, als die Wache vorn ausrief: „Licht in Sicht! gerade vor uns!“

„Das muß Bishops Rock sein!“ rief der erste Officier, indem er nach der Back eilte, „es verschwindet schon; in ein paar Minuten werden wir es wieder sehen.“

Wirklich erschien das Licht bald wieder, ein Beweis, daß der Leuchtthurm, den wir vor uns hatten, ein Drehfeuer enthielt. Aus dem Umstande, daß der glühende Schein ziemlich hoch über dem Horizont stand, ging hervor, daß der Dampfer jener gefährlichen Reihe von Riffen, welche die Scilly-Inseln im Westen wie ein Bollwerk gegen den Andrang des Oceans schützen, schon ziemlich nahe gekommen sein mußte. Aus diesem Grunde rief Wilson durch das Sprachrohr in den Maschinenraum hinunter: „slow!“ (langsam), während Dammann zu den Leuten am Steuer eilte und ihnen befahl, das Schiff nach Südost zum Süden herumzulegen. Der mächtige Dampfer schwenkte nun langsam nach rechts um, und die starke See, welche früher gegen uns stand, drückte denselben fast auf die Seite. Die veränderte Bewegung mußte nothwendiger Weise den Capitain wecken, und so war es auch. Schon unten in seinem Bett mochte er an dem Compaß, der über seinem Kopfe hing, gesehen haben, daß wir einen andern Curs, als den vorgeschriebenen, steuerten, denn schon auf der Treppe, ehe er nur das Deck betrat, brach er in die heftigen Worte aus: „Gott verdamme mich! Wer hat die Wache? Ist der Kerl nicht recht bei Sinnen, den Curs abzuändern!“ Wilson trat vor und machte die Meldung, daß das Feuer von Bishops Rock in Sicht sei, deshalb habe er nach Süden umlegen lassen. „Ach was,“ schrie der Capitain, „Sie haben nichts zu thun, als meine Befehle aufzuführen, und die Leute da unten in dem Maschinenraume soll der Teufel holen, wenn sie nicht gleich ordentlich auffeuern. Mit voller Dampfkraft!“ rief er mit donnernder Stimme dem diensthabenden Ingenieur hinunter, eilte dann nach dem Ruder und befahl dem alten erfahrenen Matrosen am Steuer, den alten Curs wieder einzuhalten. Während dieser Auftritte war es allmählich Tag geworden, und das Licht auf dem Leuchtthurm erlosch nach und nach bei der zunehmenden Helle. Der erste und zweite Officier standen vorn an dem Bollwerk der Back in eifrigem Gespräch mit dem Doctor, von Zeit zu Zeit mit dem Fernrohr nach vorn auslugend, da sie von der drohenden Nähe des Landes überzeugt waren. Wir Passagiere, welche die rauhe Nacht mit so unangenehmen Eindrücken durchwacht hatten, befanden uns auf dem Promenadedeck, wo der Capitain mit seinem Sprachrohr unter dem Arme auf und ab schritt, heftige Worte in sich hinein murmelnd. Ich beobachtete ihn genau und konnte außer einem krankhaften Zucken der Lippen und einem rastlosen Zwinkern mit den Augenlidern nichts an ihm entdecken, was einer Geistesstörung ähnlich sah, und diese Symptome konnte man ja auf Rechnung seiner gestrigen Trunkenheit setzen. Doch war sein Benehmen offenbar das eines Unsinnigen, indem er bei dem nebligen Wetter, wo man fast keine Meile vor sich sehen konnte, den Dampfer mit voller Schnelligkeit, zwölf Meilen die Stunde, fahren ließ und das noch dazu in einer Richtung, welche uns nothwendiger Weise in kurzer Zeit zwischen die gefährlichsten [395] Riffe bringen mußte. Jetzt nahte sich Dammann dem Capitain und machte die Bemerkung, ob es nicht besser sei, die Schnelligkeit des Dampfers auf drei Meilen zu reduciren oder ganz beizulegen, bis sich der Nebel vor uns verzogen habe.

„Verdammt will ich sein, wenn ich das thue; scheren Sie sich an Ihre Arbeit!“ war die brüske Antwort.

Einige Minuten später erschien Wilson mit demselben Vorschlage und wurde ebenso barsch abgefertigt. Beide Männer gingen nun nach vorn und conferirten wieder mit dem Doctor, der von seinem Standpunkte aus den letzten Vorschlag zur Güte machen sollte.

„Capitain,“ sagte er, „Sie sind nicht wohl und sollten lieber wieder nach unten gehen und sich zu Bett legen; die scharfe Morgenluft bekommt Ihnen nicht.“

„Was? Ich nicht wohl?“ sagte der Angeredete, indem er dem ruhig forschenden Blick des Arztes auszuweichen suchte, „ich glaube, Sie sind selbst nicht recht bei Sinnen. Niemals in meinem Leben befand ich mich besser. Machen Sie, daß Sie fortkommen!“

„Und ich sage Ihnen,“ sagte der Doctor mit Festigkeit, einen besorgten Blick nach vorn werfend, wo sich die Nebelbank zu verziehen im Begriff war, „Sie sind nicht in einem Zustande, das Commando über dieses Schiff noch länger zu führen. Wissen Sie, daß Sie durch Ihre Tollheit das Leben von dreihundert Menschen auf das Spiel setzen? Wissen Sie ...“

Hier wurde der Arzt durch das Geschrei der Wache auf der Back und des Mannes oben in den Wanten des Fockmastes unterbrochen, die fast gleichzeitig ausriefen: „Brandung vor uns! Brandung im Luv!“ Alles lief durcheinander, und die Verwirrung, welche durch die im Nachtanzuge auf das Deck stürzenden Passagiere noch vermehrt wurde, drohte einen Augenblick verderblich zu werden, doch die Geistesgegenwart der Officiere ließ nichts zu wünschen übrig. Wilson sprang nach der Maschinentreppe und rief mit donnernder Stimme hinunter. „stop!“ und im nächsten Augenblicke – der Ingenieur hatte offenbar auf diesen Befehl gewartet – entflogen dicke Wolken weißen Dampfes aus der Ventilröhre, während das Schiff noch einige Augenblicke vorwärts schoß und dann im Trog der See heftig zu rollen begann. Dammann war unterdessen in das Steuerhaus geeilt und hatte sich des Ruders bemächtigt, den Moment erwartend, wann die Maschine wieder arbeiten würde. Unsere Lage war in der That höchst gefährlich. Der Leuchtthurm auf seinem von den hohen Wellen gepeitschten Felsen lag keine dreihundert Schritt entfernt vor uns, und wir konnten deutlich sehen, wie die Leute oben auf der Gallerie eilig hin und her stürzten. Zu beiden Seiten der schwarzen Klippe lief eine sichelförmige Reihe von dunklen Riffen aus, über welche sich die rauhe See mit großer Gewalt brach, so daß wir gewissermaßen in einem Halbkreise von Verderben steckten. Als Wilson nun den Befehl gab, die Maschine rückwärts arbeiten zu lassen, donnerte der Capitain, der in dem ersten Augenblicke der Verwirrung ganz unbeachtet geblieben war, dem unten beschäftigten Ingenieur durch sein Sprachrohr zu, nicht zu gehorchen, sondern im Gegentheil mit aller Gewalt vorwärts zu fahren.

„Ich werde thun, was meine Pflicht ist,“ ertönte als Antwort, und der Dampfer bewegte sich langsam zurück. Jetzt stürzte der Wüthende nach dem Steuerhause, um Hand an Dammann zu legen, hier fand er aber die Thür verriegelt.

„Dick, meinen Revolver!“ rief er nun, „ich will Euch zeigen, wie man Meuterei bestraft. Alle Hände auf Deck!“

Die Feuerleute und Matrosen, welche nicht im Dienst und nicht auf Wache gewesen waren und daher von dem bis dahin Vorgefallenen nichts wissen konnten, eilten nun aus ihren Kojen herauf und machten, da sie an blinde Subordination gewöhnt waren, Miene, dem tobenden Capitain beizustehen; indessen, da sie sofort die gefährliche Lage des Schiffes erkannten, und außerdem Wilson und Dammann in hoher Achtung bei ihnen standen, besannen sie sich bald eines Besseren und nahmen eine ziemlich neutrale Haltung an. Wie der Doctor gesagt hatte, daß Methode in des Capitains Wahnsinn sei, so verhielt es sich auch, denn als Dick mit der verlangten Waffe ankam, entriß er ihm diese zwar schnell, doch unterwarf er dieselbe, ehe er sich zum Feuern anschickte, einer eiligen, aber scharfen Inspektion. Als er sich überzeugt hatte, daß Kugeln und Percussionshütchen am richtigen Platze waren, machte er Anstalt, in den Maschinenraum zu steigen, fand aber die Thür barricadirt. Außer sich vor Wuth lief er dann nach dem Steuerhause, wo Dammann am Rade stehend den Augenblick erwartete, den Dampfer nach Süden umlenken zu können.

„Ich frage Sie nun, Mate, wollen Sie das Ruder abgeben und herauskommen oder nicht?“ rief der Capitain mit heiserer Stimme, den Hahn des Revolvers spannend.

Dammann lächelte still in sich hinein, antwortete aber nicht und verfolgte mit seinen Augen die immer mehr in der Ferne schwindenden Umrisse des Riffes. Mit den Zähnen knirschend orderte der Rasende nun die umstehenden Matrosen auf, sich des Mates zu bemächtigen und denselben in Eisen zu legen; Niemand aber rührte sich, da die Kunde von des Capitains Geisteskrankheit sich mit Blitzesschnelle auf dem ganzen Schiff verbreitet hatte, selbst Dick, der treue Dick, welcher aus Dankbarkeit wie ein Hund an seinem Herrn hing, wußte nur die Hände zu ringen. Jetzt näherte sich Wilson mit dem Doctor, um der traurigen Scene ein Ende zu bereiten, und als Letzterer Miene machte, den Tobenden durch sanfte Worte zu beruhigen, drückte dieser seine Waffe auf ihn ab. Der Schuß versagte begreiflicher Weise, ebenso die andern fünf Läufe, die in rascher Folge an die Reihe kamen, und dem bestürzten Wahnsinnigen blieb weiter nichts übrig, als seinem vermeintlichen Feinde den Revolver in das Gesicht zu schleudern. Man warf sich nun von allen Seiten auf den Capitain und band ihn trotz seines Tobens und Widerstrebens an Händen und Füßen, so daß es möglich wurde, ihn ohne weitern Aufwand von Gewalt auf sein Bett zu schaffen, wo der Doctor zwei handfeste und verständige Leute als Wache bei ihm ließ. Dann wurde unter dem Vorsitz von Wilson, während der Dampfer unter Dammann’s kundiger Leitung in sicheres Fahrwasser gebracht wurde, ein Protokoll aufgenommen, welches den ganzen Vorgang constatirte und von sämmtlichen Schiffsofficieren und den Passagieren erster Classe unterzeichnet wurde. Einige Stunden später steuerten wir wieder den richtigen Curs und Nachmittags hatten wir schon die Freude, die beiden bekannten Leuchtthürme von Cap Lizard, welche von ihrer felsigen Höhe die nach Europa Zurückkehrenden so freundlich grüßen, zu erblicken, für uns ein doppelt angenehmer Anblick, da wir soeben einer schrecklichen Katastrophe entronnen waren. –

Andern Tages waren wir in Cowes, auf der Insel Wight, wo die Post abgegeben wird, und die Passagiere für Southampton und Havre aussteigen. Wie das bei solchen Fällen Gebrauch ist, zogen wir die Notflagge auf, und der dortige amerikanische Consul kam dann auf dieses Zeichen mit einigen Beamten an Bord, um über den traurigen Vorfall eine Untersuchung anzustellen, zu der denn auch einige Aerzte vom Lande als Fachkundige gezogen wurden, welche dann auch das Urtheil des Doctors vollständig endossiren konnten, weil der Zustand des Capitains wahrscheinlich in Folge des letzten Auftritts in vollständige Raserei übergegangen war. Daß der Consul hierbei mit der größten Gründlichkeit zu Werke ging, war ihm nicht zu verdenken, da kein Verbrechen auf der See strenger bestraft wird, als Meuterei. Ein Schiff mit seiner Mannschaft bildet gewissermaßen einen kleinen monarchischen Staat, dessen absoluter Herrscher der Capitain ist, welcher dafür aber auch alle Verantwortlichkeit tragen muß. Es müssen daher auch sehr gewichtige Gründe vorliegen, um diesem den Gehorsam aufzusagen und dessen Person unschädlich zu machen. Wenn aber ein solcher durch geistige Unzurechnungsfähigkeit oder durch boshafte Tollwuth planmäßig das Schiff und die Existenz Aller an Bord dem Verderben weihen will, dann hat auch die Mannschaft das formelle und moralische Recht, sich zu empören und den Capitain des Commandos zu entsetzen. Nach diesen unbestreitbaren Grundsätzen, welche auch in jedem vernünftigen Staatsrecht zu finden sind, urtheilte auch der Consul, indem er das Benehmen der Schiffsofficiere, die fast den letzten entscheidenden Moment abwarteten, ehe sie Gewalt anwandten, unbedingt rechtfertigte und Wilson als erstem Mate den Befehl übertrug. Der Capitain wurde in ein Privatirrenhaus bei Southampton gebracht, wo er so lange bleiben sollte, bis seine Verwandten in Amerika nähere Bestimmungen über ihn treffen würden. Dick, der treue Diener, blieb zu seiner Pflege zurück, und der stolze Dampfer, der eben noch einem fast sicheren Verderben entronnen war, setzte, majestätisch die Wellen durchpflügend, seine Reise nach der grünen Nordsee fort, wo ihn kundige Lootsen vor der blonden Weser erwarteten.



[396]
Die Beguinen in den Niederlanden.
Von Ludwig Storch.

Einer der wichtigsten Knotenpunkte in der Entwicklungsgeschichte des europäischen Menschheitslebens ist die hundertundfünfzigjährige Periode vom Anfange des 12. bis zu der Mitte des 13. Jahrhunderts. Ein ungemein lebendiges Drängen und Kämpfen entbrennt in den Gemüthern gegen und für die Strenge des christlich-kirchlichen Lehrbegriffs und wiederum der beiden Hauptparteien, jede für sich und auf ihre Art, gegen den sittlichen und religiösen Verfall der Gesellschaft, insbesondere der Geistlichkeit. Mit dem furchtbar blutigen Kampfe der Kirche gegen die auf die einfache Apostellehre zurückgehenden Albigenser und Waldenser ging die Bildung neuer geistlicher Ordensverbrüderungen, besonders die der Bettelmönche, Hand in Hand, um dem neuerwachten religiösen Bewußtsein innerhalb der Kirche selbst neue entsprechende Bahnen zu ebnen. Die bloße Asketik des Klosterlebens genügte nicht mehr; sie mußte mit dem praktisch thätigen Eingreifen in die Lebensentwicklung verschmolzen werden.

Aus dieser reich bewegten Zeit ging auch der erste weltliche Verein frommer Frauen zu sittlich religiösen und praktischen Zwecken hervor, ganz besonders zu dem Zwecke, um die sittlich verkommene gesellschaftliche Stellung der Frauen der mittlern Stände wieder auszubessern und zwar nicht durch strenge Abgeschlossenheit von der Welt, sondern besonders durch Uebung der Krankenpflege, Beschützung Verlassener, Rettung Gefallener und Erziehung Unmündiger. Diese Frauen führten den Namen der Beguinen oder Beghinen und führen ihn heute noch von ihrem Stifter Lambert le Begues (der Stammler), einem Priester zu Lüttich. Sie bilden eine nicht unbedeutende Sprosse in der Stufenleiter der sittlich-socialen Entwickelung der letzten Jahrhunderte des Mittelalters und sind deshalb einer nähern Betrachtung würdig.

Das sittlich-kirchliche Leben war damals arg in Schmach und Schande versunken, die Geistlichkeit wälzte sich im Schlamme niedriger Lüste. Die Gesittetsten waren noch die, welche sich über das Gebot des Cölibats hinwegsetzten und sich förmlich verheiratheten. In Lüttich war zu Ende des zwölften Jahrhunderts Unzucht und Schlemmerei bei der Geistlichkeit ungewöhnlich stark im Schwunge. Der Fürstbischof von Lüttich, Raoul (Radulphus), ein Lothringer, ging Allen mit dem schlechtesten Beispiele voran und übte den verderblichsten Einfluß auf die Sitten der ihm untergeordneten Geistlichkeit und der Bevölkerung des Landes. Schon früher wegen der schamlosesten Simonie als Erzbischof von Mainz vertrieben, steigerte er die Verhöhnung religiöser Zucht und Ordnung bis zu dem Wahnwitz, daß er die geistlichen Stellen durch seinen Scharfrichter Udelinus auf dem Markt Lüttichs öffentlich versteigern ließ. Aus diesem einen Zug läßt sich auf das wüste Zerrbild der ganzen Gesellschaft schließen und abnehmen, zu welcher schmutzigen Verworfenheit das Weib, die Hüterin der Sitte und die Vorsteherin eines keuschen geregelten Lebens, herabgedrückt sein mußte.

An einen gesetzlich gegliederten Verband der Kirche war nicht zu denken, nur die schlechten Auswüchse der Klerisei ordneten sich dem verbrecherischen Oberhaupte unter. Die bessern Priester entzogen sich der Oberherrschaft des Bischofs und wanderten amtlos im Lande umher zur Verrichtung der Sacramente. Es konnte nicht fehlen und ist der bessern Menschennatur, die durch ihren Gegensatz stets gestählt wird, angemessen, daß es darunter Männer gab, denen es mit wahrer Religiosität und einer derselben angemessenen Lebenseinrichtung ein Ernst war und die ihrer Entrüstung über die Liederlichkeit der höhern Geistlichkeit muthige Worte gaben.

Unter diesen Ehrenmännern zeichnete sich Lambert le Begues durch Frömmigkeit, Sittenstrenge und freimüthigen gegen das Verderbniß der Obern gerichteten Eifer aus. Daß der Mann geistigen Scharfblick besaß, beweist der Weg, den er einschlug, um die im Lasterpfuhl versunkene Menschheit auf die reinliche Höhe eines gesitteten Lebens zu retten, beweisen die rechten und zweckmäßigen Mittel, die er anwendete, um sein schönes Ziel zu erreichen. Er hatte begriffen, daß, wer die sittlich verdorbene Gesellschaft bessern will, bei den Frauen anfangen muß. Sein nicht unbeträchtliches Vermögen wandte er zu einer eigenthümlichen Stiftung auf, um unverheirathete Frauen zu einem gottgefälligen Leben zu vereinigen. In einem ihm gehörigen großen Garten in der Nähe der Stadt ließ er eine nicht kleine Anzahl einzelner Häuschen erbauen, die er Jungfrauen und Wittwen ohne Unterschied des Standes und Vermögens unter der Bedingung zu Wohnungen gab, daß sie keusch und züchtig, arbeitsam und verträglich zusammen lebten, und in der Mitte des Gartens eine kleine Kirche für seine Pfleglinge. Sämmtliche Bauten waren in zwei Jahren vollendet, und am 2. März 1184 wurde die Kirche dem heiligen Christoph geweiht. Die Oberaufsicht über seine Stiftung übertrug Lambert einem von ihm angestellten Priester. Die hier zusammenlebenden Frauen erhielten vom Volke den Namen Beguinen (Stammlerinnen), vom Zunamen des Stifters le Begues abgeleitet, und es war dies höchst wahrscheinlich anfangs ein Spottname, wie Geusen, Hugenotten etc.

Dies ist der Anfang der nachher so großen und berühmten Vereinignug der Beguinen und der erste Beguinenhof.

Der fromme Lambert, nach einer in der großen Lambertus-Kirche gehaltenen Strafpredigt von seinen wüthenden Feinden, den vornehmen Pfaffen, überfallen und gemißhandelt, wurde von den Häschern des Bischofs gefangen nach dem nahen Castell Revogue geführt. Bei dieser seiner Verhaftung in der Kirche soll er, der Sage nach, den baldigen Untergang dieser Kirche prophezeit haben. Als nun die Kirche während seiner Haft wirklich durch die Unvorsichtigkeit eines Glöckners abbrannte, wurde er von seinen Feinden der Zauberei angeklagt, aber die vom Bischof angeordnete Untersuchung konnte keinen Tadel an Lambert finden, der, da das Volk über seine ungerechte Haft murrte, freigelassen nach Rom wanderte, um sich beim Papst Urban III. zu rechtfertigen. Dieser sprach den frommen Priester von jeglichem Vorwurf frei und bestätigte ihn als Patriarchen des von ihm gestifteten Instituts der Beguinen. Nach Lüttich zurückgekehrt, starb er sechs Monate darauf, nachdem er seine letzten Kräfte der Befestigung seines wohlthätigen Werks gewidmet hatte, im Jahre 1187.

Die Beguinen vermehrten sich ungemein schnell, nicht allein in Lüttich, sondern auch in den ganzen Niederlanden, in Frankreich und Deutschland. In den Niederlanden wurden alle Beguinenhöfe nach dem Vorbilde des Lütticher angelegt, eine Anzahl sich stets vermehrender kleiner Häuser mit einer Kirche außerhalb der Städte, so daß sie eigentlich Vorstädte oder Dörfer bildeten, und von den Nonnenklöstern auch in der äußern Gestalt wesentlich verschieden waren. Erst in spätern Jahrhunderten sind sie wegen der Kriegsdrangsale, welchen sie allzu sehr ausgesetzt waren, durch die Ringmauer hier und da in die Städte aufgenommen worden. Zu Ende des 13. Jahrhunderts gab es fast keine belgische Stadt, welche nicht ihren Beguinenhof hatte.

Diese ungemein rasche Vermehrung und Ausbreitung des Beguineninstituts lieferte den Beweis, daß dadurch einem moralischen, socialen und nationalen Bedürfniß Ausdruck und befriedigende Gestalt gegeben war.

Wie die Beguinenhöfe in der äußern Gestalt und innern Einrichtung nichts mit den Nonnenklöstern gemein hatten, so waren auch die Gesetze, nach welchen die Beguinen zusammenlebten, von den Ordensregeln der Nonnen sehr verschieden, und es wäre nichts Verkehrteres, als sie für Nonnen von einer leichten Observanz zu halten. Wenn die Nonne, von welchem Orden sie auch sei, stets an eine mehr oder minder strenge Ordensregel gebunden war, hatte die Beguine höchstens sich eines nüchternen, mäßigen Lebens zu befleißigen. Gar oft war das Gegentheil der Fall, ohne daß die Beguine dadurch ihrer Stellung im Bunde verlustig worden wäre. Das Gelübde der Nonne lautet auf Gehorsam und Keuschheit für ihr ganzes Leben; die Beguine verspricht den Vorsteherinnen der Anstalt nur für die Dauer ihres Aufenthaltes im Beguinenhof Gehorsam, und von einem Keuschheitsgelübde ist bei ihr keine Rede. Die Nonne ist für die Lebensdauer an ihr Kloster gebunden; die Beguine kann zu jeder Zeit, wenn es ihr beliebt, die Anstalt verlassen, um in die Ehe oder ein anderes Verhältniß zu treten. Die Nonne tritt bei der Einkleidung ihre sämmtliche Habe dem Kloster ab; die Beguine behält die freie Verfügung über ihr Eigenthum. Die Nonne trägt ihre streng vorgeschriebene Ordenskleidung, die Beguine zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten eine verschiedene Tracht und ist nur vorschriftlich verpflichtet sich, einfach

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Im Beguinenhof zu Brügge.

und anspruchslos zu tragen. Der Unterhalt der Nonne wird aus dem gemeinsamen Klostergute bestritten; die Beguine lebt vom Abwurf ihres Vermögens, von der Unterstützung ihrer Familie ober Freunde, oder von ihrer Arbeit, und wird nur, wenn sie arm und gebrechlich oder sonst arbeitsunfähig ist, auf Kosten der Anstalt verpflegt. Das gemeinsame Eigenthum der Beguinenschaft eines Hofes besteht nur in den Häusern, im Krankenhause und in der Kirche. Das Krankenhaus war stets das Hauptstück des gemeinsamen Eigenthums, und ihm gehörten alle Einkünfte der Anstalt, die der Kirche ausgenommen, und aus der Casse des Krankenhauses wurden alle gemeinsamen Ausgaben bestritten, wie die Armenpflege, die Bau- und Reparaturkosten, insoweit sie den ganzen Hof betreffen, als für Wege, Brücken, Gräben, Zäune etc. Die Bau- und Reparaturkosten der einzelnen Häuser hatten dagegen die Bewohnerinnen selbst zu zahlen.

In den kleinen Häusern wohnen sie entweder einzeln, oder selbander, zu drei, höchstens zu vier beisammen, je nach Vermögen, Verdienst oder Neigung; denn sie müssen der Anstalt einen Miethzins entrichten, der den Armen und Erwerbsunfähigen erlassen wird. Jede Beguine führt aber auf ihre Kosten ihre eigne Wirthschaft. Wenn eine Beguine sich aus ihren Mitteln ein Häuschen baut, so fällt dieses nach ihrem Tode der Anstalt zu.

Ihre häusliche Einrichtung darf nur sehr einfach sein. Ihr Erwerb kommt aus Handarbeit oder Unterrichtgeben. Sie weben, nähen, stricken, sticken, verrichten auch Hülfsarbeiten anderer Art in den Häusern, wohin sie bestellt werden; sie unterrichten junge Mädchen in allen weiblichen Handarbeiten, ferner im Lesen, Schreiben, Rechnen etc. – Mit Erlaubniß der Vorsteherin darf die Beguine in die Stadt gehen und dort einem Erwerb obliegen. Eine strenge Controlle wäre schon wegen der vielen einzelnen Häuser nicht möglich. So gleichen sie in vieler Hinsicht den Insassen der Schwesterhäuser in den Herrnhutergemeinden.

Auf diese Weise blieb die Beguine in steten lebendigen Wechselbeziehungen mit dem Volke und bildete das Mittelglied zwischen der Klosterfrau und der Frau der Gesellschaft, und da die Gesetze ihrer Körperschaft sehr dehnbar waren und sich leicht der fortschreitenden Bildung der Zeit anbequemten, so erhielt sie sich, freilich unter verschiedenen Modulationen, bis auf unsere Tage.

Da die Beguinen nicht, wie die Mönchsorden, eine festgestellte und vom Papst bestätigte oder gegebene Regel hatten, sondern nur einfache Verordnungen, von den Bischöfen für ihre Diöcesen gemacht, so mußten ihre Regulative in den verschiedenen Beguinagen

Der Prinselyk Beggynhof in Brügge.

[398] oder Beguinerien zu verschiedenen Zeiten von einander abweichen, doch gehen durch alle nach Zeit und Ort weit auseinanderliegenden bischöflichen Verordnungen wesentliche Grundzüge hindurch, so daß sie vom Ende des 13. Jahrhunderts an ziemlich übereinstimmende Statuten haben.

Das Institut gewann eine festere Gestaltung, als die Diöcesanbischöfe in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts den meisten Beguinenhöfen die Trennung von den Parochialkirchen und ihre Constituirung als besondere Kirchspiele mit ihrem eigenen Pfarrer zugestanden. Von nun an bilden die Pfarrer mit den Vorsteherinnen (magistrae principalis) die verwaltende und polizeiliche Behörde der Anstalt. Die Zahl der Vorsteherinnen wechselt von zwei bis acht.

Aus den mannigfachen bischöflichen Verordnungen im Laufe der Zeit geht hervor, daß es nicht immer zum Anständigsten in den Beguinerien hergegangen sein mag. So wurde ihnen verboten, Männer bei sich zu beherbergen, in der Stadt ohne Erlaubniß der Magistra herum zu laufen, Abends vor der Hausthüre zu sitzen, unanständige Lieder zu singen etc. Eine andere bischöfliche Verordnung verbietet ihnen überhaupt zu singen und Musik zu treiben. Bei Strafe wird ihnen die Betheiligung an Arbeiten zu Hochzeiten und Festlichkeiten verboten und junge Hunde zu halten. Wenn eine Beguine der Unkeuschheit überführt wird, so wird ihr ihr bestes Bett genommen und sie als ehrlos vom Hofe gejagt. Wenn eine Beguine heiraten will, so soll sie sofort nach der Verlobung ihr Hausgeräth zusammenpacken und abziehen, sonst wird sie um 12 Gulden gestraft.

Farbe und Schnitt der Kleidung wurden allmählich auch gleichmäßiger, doch hat die erstere immer zwischen schwarz, grau und blau gewechselt. Der Hauptsitz des Beguinenwesens war stets in Gent, wo noch immer zwei Beguinenhöfe bestehen, der große und der kleine. Deshalb ist die Tracht der Genter Beguinen zumeist maßgebend für die übrigen Beguinenhöfe des Landes.

Den behaarten Theil des Kopfes bergen sie in einer einfachen leinenen Haube ohne Besatz, mit Bändern unterm Kinn befestigt. Diese gewöhnliche Frauennachtmütze heißt franzosisch béguin, béghin, béguinet und flämisch begyne, und gilt sonach als integrirender Theil für das Ganze, und es ist heut zu Tage sehr charakteristisch, daß die Nachtmütze Repräsentantin der Beguine ist. Die Genter Beguinen legen über den vorderen Rand dieser Haube eine fast handbreite Binde, deren Zipfel ebenfalls unter dem Kinne zusammengesteckt werden. Die Löwener haben diese Binde nicht. Ueber Haube (und Binde) wird das eine Elle breite und fast zwei Ellen lange leinene Tuch gelegt, dessen vorderer Rand von der Stirn zu beiden Seiten bauschig absteht, dessen linker Zipfel unter dem Kinn hingezogen an der rechten Schläfe mit einer Stecknadel befestigt wird. Dieses Tuch war die Kopfbedeckung der Frauen des 13. Jahrhunderts überhaupt und wird noch jetzt von Nonnen verschiedener Orden und anderen weiblichen frommen Genossenschaften getragen. Die Beguinen des großen Hofs in Gent legen das Tuch glatt an die Stirn und belegen die vom kleinen Hofe, welche es bauschig tragen, mit dem Spottnamen „Hornträgerinnen“, zum Beweis, daß die Schalkhaftigkeit der weiblichen Natur nicht in der Frömmigkeit der Schwestern untergegangen ist.

(Schluß folgt.)



Zwei Junker von der Schwalm.

Es ist sehr bezeichnend für den denkenden Sinn des Deutschen, daß der urkräftige Bewohner der bekannten Schwalmufer-Landschaft im Hessenlande mit Stolz von seiner Heimath sagt: „Off der Schwalm seng ich derheem!“ – denn der Schwalmfluß ist der Nil seiner schönen Thalheimath, und so heißt diese selbst „die Schwalm“. Von der Schwalm kommt die beliebte „Ziegenhainer Butter“, ein Erzeugniß ihres herrlichen Viehstandes, ihrer saftigen Wiesen; die „Schwälmer Amme“ ist weit und breit gesucht von all’ den vornehmen Städter Damen, denen die heiligste und süßeste ihrer Mutterpflichten zu „gemein,“ zu „unästhetisch“ vorkommt, und – ein großer Theil der kurfürstlichen leibbewachenden Kürassiere (Garde du Corps) besteht aus Kindern der Schwalm, sintemalen es lauter kräftige, himmellange Gestalten sind, die Se. königl. Hoheit zu Allerhöchstihrem Schutze für nöthig hält.

So liefert uns die Schwalm ein scharfausgeprägtes Bild von dem Einfluß des Bodens auf die Beschaffenheit der Bewohner. Diese bilden hier ein eigenthümliches Volk. Durch viele Jahrhunderte hindurch hat es die sonderbare schwerfällige Tracht der Voreltern, aber auch ihre guten, einfachen, harten Sitten aufbewahrt bis auf den heutigen Tag, und hat sich auch hierbei das „königliche Regiment“ des Zeitgeistes geltend gemacht, so bleibt dem Schwälmer doch noch Einzelnes von der Neuzeit einzutauschen, dessen Mangel das anziehende Bild seines Lebens und Schaffens mit einem trüben Schatten überzieht. Alte hessische Geschichtsbücher preisen die Biederkeit des Schwälmervolkes, den großen Reichtum seiner Bauernhöfe. Darin eben liegt ein Widerstreit, der an dem biedern, fleißigen, sittlichen Stamme unangenehm überrascht, den wir uns aber durch das zähe Festhalten desselben an den Gebräuchen vergangener Jahrhunderte leicht erklären können – wir, die Kinder einer Zeit, die vor Allem berufen ist, altheiligen Vorrechten den Garaus zu machen. Was nämlich auf der Schwalm den ungeheuren Reichthum der Hofbesitzer begründet, was dort das Sprüchwort hervorgerufen hat. „Die Bettelleut’ stammen von de reiche Buuern ab!“ – was ein bäuerisches Geld-Junkerthum wie einen giftigen Pilz auf dem Boden angestammter Redlichkeit gedeihen ließ, das ist das Vorrecht der Erstgeburt. Der Erstgeborene erbt das Gut mit Allem, was dazu gehört, und die jüngeren Geschwister werden durchgängig – so will’s die „Sitte“! – mit einer Geldsumme abgefunden, die weit unter dem Maße rechtschaffener Theilung steht. So kommt es, daß der älteste Sohn der „Herr“ und die jüngeren Geschwister die Knechte und Mägde des Bruders werden.

Das ist die Hauptschattenseite eines Volksstammes, an dessen Kraft und Gesundheit, an dessen eisernem Fleiß, an dessen Einfachheit, Sparsamkeit, Sittlichkeit der Blick des Fremden mit stiller Bewunderung hängen müßte.

So wenig Sinn das Völkchen der 13. Dörfer für dichterische Gestalten hat, so lebt doch noch in Einzelnen die Erinnerung an seine Außergewöhnlichkeiten. Eine hiervon hat eine andere Feder bereits in dem Artikel „Fürst und Bauer“ (in Nr. 6 der Gartenlaube) unseren Lesern vorgeführt. Es sei mir vergönnt in kurzen Zügen die Thaten zweier Helden aufzuzeichnen, die auf der Schwalm geboren, doch im Allgemeinen dort fast ebenso vergessen sind, als der Name „Junker Hansens Hof“,[4] von dem der Verfasser des obenerwähnten Artikels irrthümlicherweise erzählt, daß er heute noch gebräuchlich sei.

Wenn der Name „Fürstendiener“ heute, wo die Völker mündiger geworden sind, in Verruf gekommen ist, so haftet dagegen unser Blick mit Rührung auf den Getreuen der Vorzeit, wo hie und da im deutschen Lande zwischen Fürst und Volk Verhältnisse bestanden, wie zwischen einem Vater und seinen Kindern. Ein solcher Getreuer – d. h. unter solchen Verhältnissen – war Heinz (Heinrich) von Lüder, ein Zeitgenosse Philipp’s des Großmüthigen, geboren auf dem Schlosse seiner Väter zu Loßhausen bei Ziegenhain. Als der Kaiser (Carl V.) seinen edlen, ritterlichen Landesherrn nach der für den „Schmalkaldischen Bund“ so verhängnißvollen Schlacht von Mühlberg, wo Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen in Gefangenschaft geriet, nach Halle lockte, um ihn dann in Sicherheit bringen zu lassen, saß Heinz von Lüder als Commandant in der Festung Ziegenhain. Dahin entsandte der Kaiser einen seiner Generäle mit großer Heeresmacht und mit dem Befehle, das Commando der Festung zu übernehmen. Als man aber Heinz von Lüder des Kaisers Begehr zu wissen that und hinzufügte, daß sein eigener Landgraf, der Freiheit zu lieb, es selbst verlange, entgegnete der wackere Junker von der Schwalm: „Mein Herr, der Landgraf, hat mir den Befehl gegeben, die Festung zu halten, da er noch frei war, und was der freie Landgraf befohlen hat, das kann der gefangene nicht umstoßen!“ – und fügte nun seinerseits hinzu: „Wenn übrigens der Herr General nicht mache, daß [399] er fortkomme, so wolle er ihm den Weg mit den großen Karthaunen weisen!“

Vor diesem Ereigniß, das sich unauslöschlich in der Brust des Knaben Konrad Wiederhold (des späteren Commandanten von Hohentwiel, dessen wir in Nr. 36 der Gartenlaube 1862 gedachten) festgesetzt hat und diesem, nach eigenem Geständniß, ein steter Leitstern seiner Handlungen gewesen ist – stand Heinz von Lüder auf einem friedlicheren Posten. In Gemeinschaft mit Adam Krafft mußte er im Hessenlande umherreisen, das Kirchenwesen zu untersuchen und die evangelische Kirchenzucht herzustellen, wie dies auf der Kirchenversammlung zu Homberg im Jahre 1526 bestimmt war. Dabei traf es sich auch, daß Heinz von Lüder das Kloster zu Haina von den innewohnenden Mönchen säuberte. Die Aebte beschwerten sich bei dem kaiserlichen Reichskammergericht, so daß kaiserliche Beamte nach Haina kamen, um sich vom Stand der Dinge zu überzeugen. Mittlerweile war aus den Räumen des Betens und Faulenzens ein Zufluchtsort für Gebrechliche und Geistesschwache erstanden, und der zeitige „Abt“ hieß – Heinz von Lüder. Dieser, auf die Frage, weshalb er die Mönche aus ihrem Eigenthum vertrieben, schwieg und ließ die Thüren des Empfangszimmers öffnen. Da traten herein die Blödsinnigen, die Krüppel und Elenden. Die Kaiserlichen aber sahen sich beschämt und vertwundert an, als nun der Ehrenmann sie fragte: „Gnädige Herren, hier sind sie, die die Einkünfte der Abtei genießen; möget Ihr es vor Gott verantworten, daß diese wieder in’s Elend gestoßen werden?“ Mit Hochachtung schieden die Gesandten des Kaisers von der Anstalt, und gar bald erging von Seiten des Letzteren das Urtheil, daß die Mönche ihre Rechte am Kloster einbüßen müßten.

Damals grollte Carl V. dem Biedermanne noch nicht, wohl aber etliche Jahre später, nach der Eingangs erzählten ritterlichen Antwort. Da, als sich endlich Landgraf Philipp die Thüren des Gefängnisses öffneten, machte der Kaiser auch seinem Zorne gegen den Commandanten von Ziegenhain Luft und behielt sich vor, als eine Mitbedingung von Philipp’s Freiheit, daß dieser den Heinz von Lüder am Ziegenhainer Festungsthore aufhängen lasse. Herrlich löste der befreite Landgraf sein gegebenes Wort. An einer goldenen Kette, mit Polstern unter die Arme des Missethäters gelegt, ward Heinz von Lüder am Thore sanft in die Höhe gezogen und, nachdem er ein wenig gehangen, wieder herabgelassen. Die Kette aber ist sein Eigenthum geblieben, als ein Zeichen der Dankbarkeit seines Fürsten und ein Sinnbild seiner eigenen Treue, herrlich wie Gold im Feuer der Noth bewährt. –

Mein zweiter Junker von der Schwalm kann nicht mit Waffenthaten prunken oder sich rühmen, seinem Fürsten treu gewesen zu sein bis in den Tod. Doch war er treu sich selbst, treu seiner besseren Ueberzeugung und treu dem guten Rechte seines Volkes. Er heißt Bernhard v. Schwertzell, ist von „gutem Adel“, wie seine Thaten beweisen werden, und 1816 auf dem Schlosse der Freiherrn v. Schwertzell zu Willingshausen, zwei Stunden von Ziegenhain, geboren. In den „tollen Jahren“ kam er, den Keim des Todes in der Brust, aus Oesterreich, wo er als Lieutenant gedient, auf sein Heimathdorf zurück. Hier sah er bald, was dem Schwalmvolk, dessen Gleichgültigkeit an den Bewegungen der Zeit ihn erschreckte, vor Allem Noth that. Es war damals noch die schöne hoffnungsvolle Zeit des Frankfurter Parlamentes, als Bernhard v. Schwertzell – und dies ist seine ganze Heldenthat – von seinem Schmerzenslager aus das „Willingshäuser Wochenblättchen“ gründete, dessen Preis er (beiläufig gesagt), in richtiger Würdigung des Schwälmer Charakters, auf vierteljährlich einen Silbergroschen festsetzte. In volksthümlicher, d. h. den Schwälmern bis auf den letzten Buchstaben verständlicher Sprache erweckte er die Landbewohner aus dem hier und da noch süßen politischen Schlummer, zeichnete ihnen das Bild des Rechtes und suchte sie für gesetzliche Selbsthilfe zu begeistern. Wer die Schwälmer kennt, muß unwillkürlich rufen: „Eine schwierige Aufgabe!“ Aber der Mann mit dem dahinsiechenden Körper und dem frischen Geiste, der „Junker“ mit seinem warmen Herzen für das Volk, war der rechte Mann dazu. Er ruhte nicht eher, bis sein Wort auf der Schwalm die That geboren, und als sich am 29. April 1849 Nachmittags gegen fünf Uhr die von ihm gegründeten sechs Vereine zu dem von ihm unter unsäglichen körperlichen Leiden angestrebten „Schwalmbund“ vereinigten, da ruhte er für immer! Die Hoffnung eines Menschen aber, der ihm sein Leben und Streben durch gemeine Angriffe auch geistig zu verbittern gesucht hatte, die Hoffnung, daß „mit der nahe bevorstehenden Auflösung seines Körpers auch das Blättchen“ sterben werde, wie jener Gegner, ein angehender Geistlicher, in einer Erwiderung meinte, ging nicht in Erfüllung. Ein treuer Freund des Verblichenen setzte fort, was der unvergeßliche Todte begonnen, bis ihn – den armen israelitischen Lehrer von Merzhausen – das Willkürregiment eines Hassenpflug aus seinem doppelten Beruf und seinem Vaterlande vertrieb.

Bernhard v. Schwertzell starb, noch nicht ganz dreiunddreißig Jahre alt. Ein unabsehbarer Leichenzug, darunter der Bürgerverein von Ziegenhain und seine erst durch den Tod mit ihm versöhnten Verwandten, folgte dem Sarge des Frühvollendeten. Auch er ist einer von Denen, die mit der Hoffnung im Herzen gestorben sind, daß die Nacht des zerrissenen Deutschland vorüber und sein Morgenstern aufgegangen sei. Selig sind die Todten der Freiheit alle, die so gestorben sind, kämpfend und hoffend bis an’s Grab, das nach wenig Tagen auch die Freiheit verschlang!

J. B.



Blätter und Blüthen.

Der Vogel meines Freundes. Einer meiner älteren Freunde, welcher von einer Reise durch Südamerika zurückgekehrt war, lud mich zum Besuch ein, indem er hinzufügte, daß er mir allerlei merkwürdige Dinge, die er mitgebracht, zeigen könne. Als ich endlich seiner Aufforderung folgte und in sein Naturaliencabinet trat, fiel mein Auge zuerst auf einen ungeheuern Vogel, dessen ausgebreitete Flügel nicht weniger als sechszehn Fuß maßen und der am Plafond des Zimmers in fliegender Stellung aufgehängt war. Ich äußerte mein Erstaunen über diese Größe, und mein Freund erwiderte darauf lächelnd: „Ja, das ist ein prachtvoller Vogel, er hat mir aber auch mehr Angst und Gefahren verursacht, als die ganze übrige Sammlung.“

„Wie so?“ fragte ich.

„Ja, das war ein furchtbares Abenteuer,“ antwortete er, „und wenn Sie Alles angesehen haben, will ich Ihnen die Geschichte bei einem Glase Wein erzählen.“

Wir brauchten zwei Stunden, um Alles durchzusehen, dann begaben wir uns nach der Bibliothek meines Freundes, wo wir auf unsere beidereitige Gesundheit tranken und worauf mein Freund seine Erzählung begann.

„Als ich mich in La Paz, einer der blühendsten Städte Südamerikas am Andes-Gebirge, aufhielt, machten meine Freunde mir den Vorschlag, nach dem See Titicaca zu reisen, wo wir, wie sie sagten, äußerst romantische, fast unzugängliche Felsenklippen finden würden. Dies war mir sehr willkommen. Die Reise wurde sogleich beschlossen, und nachdem wir uns einen erfahrenen Führer verschafft und Alles, was zur Reise nöthig war, besorgt hatten, machten wir uns auf den Weg. La Paz liegt zwar in einem Thale, dieses befindet sich aber immer noch einige tausend Fuß über dem Meeresspiegel, und der See, nach welchem wir reisten, liegt 3–4000 Fuß über La Paz, sodaß wir uns bergaufwärts zu bewegen hatten. Die Reise war sogar nicht ohne Gefahren, da wir oft über enge, jähe Felsenpfade, zu deren Seiten uns furchtbare Abgründe angähnten, zu wandern hatten. Ein verfehlter Schritt konnte uns dort leicht den Tod bringen, und wir mußten so sorgsam als möglich gehen. Wenn wir Steine in die Abgründe schleuderten, so dauerte dies oft mehrere Minuten, bis uns das Echo aus der Tiefe verkündete, daß sie dort angelangt seien.

Endlich kamen wir nach den Ufern des Sees, der ein wildes, höchst malerisches Ansehen hatte. Ringsum war die Landschaft wild und zerklüftet, die tiefe Ruhe, welche darüber verbreitet war, gab ihr aber zugleich eine solche Harmonie, daß sie den Eindruck des Erhabenen machte. Es war schon Nachmittag, als wir dort ankamen, und da die Sonne bald darauf hinter die Schneekoppen der Westseite zu sinken begann, beschlossen wir, unser erstes Lager aufzuschlagen und unsere Forschungen bis zum nächsten Tage auszusetzen. Bald nachdem wir Halt gemacht und unser Führer Joseph unser frugales Mahl bereitete, lenkte er unsere Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand, der hinter einer zerklüfteten Klippe auf einer fernen Felsenspitze hervorragte. „Señores,“ sagte er, nachdem er gesehen, daß wir ihn in’s Auge gefaßt, „das ist das Nest eines Condor-Paares, das dort seit Jahren seine Jungen aufzieht, da es sicher ist, daß es dort Niemand erreichen kann, denn da kommt so bald Keiner hinauf.“ Er erzählte darauf, daß einige Bergbewohner es versucht hätten, aber dabei zu Schaden gekommen seien. Einmal soll Einer hinaufgekommen sein, aber der furchtbare Vogel habe ihn trotz seiner tapfern Gegenwehr über den Rand der Klippe gezogen und in den Abgrund geschleudert. „Sollte man den Vogel nicht tödten können?“ fragte ich Joseph. „Nein, Señor,“ erwiderte er mit großer Bestimmtheit. „Der Condor ist zu stark, und namentlich würde er jetzt zu fürchten sein, wo Junge im Neste sind, die er mit der größten Wuth vertheidigt.“

Je mehr unser Führer in dieser Weise dagegen sprach, desto mehr reizte uns der Angriff, und wir beschlossen, am nächsten Tage eine Klippe zu ersteigen, welche das Nest überragte, und von wo wir einen Blick auf den furchtbaren Vogel mußten werfen können.

Demgemäß machten wir uns am nächsten Morgen voll Lust auf den Weg. Nach mühsamem, erschöpfendem Emporkommen kamen wir endlich auf dem Gipfel der Klippe an und nahmen dort erst einige Erfrischungen zu uns, ehe wir weiter vorgingen. Nach dem Frühstück erklimmten wir mehrere hervorragende Punkte am Rande des Felsens, um einen Blick in das Nest zu gewinnen; da uns dies jedoch nicht gelang, so schlug ich vor, tiefer hinabzusteigen und an der Felsenkante [400] entlang zu klettern, bis wir sehen konnten, ob die Condor-Mutter im Neste sei. – Unser Führer protestierte feurig gegen meine Keckheit, aber meine Neugier war durch das, was ich von dem Vogel gehört, so gespannt, daß ich entschlossen war, es auf alle Fälle zu wagen. Nach einer Besprechung mit meinen Freunden wurde beschlossen, daß sie mich nach der Kuppe hinablassen sollten, damit ich in’s Nest sehen könne; war die Mutter nicht im Nest, so wollte ich ein oder ein paar Junge fortnehmen und nach der Spitze der Klippe, wo ich niedergelassen war, zurückgehen, damit ich von dort wieder hinaufgezogen werden könne.

Nachdem ich meinen Revolver nachgesehen und mein Jagdmesser in der Scheide lose gesteckt, bereitete ich mich auf die gefahrvolle Reise, indem ich alle überflüssige Kleidungsstücke abwarf, das eine Ende des Seiles um meinen Leib und das andere um einen Holzblock band, der an den Rand der Klippe gestellt wurde. Dann ließ ich mich vorsichtig hinab, bis ich an den Armen hing, schaute umher und gab, als ich sah, daß Alles in Ordnung war, das Zeichen, daß ich hinabgelassen werden sollte, bis meine Füße die Klippe berührten. Darauf kroch ich leise und sorgfältig entlang, bis ich das Nest entdeckte, das unter Zweigen verborgen war und gegen vier Fuß im Durchmesser hatte. Glücklicherweise war die Mutter fort, und mit freudeklopfendem Herzen ging ich auf das Nest zu, in dessen Nähe ein wilder Weinstock Wurzel gefaßt hatte und eine Felsenhöhlung umrankte. Als ich durch diese hindurchtrat und in das Nest sah, erblickte ich zwei junge Vögel in einem weichen Federnest.

Sie waren etwa so groß wie große Gänse, und ich beschloß daher rasch, sie zusammen zu binden und mit ihnen zu entfliehen. Während ich aber damit beschäftigt war, fühlte ich einen Ruck an meinem Leibe, und man kann sich meine Empfindung denken, als ich gewahrte, daß das Seil sich aus irgend einer Ursache gelockert hatte, losgegangen war und etwa fünfzig Fuß lang über den Abgrund hing. Rasch ließ ich die Vögel fallen, zog mein Messer, schnitte das Seil durch und war im Begriff, es einzustecken, als ein wilder Schrei meine Aufmerksamkeit erregte. Verstört blickte ich auf und erblickte zu meinem Entsetzen über dem See einen furchtbaren Vogel, der die Luft durchschnitt und gerade nach der Richtung, wo ich stand, hinflog. Großer Gott! Nie vergesse ich das entsetzliche Gefühl, das mich in dem Augenblick erfüllte, als ich die volle Gefahr meiner Lage erkannte. Auf dieser Felsenkante, fern von meinen Freunden, allein mit dem ungeheuren Vogel, der wie ein Teufel auf mich zustürmte, um mich zu zerreißen! So furchtbar dieses Gefühl war, fühlte ich jedoch auch Muth und Kraft zum Widerstande in mir, eilte durch die Höhlung zurück, zog meinen Revolver und erwartete den Angriff. Ich brauchte nicht lange zu warten. Mit furchtbarem Schrei, der von Klippe zu Klippe hallte, kam der wüthende Condor auf mich losgeschossen, und als er herabschwebte, erhob ich meinen Revolver und zielte so gut ich es in der furchtbaren Aufregung vermochte. Dreimal schoß ich und entlud den Inhalt des Pistols in die Brust des furchtbaren Thieres, ehe es seine Klauen in mein zuckendes Fleisch schlug und mit dem furchtbaren Schnabel nach mir hackte. Mit der Energie der Verzweiflung hieb ich mit meinem Jagdmesser um mich, während ich mit der linken den Weinstock faßte, um meinen Feind zu verhindern, mich nach dem Abgrund der Klippe zu ziehen. Unablässig bohrte ich das Messer in seinen Leib, aber ohne eine Wirkung dadurch zu erzielen. Während der Vogel so stark und kräftig wie im Anfang fortkämpfte, fühlte ich meine Kräfte schwächer werden und begann zu fürchten, daß sie mich verlassen würden. Meine Stöße wurden nach und nach schwächer, meine Hand hielt den Weinstock nicht mehr fest genug, meine Kniee begannen zu zittern, und ich fühlte, daß meine Kräfte mich verließen. „Gott erbarme sich meiner Seele,“ rief ich betend aus, während ich mit einer letzten furchtbaren Anstrengung mein Messer bis zum Heft in die Kehle meines gefiederten Feindes bohrte. Der Schlag zog mich zu Boden, und es schien mir, als falle ich leise einen dunklen Abgrund hinab, während das geflügelte Unthier meine Kehle zerfleischte, heisere, teuflische Schreie ausstoßend – hinunter, hinunter ging es, bis wir am Fuß einer furchtbaren Kluft ankamen, wo Alles um mich her finster wurde.

Als ich zum Bewußtsein erwachte, lag ich auf dem Boden der Höhle, auf der ich gestanden hatte, und der Condor verendet und steif neben mir. Der letzte Stoß, den ich gethan, hatte die Schneide des Jagdmessers zwischen zwei Rückenwirbel getrieben, die Wirbelsäule durchschnitten und dadurch den unmittelbaren Tod des Ungeheuers verursacht. Aber mit welchen Gefühlen mußte ich um mich blicken! Die Sonne ging herrlicher unter, als ich sie je gesehen, aber nicht ein einziger Laut unterbrach die furchtbare Stille, welche ringsumher herrschte. Verwundet, blutend, halb ohnmächtig und verzweifelnd saß ich dort und bewachte die Felsenhöhen, welche immer dunkler und unbestimmter wurden und sich endlich ganz in dichten, grauen Nebel hüllten, und als Stern nach Stern emportauchte und den Himmel mit seinem Glanz erfüllte, zog die furchtbarste Verzweiflung in meine Brust und mein Verstand began zu wanken. – Welche Hoffnung hatte ich noch. Meine Freunde mußten mich todt glauben und waren zurückgegangen, um nie wieder zurückzukehren. Der Führer würde mein keckes Abenteuer denen der Anderen in seiner wundervollen Erzählung beifügen – und meine Knochen mussten unterdessen unbeerdigt auf dem Felsen meiner Tollkühnheit bleichen! Mit tiefem Seufzer ließ ich das Haupt auf die Brust sinken, und als ich es that, fiel der Schimmer eines kleinen Feuers in der fernen Dunkelheit in mein Auge. – Begierig strengte ich meine fieberischen Augen an, um den Schatten eines menschlichen Wesens in der Nähe des Feuers zu erspähen, denn wo dieses war, mußten auch Menschen sein. Eine schwache Hoffnung entsprang in meiner Brust. Konnten es nicht meine Gefährten sein, die, nachdem sie mich aufgegeben, nach dem Ort zurückgekehrt waren, von dem aus unser Führer uns das Nest gezeigt hatte? Mit dem Gedanken hieran wuchs auch die Hoffnung, ich zog mein Pistol und feuerte beide Läufe nach einander ab, aber ach! es kam kein Laut zurück, als das Echo, das meiner Noth spottete. Großer Gott! Sollte ich im Angesicht menschlicher Wesen, ohne daß sie eine Anstrengung zu meiner Rettung machten, verkommen? Der bloße Gedanke daran machte mich beinahe wahnsinnig, da durchzuckte es wie ein belebender Funke mein angstdurchglühtes Gehirn, und es überkam mich dabei wie ein Gefühl der Rettung, das unheschreibbar ist, daß, ich vielleicht das Nest anzünden und dadurch die unten Befindlichen darauf aufmerksam machen konnte, daß sich oben ein lebendes Wesen befand, das aus Mangel an Hülfe dem Verderben ausgesetzt war. Mit zitternder Hand zündete ich ein Schwefelholz an, häufte ein Paar trockene Blätter zusammen, kroch nach dem Nest und legte sie darauf. Eine Zeit lang schien es, als wollten sie nicht brennen, dann brach jedoch eine Flamme hervor, die trockenen Zweige fingen Feuer und in wenig Minuten brannte das ganze Nest prasselnd lichterloh.

Ach, wie ängstlich bewachte ich es und lauschte, ob ihm nicht ein Zeichen des Verständnisses folgen würde. Freude, Freude! Ja, es kam. Eine Büchse wurde unten abgeschossen, ein zweiter und dritter Schuß folgten. Halb verrückt vor Freude ergriff ich einen großen Theil des brennenden Nestes und schleuderte ihn mit aller Kraft in das Dunkel hinein, und als es wie ein Meteor hinabflog, rollten zwei neue Schüsse durch die stille Luft. Gott sei gelobt! Meine Freunde waren unten, und ich sollte gerettet werden. Ich will jetzt nicht wieder erzählen, was ich während der Nacht empfand und mit welcher halb wahnsinnig machenden Angst ich die langsam dahinschleichenden Stunden bis zur Dämmerung zubrachte. So wie es hell wurde, standen meine Freunde auf dem Felsen über mir und bereiteten Alles zu meiner Rettung. Ich warf den Condor über den Klippenrand und während ich das Seil fest um meinen Leib band, sah ich mit Ueberraschung, wie der Vogel wie ein lebendes Wesen im Kreise flog, jemehr er sich dem See näherte. Die Flügel hatten sich ausgebreitet und trugen ihn langsam von der Felshöhe herab. Während er langsam herniederflog, wurde ich eben so langsam hinaufgezogen, und endlich erreichte ich, unter Freudenrufen, den obersten Felsen, wo ich in die Arme meiner Freunde sank, die mich wie einen vom Tode Erstandenen begrüßten. Sie reichten mir Erfrischungen, verbanden meine Wunden, und eine Stunde nach Sonnenuntergang gelangten wir glücklich nach dem See, wo ich den Preis fand, den ich mit so viel Gefahren errungen hatte, und den ich jetzt als Andenken an die um ihn erduldeten furchtbaren Leiden aufbewahre.

„Das“, sagte mein Freund, indem er unsere Gläser von Neuem füllte, „ist die Geschichte des furchtbaren Vogels, der jetzt so harmlos in meinem Cabinet hängt.“



Körner’s Todtenkranz. Es ist bekannt, daß der jugendliche Held und Dichter oft von dem Vorgefühle seines frühen Todes beschlichen wurde. Kurz vorher, ehe diese trübe Ahnung sich verwirklichen sollte, war er in G. in einer fröhlichen, meist aus jungen Leuten beiderlei Geschlechts bestehenden Gesellschaft. Man scherzte, man lachte, bis durch eine unvermuthete Wendung des Gespräches die Rede auf einen kürzlich verstorbenen jungen Officier kam, dessen Sarg man reich bekränzt mit allen militärischen Ehren zu Grabe getragen habe. Bei diesem Gespräch wurde Körner sehr ernst und äußerte: er fühle nur zu gewiß, daß auch er bald diesen letzten Weg antreten müsse. Man wollte ihm natürlich diese schweren Gedanken ausreden; vor allen war es ein junges, hübsches, lebhaftes Mädchen, die sich für den liebenswürdigen Dichter interessirte und ihm theilnehmend bei dieser Gelegenheit zusprach. „Nun, Mademoiselle,“ sprach Körner, „wenn Sie von dem Gegentheile meiner Ahnung überzeugt sind, so werden Sie mir um so leichter eine Bitte gewähren: winden Sie mit Ihren schönen weißen Händen einen Kranz von Myrthen und Rosen und legen mir diesen Kranz auf den Sarg.“ Julie G. versprach es wie im Scherze mit einem Handschlag, aber mit einem wehmüthigen Schauer. Kurze Zeit darauf drang der Schmerzensschrei: Körner ist gefallen! auch nach G. und zu ihr. Unter heißen Thränen wand das junge Mädchen den versprochenen Todtenkranz und reiste so schnell wie möglich ab. Da aber in jener Zeit Gedanke und That nicht auf Flügeln eilten wie jetzt, kam sie in dem etwa 3 Meilen von G. entfernten Dorfe Wöbbelin erst an, als Körner bereits unter der schönen, von ihm selbst zum Ruheplatze auserwählten Eiche eingesenkt war. Seine Freunde, welche diese traurige Pflicht schweren Herzens erfüllt, waren hingezogen, Körner’s frisches Blut am Feinde zu rächen, und so schlief der Dichter von „Leyer und Schwert“ einsam unter der Eiche, und die Nacht senkte sich auf die Erde, und die Sterne woben ihren unvergänglichen Strahlenkranz.

Da eilte leicht wie ein Schatten eine schlanke weibliche Gestalt über den Feldweg dem einsamen Grabhügel zu. Hier scharrte sie mit ihren zarten Händen und einer kleinen Hacke, die sie mitgebracht, die frisch aufgeworfene Erde hinweg, und als sie den Deckel des Sarges erreicht, rief sie, dreimal an denselben klopfend: „Theodor Körner, ich bringe Dir den versprochenen Myrthenkranz!“ Unter Thränen nahm sie dann Abschied von dem stillen Grabe und eilte heimwärts.

Diese vorstehende Thatsache erzählte mir eine erst kürzlich verstorbene alte würdige Dame. Sie selbst war jene Julie gewesen, welche in ihrer Schwärmerei dies Zeichen inniger Verehrung noch dem jungen Dichter im Grabe darbrachte.

Fr. L. Graff.


  1. Des Dichters fünfundsiebenzigster Geburtstag, an welchem ihm so viele Festgrüße aus ganz Deutschland und selbst aus Rußland, von den Deutschen in St. Petersburg, zugingen, daß es den gefeierten Greis drängt zu den besondern Erwiderungen noch diesen allgemeinen Dank dafür auszusprechen.
  2. Dieses berühmte norwegische Thal liegt im Stift Christiania und erstreckt sich durch das Christians-Amt von S.-O. nach N.-W. bis zum Romsdal im gleichnamigen Amte des Stifts Drontheim.
  3. Vorher könnte der gleichnamige Artikel in Nr. 11 der Gartenlaubenoch einmal nachgelesen werden.
  4. Die damit verknüpfte Geschichte ist mir, als einem Ziegenhainer Kind, von meiner frühesten Jugend an bekannt. Aber gar oft habe ich mich geärgert, daß das Schwälmervolk den interessanten Hof nie anders nannte, als „dem Vorgemeester Hooß in Leimbach seng Hoob.“       J. B.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Nummerierung korrigiert