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Die Gartenlaube (1863)/Heft 1

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]
Die Tochter des Fälschers.
Von Carl Heigel. [1]


1.

Die Gäste an der fürstlichen Tafel waren beim Dessert. Die Liebenswürdigkeit des Fürstenpaars, das treffliche Diner und reichlicher Champagner hatten mehr und mehr die bürgerliche Befangenheit und Zurückhaltung gebannt, das Gespräch wurde lauter, lebhafter, und Jeder nahm daran Theil. Einige Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, die Beamten des Fürsten und der nahen Kreisgerichtsstadt und der junge Pastor waren zugegen. Nur der Rendant des königlichen Gerichtes war abwesend. Man erwähnte seine Krankheit, und eine seltene Uebereinstimmung von Verehrung und Theilnahme für den wackern Mann gab sich kund. Die Fürstin und der Pastor betonten den frommen, sittlichen Sinn Günther’s, der Kreisrichter und Actuarius hoben die Diensttreue und unermüdliche Thätigkeit des Rendanten hervor, Alle vereinigten sich im Lobe seiner Bescheidenheit und Herzensgüte. Nur Doctor Michaelis schwieg; doch die wortkarge, verschlossene Art des fürstlichen Leibarztes war bekannt. Zuletzt erhob sich der Herr des Schlosses, ein wahrer Edelmann, mit offenem Sinn für alles Gute begabt. „Meine verehrten Gäste,“ begann er, „wir sprachen soeben von einem Manne, der als Vater, Bürger und Beamter Allen ein Muster ist. Ich entspreche gewiß Ihrem innersten Gefühl, wenn ich meiner Freude über die Verlobung seiner Tochter mit unserm lieben Pastor lauten Ausdruck gebe! Trinken wir auf das Wohl des jungen Brautpaars, auf die baldige Genesung des allbeliebten Ehrenmannes!“

Dem Trinkspruche folgte allgemeine und begeisterte Zustimmung. Das Gläserklirren schien kein Ende nehmen zu wollen, und Jeder drängte sich zum Pastor, um dem künftigen Schwiegersohn des einzigen Günther die Hand zu schütteln.

„Aber Doctor,“ rief plötzlich Reinhold den Arzt an; „Sie haben ja noch Ihr volles Glas stehen. Tranken Sie denn nicht auch auf die Gesundheit meines theuren Freundes?“

„Ach was!“ erwiderte Jener verdrießlich; „Ihr habt gut Jemandem Gesundheit wünschen; die Mühe des Gesundmachens bleibt doch mir allein.“

„Um so mehr sollten Sie auf seine baldige Genesung mit uns anstoßen. Aber während wir Alle uns des seltenen Mannes erfreuen, sitzen Sie mürrisch und schweigsam, als ob Sie gegen Günther weiß Gott was auf dem Herzen hätten!“

„Ich habe gar nichts gegen ihn! Nur bin ich kein Schwärmer und lobe keinen Menschen vor seinem Tode! Fehler haben wir Alle, und er wird sie wohl auch haben!“

Pastor Reinhold wollte gereizt antworten, allein in demselben Augenblick erhob sich die Fürstin und gab damit das Zeichen zum Aufbruch. Verstimmt durch des Doctors zweifelhaftes Gebahren verabschiedete sich Pastor Reinhold bald von der übrigen Gesellschaft und schlug mit eiligen Schritten den Weg nach dem benachbarten Städtchen, dem Ziel und Wohnort der meisten Gäste, ein. Sein Mißbehagen wurde durch die Schärfe der Luft nicht gemildert, welche außerhalb der warmen Schloßräume die Heimkehrenden empfing. Denn der Abend war mit Nebel und Frost hereingebrochen, und aus manchem Fenster der auftauchenden Stadt schimmerten schon die Lampen fleißiger Handwerker. Die Pappeln, die zu beiden Seiten des Heerweges gepflanzt waren, ragten kahl wie Mastbäume empor und knarrten im Nachtwind. Links und rechts dehnte sich der weiße Spiegel der verschneiten Gefilde; fernab, wo der dunkle Waldsaum begann, grauten Nebel.

Dicht vorm Thor sah dem einsamen Wanderer das Häuschen des königlichen Kreisgerichts-Rendanten mit rothen Fenstern entgegen. Unwillkürlich stand Reinhold still und lüftete mit tiefem Athemzug den Hut.

„Der Wein ist wir zu Kopf gestiegen,“ sagte er sich selbst. „Dieser Doctor! Gott verzeihe mir, aber ich hasse ihn! Das Fürstenpaar, die Räthe, wie freundlich, wie begeistert waren sie Alle außer ihm! Er liebt meinen Schwiegervater nicht; pah, er liebt auch mich nicht, er liebt Niemand, es sei denn seinen Pudel! Gleichwohl bin ich so thöricht, mir durch sein Achselzucken die ganze Freude verderben zu lassen. Ich fühle mich beengt, etwas wie eine trübe Ahnung lastet auf mir. … Ah! …“ Er athmete tief aus. Dann öffnete er die Gartenthür.

„Willkommen, Reinhold!“

Beim Anblick seiner Braut schwanden alle Schatten auf des Pastors Stirn. Das schöne, schlanke Mädchen kam ihm auf der Schwelle mit Licht entgegen und zog ihn freudig erregt in die warme Wohnstube. Dort stellte sie den Leuchter auf den Tisch und ergriff dann beide Hände ihres Verlobten, der indessen Hut und Ueberrock abgelegt hatte. Ihre Augen ruhten leuchtend auf der hohen Gestalt des geliebten Mannes. Sie streifte den Reif von seinem lichtbraunen Haar und brachte die feuchtgewordene Halsbinde in Ordnung.

„Die weiße Binde steht Dir gut zu Gesicht,“ sagte sie erröthend. „Du siehst heute gar schön und vornehm aus. Wenn Damen bei Tische waren, haben sie mich gewiß um meinen Bräutigam beneidet.“

[2] „Wer wird an Aeußerlichkeiten hangen!“ erwiderte er, aber im Innersten that ihm die aufrichtige Bewunderung doch überaus wohl. „Wie geht’s dem Vater?“

„Er ist sehr aufgeregt und hat wiederholt nach Dir gefragt.“

„So gehen wir hinein zu ihm.“

„Erzähle ihm nur recht ausführlich vom Diner. Er wäre gar zu gern dabei gewesen. Auch bin ich selber neugierig.“

Sie traten in’s Krankenzimmer. Günther, ein kleiner, schmächtiger Mann mit ergrautem Haar, saß aufrecht im Bett und drückte hastig die Hand seines künftigen Schwiegersohnes. „Da sind Sie ja,“ sprach er mit flüsternder, heiserer Stimme, oft vom schlimmen Husten unterbrochen. „Die Tafel hat lange gedauert. Oder kommen Sie nicht direct vom Schloß?“

„Wie sollt’ ich hier vorübergeh’n, ohne anzupochen?“

„Ein armer, kranker Mann darf nicht verlangen, daß sich die Welt um ihn bekümmere.“

„Sie sehen doch die Welt in Ihren Freunden?“

„Ich bin allen Menschen Freund.“

„Und Alle sind es Ihnen. O mein verehrter, väterlicher Freund, hätten Sie doch hören können, wie heute wieder, bei der fürstlichen Tafel, Alle von Ihnen mit Liebe und Bewunderung sprachen!“

„Man sprach von mir?“ fiel Günther hastig ein. „Was – bitte, erzählen Sie!“ … Ein heftiger Husten folgte seiner Aufregung.

Amanda legte wie zur Besänftigung der empörten Natur die Hände auf des Kranken Stirn und Brust. Auch Reinhold war liebevoll um ihn besorgt. „Sie sprachen zu viel, lieber Vater,“ sagte das Mädchen, nachdem der heftige Anfall vorüber war.

„Ist von keiner Bedeutung, meine Theueren,“ versetzte der Rendant und zwang sich zu einem Lächeln. „Ein bloßer Kitzel! Ich habe eine starke Natur, und wenn ich erst wieder gehen und arbeiten darf, bin ich in vierzehn Tagen völlig hergestellt. Währenddessen seid Ihr ein Paar geworden, und eines Morgens dann reisen wir in’s Gebirg!“

Die Blicke der Verlobten begegneten sich; sie waren thränenfeucht.

„Aber nun, mein bester Reinhold, erzählen Sie mir Weiteres von der Tafel. War auch mein College Scybylski geladen?“

„Ja.“

„Das war doch sonst nie der Fall! Aber ich ahnt’ es! Man betrachtet ihn bereit als meinen Nachfolger.“

„Niemand denkt daran.“

„Doch, doch! Aber sie irren sich. Ich werde, ich muß genesen, und dann will ich arbeiten, noch viele Jahre arbeiten!“

„Das ist ja unser Aller Wunsch und tägliches Gebet! Ueber einen Mann, wie Sie, von Allen geliebt und Allen ein Muster, hält Gott schützend seine Hand. Der Stolz meines Herzens, mich bald zu den Ihrigen zählen zu dürfen, ist keine Sünde! Wie hob er heute meine Brust, als von Aller Mund Ihr Lob ertönte, als sich zuletzt der Fürst selbst erhob, dem Gefühl der Verehrung für Sie begeisterten Ausdruck gab, und die ganze Gesellschaft jubelnd auf Ihr Wohlergehen die Gläser klirren ließ!“

Hoch auf schlug Amanda’s Herz vor Freude und Genugthuung; auch über das Antlitz des Kranken flog eine leise Röthe, dann aber sagte er mit einer abwehrenden Handbewegung:

„Gott segne den guten, hohen Herrn, aber sein Lob verdien’ ich nicht! Ihr Alle habt zu viel Nachsicht mit mir; ich bin schwach, sündig und irdischen Gebrechen unterworfen, mehr als viel Tausend Bessere in dieser Stadt. Verdienste hab’ ich nicht –“

„Ihre Bescheidenheit sagt das,“ fiel der Pastor, von der schlichten Art des Mannes hingerissen, mit großer Wärme ein. „Anders reden Ihre Vorgesetzten, der Gerichtsrath, der Kreisrichter! Sie sagen, im ganzen Königreich finde man keinen gewandteren Arbeiter und treueren Verwalter. Vor acht Tagen war Ihr Chef, der Gerichtsrath, bei uns zu Tisch. Wir sprachen natürlich von Ihnen. „„Der gehörte an einen ganz andern Posten,““ meinte der Rath. „„Nach der Hauptstadt, in’s Ministerium müßte Günther! Ich wünsch’ es ihm und wünsch’ es nicht; er verdient es, aber ich möchte ihn auch um alle Welt nicht verlieren!““ So äußern sich Ihre Vorgesetzten, und die Ihnen untergeordneten Beamten stimmen nicht minder bereit Ihr Lob an. Der Actuar Scybylski würde für Sie in’s Feuer gehen!“

„Still, still! Nichts mehr von meinen Verdiensten“ rief der Gepriesene. „Ich wollte, daß Sie mein Herz sehen könnten, Ehrwürden, wie es sich krümmt unter Ihrem Lob. Ich bin ein schwacher, sündiger Mensch!“

„Vor Gott sind wir Alle Sünder; unter uns aber sind Sie ein Augentrost und eine Leuchte der Gerechten!“

Nach einer Pause begann Günther: „Haben Sie den Doctor gesprochen?“

„Nur flüchtig,“ antwortete Reinhold verlegen.

„Glauben Sie, daß er mich morgen aus der Stube entlassen wird?“

„Wenn es Ihrer Gesundheit heilsam ist, gewiß.“

„O, wenn ich nur wieder in meinem Büreau bin! Ich werde ein tüchtiges Stück Arbeit nachzuholen haben! das wird mir besser thun, als alle Medicin!“

„Willst Du jetzt nicht ein Weilchen schlafen?“

„Liebes Kind, Du behandelst mich gerade, als ob ich auf den Tod krank wäre. Um sieben Uhr schläft doch Niemand!“

„Aber Doctor Michaelis hat Dir das viele Sprechen verboten.“

„Die Aerzte haben leicht verbieten,“ entgegnete Günther mit der den Kranken eigenthümlichen Gereiztheit. „Doch,“ fügte er hinzu, „ich will es mit dem Doctor nicht verderben, denn er muß mir morgen auszugehen erlauben. Weißt Du was, Amanda? Sing uns ein schönes Lied. Reinhold wird Nichts dagegen haben, und mir thut Dein Gesang gar sehr wohl.“

„Ich bitte darum,“ sagte der Pastor, und Amanda setzte sich an den Flügel im Nebenzimmer und sang mit angenehmer Stimme und leidlichem Vortrag:


Noch nichts von winterlicher Trauer;
Noch einmal warmen Sonnenschein
Und düftetrunkne Ahnungsschauer,
Noch einmal laßt es Frühling sein!

Die schwergebeugten Wipfel warten
Der Hand noch, die die Früchte bricht;
Die Sonnenblume kehrt im Garten
Ihr Antlitz sehnend noch zum Licht.

Noch immer hör’ ich den gewohnten
Gesang der Vögel im Geheg,
Und Schatten gaukeln wie vor Monden
Auf dem verlaßnen Waldesweg.

Und geh’ ich Nachts im Sternenscheine
An Deinem Hause still vorbei,
Regt sich die Sehnsucht, und ich meine,
Daß es noch immer Frühling sei!


Amanda’s Lied verhallte. Von mannigfachen Gefühlen bewegt, blieben die drei Menschen im Schweigen versunken. Draußen aber hatten sich die Nebel zertheilt, und ein klarer Sternenhimmel spannte sich über der Winterlandschaft aus.


2.

Von allen Gästen der fürstlichen Tafel war, außer den Besitzern selbst, nur der Arzt im Schloß zurückgeblieben. Ein früher unbewohnter Flügel war ihm daselbst eingerichtet und enthielt in zwei geräumigen, braungetäfelten Zimmern seine Bibliothek, seine Sammlungen und Instrumente. Das Schlafgemach, das hoch in einem Thurm lag, benutzte er zugleich als Sternwarte.

Einsam und freundlos, wenn nicht Bücher und Sterne und ein alter Pudel seine Freunde genannt werden dürfen, lebte er hier, denn so liebevoll er für seine Kranken sorgte, ebenso kalt und unzugänglich blieb er den Gesunden gegenüber. Wohl hatten der Fürst und die andern Bewohner der Landschaft seine Kenntnisse, wie seinen uneigennützigen Sinn erprobt, aber mehr als Achtung wünschte weder, noch erlangte dieser immer besonnene, gemessene Mann, dessen scharfer Verstand jedes wärmere Gefühl erfrieren ließ. Nach dem Tode seines Vorgängers, des fürstlichen Leibarztes, war er aus der Hauptstadt hierher berufen worden. Von seinem frühern Leben wußte Niemand zu sagen. Nur der Menschenkenner errieth aus den leisen Falten seiner Stirn und einem schwermüthigen Zug um den Mund, daß auch andere Sorgen und Aufregungen als die der Arbeit ihn hatten altern lassen. Er selbst sprach nie von sich. Sogar die gelehrten Abhandlungen, die Früchte seiner rastlosen Studien, veröffentlichte er ohne seinen Namen.

[3] Als er nach dem Diner in sein Zimmer trat, sprang ihm der Hund bellend und wedelnd entgegen, schmiegte und drückte sich an seine Beine und beleckte die Hände des Herrn, der ihm freundlich den zottigen Kopf streichelte. Dann entledigte sich Michaelis seines Fracks, zog seinen blauen, langschößigen Hausrock an und schritt, vom Pudel begleitet, ein paar Mal im Zimmer auf und nieder. „Die Herrschaft thäte auch klüger,“ sagte er halblaut zum aufblickenden vierfüßigen Begleiter „wenn sie mich ein für allemal von ihrer Tafel fern hielte. Ich begnüge mich vollkommen mit Deiner Gesellschaft. Hol’ der Geier diese Diners! Langweile während und ein verdorbener Magen nach der Tafel sind der Gewinn davon. Diese hohlen Redensarten, diese Ziererei! Die Menschen, welche in Gesellschaft kommen, reden Einer dem Andern ein, daß sie sich amüsiren, und die ganze Gesellschaft ist eine große compacte Lüge von sechs oder sieben Gängen, in Madeira, Rheinwein und Champagner eingetunkt.“

Er brannte sich eine Cigarre an, rückte seinen Lehnstuhl an’s Fenster und ließ sich verdrießlich nieder. Seine Gedanken waren noch bei der Tafel.

„Einen neuen Heiligen hätten wir nun gefunden! Johann Jakob Günther, geheimer Secretarius und Rendant Sr. Majestät. Was für Criminalblicke mir zugeschleudert wurden, weil ich in die allgemeine Litanei nicht einstimmte! Ich weiß zwar gegen den Mann nichts zu sagen, aber ich traue den Leuten nicht, welche mit aller Welt Freundschaft halten. Er lobt immer und jeden; dafür lobt nun der Herr Jeder auch ihn! Habeat sibi!

Er zog die Klingel. Ein Diener erschien mit Licht.

Der Arzt stellte die Lampe auf seinen ungestalten, von Büchern, anatomischen Karten und Manuscripten überflutheten Schreibtisch und vertiefte sich bald in das Werk eines befreundeten Gelehrten. Nichts störte die Stille des Gemachs. Der Pudel lag stumm; nur zuweilen schmiegte er liebkosend sein Haupt an die Füße seines Herrn. Im Kamin knisterte die Gluth, und das Rauschen der umgewandten Blätter zeugte vom Eifer des Lesenden.

Eben verhallte der elfte Schlag der Schloßuhr, als auf dem Korridor eilige Schritte tönten und an die Thür heftig gepocht wurde. Der einsame Junggeselle, so später Besuche als Arzt gewohnt, rief ruhig sein Herein, erstaunte aber dennoch, da Pastor Reinhold in’s Zimmer schritt. Er trat dem späten Gaste fragend entgegen.

„Entschuldigen Sie,“ sagte dieser hastig, mit zerstörtem Antlitz und unverhehlter Aufregung. „Entschuldigen Sie, Herr Doctor, wenn ich Sie aus wichtigen Studien störe. Ihre Hülfe ist dringend noth. Meinen Schwiegervater hat ein heftiger Blutsturz befallen. Eilen Sie! helfen Sie!“

„Sie melden mir nichts Unerwartetes!“ erwiderte der Arzt. „Ich habe den Fall längst vorausgesehen!“

„Wie?“ rief der Andere empört, „und Sie haben den ausgezeichneten Mann, die liebenswürdige Tochter nicht gewarnt?“

„Davon später! jetzt kommen Sie!“ Michaelis hatte bereits Hut und Mantel ergriffen, und rasch schritten beide Männer hinab in’s Freie. Während sie den Weg nach der Stadt einschlugen, begann der Arzt: „Schon vor längerer Zeit sprach ich mit Günther über sein geheimes Leiden. Ich bat ihn, einige Monate sich der Geschäfte zu enthalten, bat ihn mit der vollen Aufklärung über die schwebende Gefahr, ich selbst wollte ihm einen Urlaub vermitteln; allein er hat mich mit heftigen Worten abgewiesen. Er wollte nicht gesund werden; dem Erkrankten kann ich die Schmerzen erleichtern, ihn heilen aber, Herr Pastor, das sage ich Ihnen vorher, ihn heilen kann ich schwerlich mehr.“

Reinhold erblaßte. „So geben Sie jede Hoffnung, ihn zu retten, verloren? Und das sprechen Sie so ruhig aus? Bewegt Sie denn der Verlust eines solchen Mannes, den Alt und Jung als Ehrenmann bewundert und liebt, dessen Charakter und Wandel so rein ist, daß selbst der Neid verstummt, und kein Feind ihm unter Allen, die ihn kennen, lebt – bewegt Sie denn das Leiden und der mögliche Verlust eines so seltenen, eines so einzigen Mannes nicht?“

„Ich bin Arzt, ich sah die besten und die schlechtesten Menschen dem gleichen Gesetze unterworfen. … Eilen wir!“

Nach den letzten bestimmten Worten des Arztes fühlte sich Keiner geneigt, das Gespräch fortzusetzen, sondern Beide eilten schweigend neben einander her.

Als sie durch den kahlen, schneeverwehten Garten schritten, welcher des Rendanten Haus von der Landstraße trennte und im grünen Sommer heiter einrahmt, konnte sich der Geistliche eines Seufzers nicht enthalten. Er dachte an die schonen Juni- und Julinächte, die er hier mit Amanda, ihrem Vater und gemeinsamen Freunden verbracht hatte. War denn dieser wüste, traurige Fleck Erde derselbe, welcher vor wenig Monaten mit duftigen Blumenbeeten und dicht verschlungenen Lauben ihn gleich einem lieblichen Eden gefesselt hatten? Wie gespenstisch erschien ihm das sonst so trauliche Haus! Statt der luftigen Last tausendfach verschlungener Rebenranken trägt nun das Dach die Wucht des Schnees, welche den leichten Bau zu erdrücken droht. Und dräut nicht auch im Innern Zusammensturz und plötzliche Vernichtung schöner, reiner Verhältnisse? Die Räume, welche ehedem vom süßen Gelächter des Mädchens wiederhallten, erfüllt heute Weinen und Wehklagen. Der Tod, der schon die Mutter entriß, scheint auf’s Neue hier sein Fest feiern zu wollen.

Schon im Flur begegnen die Ankommenden ängstlichen, fragenden Gesichtern. Im Gemach, das an des Hausherrn Schlafzimmer stößt, sind außer der Tochter die Vorgesetzten des Rendanten und die angesehensten Bürger versammelt. Jedermann ist für Günther zur Hülfe bereit. Bei der Ankunft des Arztes wird es still. Was wird er verkünden? Der Kranke, jetzt von den Theilnehmenden umringt, liegt schwerathmend auf seinem Lager. Wenige Stunden haben ihn furchtbar verändert. Amanda beugt sich über ihn. Er spricht nichts. Nur seine Finger hasten fieberhaft über die Decke, und seine verglasten Blicke sind nach der Thür gerichtet, durch welche der Arzt eintritt. Dann leuchten sie neubelebt und hangen an den ruhig prüfenden Augen des Doctors, als wollten sie durch den klaren Spiegel in die Seele dringen und dort einen rettenden Gedanken erfassen. Es ist still – todtenstill! Der Arzt befühlt die Brust, zählt den Puls des Kranken, lauscht seinen Athemzügen – dann schreibt er … das Kritzeln der Feder hört auf. …

„Nur Ruhe – und es wird vorübergehen!“

Ah! – Ein tiefer Athemzug entringt sich Allen. Amanda eilt in’s Nebengemach und bricht dort in krampfhaftes Weinen aus.

Die Freunde, auch der Pastor, drücken Michaelis die Hand. Der Kranke aber sinkt aufseufzend in die Kissen zurück und fährt mit der Rechten langsam über die Stirn, als wollte er einen bösen Traum verlöschen. Die Bekannten und Freunde verlassen beruhigt das Haus. Nur Amanda’s Bräutigam und der Doctor bleiben am Krankenbette zurück.

Jetzt schließen sich die Lider des Leidenden. Der Arzt winkt Reinhold. Dieser tritt in die Wohnstube und reicht dort seiner schluchzenden Braut noch einmal die Hand. Dieser stumme Händedruck aber in diesem Augenblick ist ein Schwur heiliger Treue, der Treue, welche auch über’s Grab hin dauert! – Dann folgt der junge Mann dem Doctor.

An der Gartenthür scheiden sich ihre Wege. Noch hält Reinhold den Arzt zurück. „Hier unter dem ewigen Himmel geben Sie mir Wahrheit! Hoffen Sie?“

„Ja. Es ist Hoffnung. Ich fürchte nicht die Krankheit, aber den Kranken. Wenn Sie Gewalt über ihn haben, so bestimmen Sie ihn, ruhig zu sein!“

Damit trennen sich beide Männer. Die Nacht ist unterdeß sternhell geworden. Reinhold geht langsam in die Stadt, wo neben der Kirche im stillen Pfarrhause schon die Mutter schläft. Er aber liegt noch stundenlang auf den Knieen und sucht Trost in den heiligen Sprüchen der Bibel, während fern von ihm, hoch auf seiner Warte, der Arzt im verschlungenen Reigen der Gestirne den ewigen Gesetzen nachsinnt.


3.

Durch die Wohnstube des Pfarrhauses zieht am Morgen eine angenehme Wärme. Ein wolken- und nebelfreier, stahlblauer Winterhimmel blickt herein und verlockt den Canarienvogel im Bauer zum Gesang. Auf dem Tisch steht das Frühstück, das die greise Mutter mit ihren noch immer schönen Händen bereitet und dem Sohne darreicht. Er aber schlürft nicht mit gewohnter Behaglichkeit den braunen Trank, sondern kauert schweigsam im Lehnstuhl, nur dann und wann das blasse, überwachte Antlitz nach der Wanduhr erhebend. Seine Gedanken fliegen ihm schon voraus zur Braut, zum kranken Vater. Die Mutter, eine hohe, stattliche Greisin mit vollem, [4] weißem Haar, dunklen Brauen und stolzen Zügen, ruht auf dem Sopha und betrachtet nicht ohne Unruhe ihren Sohn.

„Theodor!“ begann sie endlich; „Du siehst recht krank aus. Du nimmst Dir das Unglück des Rendanten mehr zu Herzen, als sein eigenes Kind.“

„Mutter!“ erwiderte Reinhold vorwurfsvoll, „wie können Sie das sagen? Hätten Sie doch den Schmerz meiner Braut gestern gesehen!“

„Kann denn Amanda Schmerz empfinden? Ihre leichtlebige Natur scheint Thränen nicht zu kennen.“

„Theuerste Mutter, ich bitte, ich beschwöre Sie, mich in meiner Braut nicht so tief zu verletzen. Sie lieben nur den Ernst, aber meinen Sie nicht, daß auch die Freude in dieser Welt ihr Recht besitzt?“

„Nein – gottselige Heiterkeit hat mit dieser Freude nichts gemein! Sang und Tanz, Tanz und Sang, das ist Amanda’s einziger Wunsch. Ich will schweigen von ihrem ewigen Lachen, ihren knabenhaften Scherzen, aber das kann ich nun und nimmer verwinden, daß sie, eines geweihten Priesters Braut, auf den fürstlichen Bällen mit den Officieren und jungen Adeligen tanzt; daß sie, die Tochter eines Rendanten, sich wie einer Gräfin huldigen läßt und dem Schmeicheln eitler Gecken –“

„Sie ist in vieler Beziehung noch ein Kind,“ unterbrach Reinhold die Mutter; „die Schule des Lebens wird und auch ich werde sie zum Ernste lenken.“

„Mög’ es Dir gelingen!“ versetzte seufzend Frau Reinhold. „Sieh’, Dein und mein Vater waren Superintendenten. Unsere Familien zählen hinauf bis in die Jahre der Reformation. Als ein heiliges Erbe pflanzte sich von Sohn auf Sohn das Priesteramt. Ich messe mich mit jeder Freiin. Ist Amanda, die Tochter des weltlich gesinnten Subalternen, würdig in einen solchen Kreis zu treten? Wird sie deinen Aeltesten einst zum geweihten Priester erziehen können?“

„Liebe Mutter, die Tochter eines solchen Mannes wie des Rendanten Günther wird unserer Familie nicht zur Schmach gereichen.“

„Ja, Er ist ein Ehrenmann,“ erwiderte die Greisin. „Du kannst ihn von mir grüßen.“

„Ich danke Ihnen, theuerste Mutter,“ sagte Reinhold sich erhebend und küßte ihr die Hand. „Auf Wiedersehen!“

„Gott behüte Dich, mein Kind, zerstreue Dich nicht zu sehr!“

In diesem Augenblick ward an die Thüre gepocht, und es trat ein schmächtiger, nicht mehr ganz junger Mann herein. Es war der königliche Gerichtsschreiber Scybylski. Immer trug er einen schwarzen Frack, weiße Halsbinde, dunkle Pantalons und Winter wie Sommer leichte Zeugstiefelchen. Er stammte aus dem benachbarten Polen und führte natürlich seine Familie auf einen uralten Königsstamm zurück. Doch war er ein tüchtiger Arbeiter und nicht ohne Mutterwitz. Sein Vorgesetzter, der Rendant, war ihm das leuchtende Vorbild. Ihm zu gefallen, ihm ähnlich zu werden, erschien ihm als das schönste Ziel.

„Setzen Sie sich, lieber Scybylski,“ sagte herablassend die Greisin.

Der Pastor war nach freundlichem Gruß am Gerichtsschreiber vorüber nach seinen Zimmern gegangen.

„Sie kommen gewiß vom Rendanten?“

„Ja, Frau Superintendentin,“ erwiderte der Actuarius und erwartete vergebens eine Frage nach dem Befinden des Kranken.

„Wir hoffen das Beste,“ fuhr er nach einer Pause unaufgefordert fort. „Freilich fühlt sich mein verehrter College und Chef recht matt und angegriffen. Auch untersagte ihm Doctor Michaelis auf’s Strengste jede Aufregung und Anstrengung. Seine Geschäfte hat der Kreisgerichtsrath einstweilen mir übertragen. Gebe Gott, daß der theure Mann möglichst bald hergestellt seiner gewohnten Thätigkeit nachgehen kann. Wie gesagt, es ist Hoffnung, gegründete Hoffnung vorhanden, und dies Ihnen und Seiner Ehrwürden mitzutheilen, hat mich Fräulein Günther beauftragt.“

„Das sagt wohl nur Ihre Artigkeit. An mich hat Mamsell Günther nicht gedacht. Mir traut sie kein Interesse für die Leiden meiner Nächsten zu. Aber ich nehme Antheil, tiefen Antheil! … Trinken Sie den Kaffee weiß oder schwarz?“

Unterdessen war der Pastor nach dem Hause des Rendanten gegangen. Er wurde von der schönen Amanda heiter empfangen. „Es wird Alles gut werden,“ sagte sie. „Väterchen hatte sich in der letzten Zeit zu sehr angestrengt. Der Fürst, der uns schon in früher Morgenstunde beehrte, wird eine Reise in’s Bad ermöglichen, und Doctor Michaelis hat für diesen Fall das Beste versprochen.“

„Danken wir dem lieben Gott, daß er diese Prüfung so schnell an uns vorübergehen ließ.“

Er trat mit seiner Braut in’s Krankengemach, wo ihm Günther mit lächelndem Angesicht entgegensah. „Mir ist so wohl,“ sagte derselbe mit leiser Stimme, „mir ist so leicht! Dem Himmel sei Dank, mit dieser schlimmen Nacht habe ich mir die Genesung erkauft!“

„Sicher, verehrter Freund, wenn Sie sich Zeit und Ruhe zur Genesung gönnen.“

„Wenn ich nur wieder, am liebsten morgen wieder meinem Amte nachgehen kann!“

„Denken Sie nicht daran!“ rief Reinhold. „Sie haben sich ohnehin geopfert. Lassen Sie einstweilen jüngere Kräfte für sich arbeiten! Scybylski ist ja Ihr Schüler.“

Der Kranke richtete sich krampfhaft auf. „Nein,“ rief er, „man soll mich nicht ersetzen, auch Scybylski nicht. Ich bin ja kein Greis; ich bin kein Sterbender. Man wird mich doch eines leichten Hustens halber nicht aus dem Amte entfernen? Siebenundzwanzig Jahre hab’ ich es treu und redlich verwaltet!“

„Verehrter, Niemand spricht von Entfernung. Im Gegentheil, der heiße Wunsch Aller ist es, Sie sobald als möglich thätig zu sehen. Darum aber müssen Sie jetzt um so mehr geschont werden.“

„Ich will, ich brauche keine Schonung,“ warf Jener heftig ein. „Weder Scybylski, noch ein Anderer kennt die Pflichten meines Amtes. Ich muß, muß sogleich auf das Gericht, ich bin nicht mehr krank. Nur Unthätigkeit wird mich krank, mich sterben machen!“

Er erhob sich und wollte das Lager verlassen, aber der Anstrengung seiner schwachen Glieder folgte sofort ein krampfhafter Husten. Erblassend bemühten sich die Verlobten, ihn zu beschwichtigen.

„Ich will nicht – ich will nicht – laßt mich gehen – ich muß – muß – –“ zuckten seine Lippen. Dann sank er zurück in die Kissen.

(Fortsetzung folgt.)



Zwei Dichter und ein Dichterasyl.


Von Ludwig Storch.


Das erste Viertel dieses Jahres, das voraussichtlich in Bezug auf den Fortschritt der politischen Entwicklung Deutschlands eine wichtige Stellung in der Weltgeschichte einnehmen wird, bringt uns die hundertjährige Geburtstagsfeier zweier sehr bedeutenden Dichter und Menschen, die auf diese Entwicklung und die Zeitigung des deutschen Volks zur Einheit und Erstrebung der ihm gebührenden Stelle im europäischen Concert einen mehr oder minder großen Einfluß ausgeübt haben. Sie waren beide nicht nur hochbegabte, sondern auch patriotisch treue und hochbegeisterte Verkünder des Völkerfrühlings, scharfe Tadler der obsoleten, faulenden öffentlichen Zustände unseres von ihnen so heiß geliebten Vaterlandes, Propheten und Deuter einer schönern Zukunft, Herolde der Freiheit und Sittlichkeit und Weltverbesserer im reinsten edelsten Sinne des Wortes. Der Eine die scharfschmetternde Lerche, der Andere die berauschende flötende Nachtigall, beide uns hochheilige Sänger, beide herrliche deutsche Männer durch und durch vom Wirbel des Haupthaars bis zur Fußsohle hinab; beide edle Gestalten, an deren Bildern – das eine aus deutschem Granit, das andere aus deutschem Marmor gehauen – unser Blick mit ehrfurchtsvollem Entzücken hängt, und die unser Herz mit dankbaren Gefühlen preist; denn beiden gebührt das beneidenswerthe Verdienst, rüstige Arbeiter im Weinberge der deutschen Bildung gewesen zu sein und ihr Volk

[5]

Jean Paul auf dem Wege nach der Rollwenzelei.
Originalgemälde von Th. v. Oer.

aus dem elenden Zustande eines apathischen Sclaventhums mit emporgehoben und ihm Teilnahme an den öffentlichen Zuständen und Begeisterung für die freiheitliche Emporbildung des deutschen Lebens eingehaucht zu haben. Der Eine mit der Hacke als kräftiger Häcker, der die Erde um den Weinstock lockerte und mit scharfer Winzerhippe die geilen Ranken verschnitt; der Andere als wunderthätiger Magnus, der üppige Trauben hervorzauberte und farbenprangende narkotisch duftende Blumen zwischen Weinstöcken [6] wachsen und an ihnen empor sich ranken machte, Alles mit Regen und mit Thau begießend, in deren Tropfen er die Welt sich farbenprächtig wiederspiegeln ließ, und der dann wieder das Winzerhäuschen zu einem süßen Nestchen umschuf, einem heitern Tempelchen der Unschuld und Kinderfreude, aus dem hervor er zu Aller Ergötzen sein schelmisches Lachen über die Thorheiten und Verkehrtheiten der Menschen hervorschallen ließ.

Der verehrte Leser weiß nun schon, welch ein seltnes Dichter- und Männerpaar ich meine; es ist Johann Gottfried Seume und Johann Paulus Friedrich Richter, mit seinem Schriftstellernamen Jean Paul genannt. Der Erstere wurde am 29. Januar, der Andere am 21. März 1763 geboren, jener im Dörfchen Posern bei Weißenfels im Meißnerland, als der Sohn eines jungen Landbauers; dieser im Städtchen Wunsiedel im Fichtelgebirge in der Brandenburger Markgrafschaft Bayreuth, als der Sohn eines jungen Unterpredigers (Tertius). Wie sie beide in ihren äußern Lebensverhältnissen viel Aehnlichkeit mit einander haben, so auch in ihrer geistigen Anschauung und in ihrem Charakter. In ihrer dichterischen Schöpferkraft sind sie dagegen sehr verschieden und fast Gegensätze. Sie sind beide Kinder des Volks und der Armuth, beider Eltern verarmten, beide wuchsen unter Landleuten auf, beide verloren ihre wackern Väter frühzeitig; beide hingen mit rührender Liebe an ihren Müttern; beide studirten mit wohlthätiger Unterstützung Theologie in Leipzig, und in den Jahren 1780 und 1781 mögen sie wohl in denselben Hörsälen zusammengesessen haben; beide wurden der Theologie aus demselben Grunde ungetreu, weil ihre Ueberzeugungen sich in immer schärfern Widerspruch mit dem Kirchenglauben setzten; beide wurden Schriftsteller ohne Amt oder ausgezeichnete Lebensstellung, und beide blieben arm bis an ihren Tod.

Aber noch größer ist die Aehnlichkeit ihrer hehren Gesinnung und ihrer daraus entsprungenen Handlungsweise; man darf sagen: in beiden kam die edelste Humanität und das specifische Deutschthum, d. h. die schönste Verschmelzung von Geist und Gemüth, zur reinsten herrlichsten Blüthe. Und so waren sie beide die edelsten Schwärmer für Deutschlands Ehre und Größe, und deshalb huldigten sie mit Wort und That allen Tugenden, glühten für Wahrheit und Recht, für Vernunft, Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz, aber sie haßten eben so stark und heiß allen Despotismus, alles Junkerthum, alles Pfaffenthum, alles Privilegium, alle Selbstsucht und Heuchelei, alle Verdummung und Verknechtung des Volks, alle Faulheit und Niedertracht, alle sittliche Verkommenheit und Verworfenheit in allen Schichten der Gesellschaft, mit einem Worte: sie liebten alles Gute und Rechte und sie haßten alles Böse und Schlechte, und sie priesen jenes und geißelten dieses jeder nach seiner Kraft und Begabung.

Beide sind Edelsteine vom reinsten Wasser, der Eine ein werthvoller Amethyst, der Andere ein unschätzbarer Diamant, beide geschliffen auf den Schleifsteinen der Wissenschaft, vorzüglich auf denen des Hellenismus, der Eine in klaren ruhigen Flächen, der Andere in tausend blitzenden Facetten.

Was Seume in klaren Worten einfach sagte, angetrieben von hoher heiliger Liebe zur Menschheit oder vom edlen Zorn über Mißbrauch, Schmach und Verderbtheit der höchsten Güter, das führt Richter im prächtig glühenden Farben- und Formenschmuck stets wechselnder wunderbarer Bilder an uns vorüber. Der Eine hält uns den einfachen klaren Spiegel entgegen, welcher unser Bild getreu zurückwirft, der Andere den mit Guirlanden und Arabesken umrahmten Hohl- und Zauberspiegel phantastischer Poesie, der den Bildern der Dinge eine seltsame Form und Färbung giebt. Beiden wurde das Glück zu Theil, schon bei ihren Lebzeiten geliebt, geschätzt, verehrt und gefeiert zu werden. Seume hatte eine Menge Freunde, Richter eine Unmasse Verehrer; Seume, der warmfühlende finstere Mann, wurde mehr geliebt, Richter, das lachende, scherzende Kind, mehr verehrt, gefeiert, ja vergöttert.

Und auch darin hatten diese beiden Dichter und Altersgenossen Aehnlichkeit mit einander, daß sie in den höchsten Kreisen der Gesellschaft persönliche Verehrer und Begünstiger zählten, ja sogar dieselben fürstlichen Persönlichkeiten waren beiden wohlwollend gesinnt, wie z. B. die russische Kaiserfamilie, die Herzogin Anna Amalia von Weimar etc. Dieser Umstand nimmt uns heutigen Tags um so mehr Wunder, als beide, wären sie, wie Uhland, erst vor Kurzem gestorben, gleich diesem und mit Recht Demokraten vom reinsten Wasser genannt worden sein würden. Denn in der That und Wahrheit haben sie sich eben so entschieden demokratisch ausgesprochen, als der jüngst abgeschiedene große Dichter und deutsche Mann. Aber so wenig Uhland bei unsern Fürstlichkeiten beliebt war, so wenig würden es heute Richter und Seume sein; wiewohl wiederholt darauf aufmerksam gemacht werden muß, daß Richter’s herrliche Erzstatue in Bayreuth ganz allein auf Kosten des Königs Ludwig von Baiern errichtet worden ist, nachdem vergebens versucht worden war, das Geld dafür vom deutschen Volke zusammenzubringen.

Und um die Aehnlichkeit beider trefflichen Männer gleichsam vollständig zu machen, theilten sie beide, die in der ganzen civilisirten Welt so hoch Geehrten und hoch Gefeierten, die Neigung, den stillen gemüthlichen Zug zu den einfachen natürlichen Menschen der untersten Gesellschaftsclassen, zum Volke, und wenn Seume länger gelebt hätte, würde er zweifelsohne sich ein Asyl unter Leuten gegründet haben, wie die gewesen, denen er entsprungen war, und wie Richter auf eine seiner poetischen Eigenthümlichkeit angemessene originelle Weise es sich wirklich gründete.

Dafür bürgt uns Seume’s ganzes Wesen, das sich so unverkennbar treu und wahr in seinen Schriften ausgeprägt hat, dafür ganz besonders das Fragment seiner Autobiographie, in welcher er seine Eltern und seinen väterlichen Urgroßvater mit wenigen, aber köstlichen Strichen gezeichnet hat. Fast alle hochbegabten Geister, die aus den gesunden naturwüchsigen Elementen des deutschen Volksthums hervorgegangen sind, haben, nachdem sie sich mit mehr oder minder Lust und Geschick in den hohen und höchsten Kreisen bewegt, sich endlich wieder gedrungen gefühlt, sich an der Einfachheit des Volkslebens zu betheiligen und im Umgange mit dem „gemeinen Manne“ Erholung und Freude zu suchen und zu finden. Es ist das gleichsam die Probe auf das Exempel einer edlen gesinnungstüchtigen Natur.

Es ist bekannt, wie glücklich Richter verheiratet war. Seine Gattin war eine der Edelsten und Trefflichsten ihres Geschlechts und fast eben so einzig in ihrer Art, wie er in der seinigen. Gerade weil sie in allen menschlichen Beziehungen, vorzüglich aber als Gattin und Mutter, so echt rein und wahr weiblich war, ist stets so wenig von ihr die Rede gewesen, aber man muß nur in Bayreuth oder München nach ihr fragen, und Jedermann wird sich beeilen, ihr die ungetheilteste Anerkennung, das ungemessenste Lob zu spenden.

Aber auffallender Weise tritt auf der Tafel der Geschichte, wie sie die Hand des Volks zu schreiben pflegt, in dem unsern Richter abhandelnden Kapitel die Freundin des Dichters, die Frau aus dem Volke, weit schärfer und charakteristischer gezeichnet hervor, als die hochbegabte und hochedle Gattin desselben. Dies liegt an dem eigenthümlichen und ungewöhnlichen Verhältnisse, in welchem Richter zu Frau Rollwenzel stand. So genau ich mich in Bayreuth während meines einjährigen Aufenthaltes dort bei Leuten aus allen Ständen, die den Dichter und Frau Rollwenzel noch sehr gut persönlich gekannt hatten, nach diesem Verhältniß erkundigt habe, alle stimmten in dem Urtheile überein, daß von einer gewöhnlichen geschlechtlichen Accommodation durchaus keine Rede sein könne. Frau Rollwenzel war dem Dichter die Repräsentantin des deutschen Volks, die vox populi, und er erfrischte sich geistig und körperlich in dem ihm in beiden Beziehungen zum Bedürfniß gewordenen täglichen Umgange mit ihr. Denn sie war in der That ebenso in idealer wie in materieller Beziehung sein „Feldgehülfe“. Während ihre naiven treffenden Ansichten und Urtheile ihn geistig und seelisch anmutheten, gab ihre Kochkunst ihm die erwünschte leibliche Stärkung. Und daß Richter in beiden Beziehungen eben nicht leicht zu befriedigen sein mochte, ergiebt sich aus seinem geistigen Wesen, wie es uns in seinen Werken entgegentritt, und aus dem Umstande, daß er an fürstlichen und andern vornehmen Tafeln verwöhnt war, von selbst.

Ich habe das Verhältniß des hochbegeisteten Dichterfürsten und der einfachen Schankwirthin, wie ich es in Bayreuth aus dem Munde des Volks erfuhr, in Nr. 36 des vierten Jahrgangs der Gartenlaube bereits dargestellt und dort das Brustbild der Frau Rollwenzel nach dem Miniaturbilde, welches in der Jean-Paul-Stube des nach ihr benannten Wirtshauses bei Bayreuth hängt, in Holzdruck wiedergegeben. Für Leser, welchen jener Jahrgang nicht zur Hand ist, will ich das dort Gesagte kürzer wiederholen.

[7] Als Richter im 41. Lebensjahre mit seiner jungen Familie festen Wohnsitz in Bayreuth genommen, fand er bald in dem kleinen Wirthshause am Fuße der Anhöhe, welche das fürstliche Lustschloß Eremitage krönt, nicht nur ein Local, sondern auch Menschen, die ganz seinen Wünschen und Bedürfnissen angemessen waren. In einer kleinen, abgelegenen Stube des Hinterhauses bot sich ihm die ungemein reizende Aussicht auf eine idyllische Landschaft, im Hintergrunde begrenzt von den in majestätischen Wellenlinien aufsteigenden Bergen des Fichtelgebirgs. Dies war das Stück Erde, welches ihm durch die süßen Erinnerungen seiner Jugend so heilig und so theuer war. Die kleine, ärmliche Schenke wurde ihm deshalb werth, noch werther durch das aufgeweckte, gewandte, witzige und gefällige Wesen der schon 48 Jahre alten Wirthin, die dem geistreichen Gaste bald all seine Lieblingsneigungen abgelauscht hatte und sich beeilte, sie mit Anstand, Achtsamkeit und Sorgfalt auszuführen. Bald waren es nicht allein die guten Speisen und Getränke der Frau Dorothea Rollwenzel und die Aussicht aus der Hinterstube, die ihn in das kleine Haus zogen, er entdeckte in der Wirthsfrau geistige Schätze seltner Art, scharfen Verstand, Humor und tiefes Gemüth. Der Wirth, Friedrich Rollwenzel, war nicht minder eine ehrenwerthe Persönlichkeit und theilte mit seiner Frau die hohe Verehrung des ausgezeichneten Gastes. Richter lebte sich so allmählich in das Haus und die Wirthsleute hinein, daß er sich in der Hinterstube sein gemüthliches Nestchen einrichtete, eine Neigung, die seinem hohen Genius ganz vorzüglich eigen war. Frau Rollwenzel verstand den Flügelschlag desselben so gut und war eine so klare, scharfe und witzige Beurtheilerin seiner geistigen und seelischen Eigenthümlichkeit, daß er sich bald überzeugte, welch ein richtiges Verständniß ihm in ihr entgegen komme. Er las ihr also nicht selten die Erzeugnisse seines Geistes vor, die seine Feder in der Hinterstube auf das Papier geworfen, er liebte es auch, mit ihr in der ihm eigenthümlichen Weise, von der seine persönlichen Freunde mit Bewunderung sprechen, über geistige Interessen zu disputiren. Frau Rollwenzel füllte also den Kreis seiner Bedürfnisse aus, indem sie ihn ebenso durch Witz und Genialität, wie mit delicatem Kaffee, köstlichem Bier, schmackhaftem Braten und feinem Kuchen ergötzte.

So wurde denn in kurzer Zeit die trauliche Hinterstube zur Schöpferwerkstatt des Dichterheros, und fast alle seine späteren Werke sind in ihr entstanden. Denn fast volle zwanzig Jahre ist er, in der schönen Jahreszeit, schier täglich und zwar schon in der frischen Morgenfrühe von der Stadt durch die prächtige Linden- und Kastanienallee hinauf nach dem kleinen Wirthshause gewandert, um sich dort ungestört in süßer Behäbigkeit den erhabenen Schöpfungen seines Geistes hinzugeben und in den Pausen mit Frau Dorothea zu plaudern oder ihre Erzeugnisse zu genießen. Es leben immer noch Leute, welchen die untersetzte, kräftig gebaute Gestalt des Dichterfürsten erinnerlich ist, wie er in schlichter, meist vernachlässigter Kleidung mit offener Brust, freiem Haar, einem Knotenstock und den Ranzen voll Bücher und Manuscripte rüstig die Anhöhe emporschritt. Den Wein, welcher ihm während der Arbeit Bedürfniß war, nahm er sich aus seinem eigenen wohl versorgten Keller jedesmal mit, und man sah die Hälse der Flaschen freundlich aus seinen Taschen herauslugen. Sein treuer Begleiter war stets sein Spitz, den er ebenso wie Frau Rollwenzel in mehreren seiner Dichtungen verherrlicht hat.

Der Maler unserer heutigen trefflichen Illustration hat den Moment aufgefaßt, wo der Dichter eben am Rollwenzelhäuschen ankommt, von Wirth und Wirthin freundlich begrüßt. Der Hund ist ihm vorausgeeilt und tauscht mit Frau Rollwenzel Liebkosungen aus.

Nicht selten begleitete den Dichter sein treuer trefflicher Freund Christian Otto in das kleine Wirthshaus und arbeitete in einem andern Stübchen. Abends holte dann wohl Richter’s Familie den geliebten Mann ab.

Aber auch zum Mittelpunkt seiner oft weit ausgedehnten Spaziergänge diente ihm das Häuschen. Von hier durchstreifte er Berg und Thal, Wald und Flur der lieblichen Gegend, oft ohne Hut und in einem Anzuge, der freilich den vergötterten Liebling der deutschen Intelligenz und vorzüglich der gebildeten Frauenwelt nicht vermuthen ließ. Pflegte er sich doch oft auf den grünen Rasen unter einem Baume oder im Saatfeld niederzuwerfen und sich so dem gewaltigen Strome seiner Gedanken und Gefühle zu überlassen. Wie sich seine Kleider dabei standen, kümmerte ihn ganz und gar nicht. So geschah es denn, daß er eines schönen Tages mitten im Felde von einem Gensd’arm, der ihn nicht kannte, als Vagabund und Stromer arretirt und nach der Stadt zu geführt wurde. Zufällig begegnet dem sonderbaren Menschenpaar der Gouverneur der Stadt im Wagen. Der begrüßt den Dichter ehrerbietigst und läßt halten, um sich nach dem seltsamen Auszug zu erkundigen.

„Ich freue mich sehr, der Arrestant dieses vorsichtigen Herrn zu sein,“ versetzt Richter äußerst vergnügt, „und werde in’s Loch gesteckt werden. Weiß ich doch nun auch, wie’s einem armen Teufel zu Muthe ist, der mir nichts dir nichts aufgegriffen, transportirt und frei logirt und beköstigt wird, Alles gegen seinen ausdrücklichen Willen. Besuchen Sie mich im Loche.“

Dem Gensd’armen wird’s angst, er stottert Entschuldigungen und will ausreißen. Aber Richter hält ihn fest und drückt ihm einen Thaler in die Hand. „Nehmen Sie wenigstens erst eine kleine Erkenntlichkeit für das Vergnügen, das Sie mir bereitet haben.“ –

Eines schönen Sommertags des Jahres 1816 fährt eine prächtige Equipage vor dem Rollwenzelhause vor; ein Cavalier und galonnirte Diener fragen hastig nach Herrn Legationsrath Richter. Der Dichter erscheint heute besonders derangirt und hört etwas bestürzt, daß Ihre kaiserliche Hoheit die Großfürstin Katharina Paulowna von Rußland im Gasthause zur Sonne in Bayreuth auf ihn warte und ihm ihren Wagen schicke. Richter remonstrirt, daß er erst heim müsse, um sich in anständige Kleidung zu werfen; vergebens, der Cavalier der Großfürstin erklärt auf das Bestimmteste: er habe den gemessenen Befehl, Herrn Richter zu bringen, wie er ihn fände; Ihre kaiserliche Hoheit habe große Eile. Kein Weigern hilft, der Dichter wird in seinem alten Gottfried in den Wagen gepackt und in der Sonne abgeliefert.

Es war die liebenswürdige, geniale junge Wittwe des Prinzen Peter von Holstein-Oldenbnrg, die als Braut des Kronprinzen Wilhelm von Würtemberg, des jetzigen hochbetagten Königs, auf der Brautreise nach Stuttgart begriffen ist. Kaum in Bayreuth angekommen, sieht sie in ihrem Vorzimmer die obersten Behörden der Stadt versammelt, um sie im Namen des Königs von Baiern ehrfurchtsvoll zu begrüßen. Sie hört die Anmeldung der adligen Herren nur mit halbem Ohr.

„Ist Herr Richter da? Herr Richter soll kommen, Niemand als Herr Richter.“

Man fragt, man läuft. Herr Richter ist bei Frau Rollwenzel. Die Großfürstin giebt schnelle Befehle, der Wagen rollt fort, sie mißt mit fieberhafter Ungeduld das Zimmer und vergißt die Herren ganz, die draußen in steifer Haltung des gnädigen Wortes der Zulassung harren.

Endlich! Der Dichter wird in seinem malpropren Ajustement durch die Reihen der erstaunten geputzten Herren geführt; die Fürstin reißt die Thür auf, stürmt ihm entgegen, umarmt ihn, weint vor Rührung und Wonne an seinem Halse und ruft: „Göttlichster aller Menschen, Schöpfer meiner seligsten Stunden, willkommen! willkommen!“

Sie zieht ihn in’s Zimmer und auf das Sopha und plaudert mit ihm; sie sieht nicht seinen Rock, nicht sein unrasirtes Kinn; sie sieht nur seinen herrlichen Kopf, sein schönes, tiefes, wonnestrahlendes Auge, sie hört nur den Wohlkang seiner Stimme, seine geistreichen gemüthlichen Worte; sie ist selig versunken in sein Anschauen und Anhören, und sie erzählt dem glücklichen Dichter von all den hohen Freuden, die er ihr geschenkt.

Die Stunden fliegen; der Kammerherr mahnt an den unerläßlichen Aufbruch. Die Großfürstin nimmt endlich des Dichters Arm und schreitet mit ihm durch die wartenden, adeligen Herren, ihren respektvollen Gruß freundlich erwidernd; sie steigt in den Wagen, sie wirft ihm noch Grüße und Dankesworte zu.

Wie freute sich Frau Rollwenzel, als er ihr dieses freundliche Erlebniß erzählte! Denn die alte Schankwirthin nahm an Allem, was den Dichter anging, den lebhaftesten Antheil. Sie gehörte ja zu ihm; sie war der Mond, der, von dieser prächtigen Geistessonne angestrahlt, das Licht empfing, das ihr nun für alle Zeiten bleiben wird. Denn das ist der wunderbare Segen des unsterblichen [8] Genius, daß er den Menschen und den Dingen, die mit ihm in längerer Berührung sind, den leuchtenden Stempel seines Wesens für alle Zeit aufprägt, daß er gleichsam Alles in seiner Nähe mit dem Goldglanze seiner Sonnenstrahlen überkleidet.

So hat Jean Paul Richter der Frau Dorothea Rollwenzel und ihrem kleinen Hause die Unsterblichkeit gesichert.

In den spätern Jahren ging der Dichter gewöhnlich nur noch Nachmittags zur Rollwenzel und nur einige Male in der Woche. Wenn ihn Krankheit an seine Stadtwohnung fesselte, und in der letzten trüben Zeit, als sein Augenlicht erloschen war, kam auf seinen Wunsch die kleine alte Frau zu ihm, und es gereichte ihm zur Befriedigung, sich mit ihr in der alten muntern Weise unterhalten zu können. Sie überlebte ihn vier und ein halbes Jahr und starb 74 Jahre alt, am 22. April 1830. –

Das kleine Haus, auch jetzt noch eine häufig besuchte Schenke, ziert eine dunkle Marmortafel mit der vergoldeten Inschrift: „Rollwenzel’s Haus. Hier dichtete Jean Paul.“ Im Volksmunde heißt das Haus aber „die Rollwenzel“ oder „die Rollwenzelei“. Die Jean-Paul-Stube, jahraus, jahrein von vielen Verehrern des Dichters aus allen Landen besucht, ist so erhalten, wie er sie verlassen hat, und man bewundert mit Rührung den einfachen, genügsamen Sinn des unsterblichen Dichterfürsten. Man findet seine Büste und sein Bild in der Stube, darunter das kleine Bild der Frau, deren Namen mit dem seinigen so merkwürdig verbunden ist. Ein Album nimmt die Namen der Besucher auf. Daneben liegt eine Handschrift des Dichters nebst einigen Büchern von ihm und über ihn.

Voraussichtlich werden das Rollwenzelhaus und die Jean-Paul-Stube darin Orte angemessener Feierlichkeiten am hundertjährigen Geburtstag des Dichters und die Erinnerungen an ihn und seine Freundin aus dem Volke lebendig aufgefrischt werden. Die Wallfahrt nach diesen durch den großen Mann geheiligten Localitäten werden bis in die spätesten Zeiten fortdauern, und an Frau Rollwenzel wird Schiller’s schöner Spruch in Erfüllung gehen:

„Mit dem Philister stirbt auch sein Ruhm. Du ewige Muse
Hebst, die dich lieben, die du liebst, in Mnemosyne’s Schooß.“



Des Freiherrn von Trenck letzte Stunden.
Nach den Acten des „Droit public“ und archivarischen Mittheilungen.


Die Trommeln der Nationalgarde rasselten vor dem Gefängnisse St. Lazare zu Paris. Eine große Menge Volks harrte vor den Pforten der unheimlichen Wohnung, um die Angeklagten zum Verhöre abführen zu sehen; ja, obgleich die Blutmenschen der Schreckenszeit bereits so an Hinrichtungen gewöhnt waren, daß ein Wagen voll Schlachtopfer der Guillotine kaum noch die Aufmerksamkeit erregte, so herrschte doch heute eine ungewöhnliche Bewegung unter den Massen. Die scheußlichen Weiber, die Pikenmänner, die Patrioten in der phrygischen Mütze und schmutzigen Carmagnole mit den Labots an den Füßen, die entarteten Kinder, deren Jugend unter Anschauung der Blutscenen verfloß, diese Alle wogten und kreischten, heulten und zeterten durcheinander am 7. Thermidor des Jahres II. der französischen Republik (9. Juli 1794). Vor den Thoren von St. Lazare, dessen verfluchte Mauern so viel Elend und Seufzer, so viel Verwünschungen und Angst bargen, als ehedem die der zerstörten Bastille, war ein von Pikenmännern gebildetes Spalier errichtet. Durch dasselbe schritt der öffentliche Ausrufer. Eine braune Carmagnole hängt um seine Schultern, die rothe Mütze bedeckt sein struppiges Haar, ein starrer Bart umgiebt das Kinn, seine Beine stecken in roth und weiß gestreiften Schifferhosen, seine Füße in plumpen, mit dicken Nägeln beschlagenen Schuhen. Er trägt einen Gürtel mit kurzen Stacheln besetzt; – die Schlachtopfer könnten ja Hand an ihn legen! In diesem Gürtel stecken zwei Pistolen, deren Hähne gespannt sind; – die Verurtheilten könnten in der Verzweiflung den Ausrufer, das Werkzeug der Peiniger, für den Ausspruch des Convents züchtigen wollen. In der Hand hält der Mann ein Papier; auf demselben sind die Namen der Gefangenen verzeichnet, die heute verhört werden sollen, was 1794 im Juli noch so viel hieß: „Ihr sollt die Stunde erfahren, in der ihr den Kopf unter die Guillotine legen müßt.“ Hinter dem Ausrufer schreiten zwei Pikenmänner von der Section der Lombarden. Ueber einen Hof, dann durch einen von bewaffneten, spielenden, rauchenden und trinkenden Wachen besetzten Corridor schreitend, gelangen die drei Männer zu einer großen Thür. Verworrene Stimmen tönen hinter derselben. Endlich wird sie geöffnet, ein halbfinsterer Raum von großer Ausdehnung zeigt sich.

In dem Halbdunkel dieses Raumes gewahrt man eine Menge Gestalten. Es sind die Gefangenen des Convents; jedes Alter und Geschlecht, jeder Stand, jede Vermögensstufe ist vertreten; die Guillotine verschmähte keine Kost – sie fraß ohne besondere Auswahl. Als die Thür geöffnet wurde, ertönte ein ängstlicher Schrei aus vielen Kehlen kommend, dazwischen einzelne Rufe: „Nun ist’s aus!“ – „Jetzt!“ – „Adieu!“ etc. Aus allen Winkeln liefen die Gefangenen zusammen; ihre Augen hafteten auf dem öffentlichen Ausrufer und seinem verhängnißvollen Papiere. Wer wird hinausgeschleppt zum Fallbeil? Wem bringt der breite Mund des Schergen die endliche Gewißheit des Schicksals? Angstvolles Zucken in den Gesichtszügen der Einen – stumpfe Gleichgültigkeit bei den Andern. Der Ausrufer räuspert sich, überblickt die Menge und liest dann mit lauter Stimme. „André Chenier, Literat.“ Ein junger Mann von 22 Jahren trat aus der Menge. „Hier bin ich!“ rief er mit fester Stimme. „Hinter die Barre!“ rief der Ausrufer. Chenier trat hinter einen gitterartigen Verschlag, in welchem die Bezeichneten stehen mußten, bis der Zug sich in Bewegung setzte, der sie ihren Richtern überlieferte. „Alexander Boucher. Excapitain der exköniglichen Marine,“ fuhr der Rufer fort. „Ich bin es!“ antwortete eine sonore Stimme, die einem Manne von 36–37 Jahren angehörte, der mit festem Schritte in die Barre trat. „Charles de Bart, Exofficier der Dragoner,“ tönte es wieder. „Ha! ha! habt Ihr mich endlich?“ lachte es aus dem Haufen, und mit den Worten „Platz da!“ stellte sich ein wunderschöner Mann, dessen aristokratisches Aeußere selbst der Schmutz und das Grauen des Kerkers nicht hatten verwischen können, vor den Ausrufer hin. „Hinter die Barre!“ donnerte die Stimme des Ausrufers. „Wie können Sie es wagen, einem Patrioten in’s Gesicht zu sehen?“ De Bart summte einen Chanson und tänzelte hinter die Barre. „Friedrich, Exbaron von Trenck, früher Officier.“

Von dem Schemel, auf dem sie bisher gesessen, erhob sich die gewaltige, hagere Gestalt des Geforderten. Gleichgültig hatte er bis zur Nennung seines Namens das Schauspiel betrachtet, mit wehmüthigem Lächeln die Gestalten der schönen Frauen und Mädchen, der kräftigen jungen Männer angeblickt, die hier neben dem Greise und der Matrone in dem scheußlichen Kerker zusammengepfercht zitternd oder ergeben ihren Namen erwarteten. Ein verächtliches Zucken spielte um seine Lippen, wenn er zuweilen vor und hinter sich ein zaghaftes Schluchzen, einen leisen Schrei der Angst vernahm. Die Beine lang von sich gestreckt, die Hände in den Taschen seiner kurzen Hosen, so hatte der Baron von Trenck die Nacht vom 6. zum 7. Thermidor in dem Gefängnisse St. Lazare zugebracht. – Trenck hatte schlechtere Lagerstellen kennen gelernt. – Er war es, der Maulwurf von Magdeburg, der Abenteurer, der Liebling der Damen, der muthige Soldat, der Spötter seiner Wächter, dem keine Mauer undurchdringlich, keine Fessel zu dicht, kein Graben zu tief gewesen. Sein ganzes Verlangen war von Jugend auf nach ungebundener, zügelloser Freiheit gegangen; dieser Drang führte ihn in die Kerker, dieses Verachten aller Ketten und Mauern machte ihn fähig, sie zu durchbrechen, mit beispielloser Ausdauer rüstete ihn jenes Verlangen nach Luft und Licht, wenn er sich durch die Erde wühlte mit den erbärmlichsten Werkzeugen, und als er endlich eine ruhige Stätte finden sollte, ließ seine unzähmbare Natur ihm dennoch keine Ruhe, sie führte ihn nach Frankreich – in den Kerker von St. Lazare. Der Jüngling, der Mann hatte gezeigt, daß es für seine Kraft keine Bande gebe – der Greis mußte sich beugen unter der Wucht des Geschickes. Furchtbares Verhängniß! Trenck scheint von der Vorsehung bestimmt gewesen zu sein, die düstere Laufbahn des Kerkerlebens [9] zu durchwandeln bis das Beil ihn befreite. Schrecklicher Contrast! Die glanzvollen Säle der Hofhaltungen Berlins, Petersburgs, Wiens! – im Besitze der zärtlichen Zuneigung einer hohen, edlen Dame, gesucht von vielen anderen Schönen, strahlend in der glanzvollen Uniform der fürstlichen Krieger, frei nach tausend überstandenen Gefahren, und nun – – die zähneklappernde oder verzweifelte, resignirte oder freche Gesellschaft der Todescandidaten des Nationalconvents, das dumpfe, unheimliche Gewölbe als Wohnung, die fadenscheinige, besudelte Kleidung und der wurmstichige Schemel – im Gefängnisse von St. Lazare! –

Trenck’s Schicksale, in Deutschland so populär geworden, waren auch in Frankreich bekannt. Zu jener Zeit, die ebenso reich an großen und bedeutenden, als scheußlichen und entwürdigenden Ereignissen war, fanden Männer wie Trenck in allen Kreisen der Gesellschaft Theilnahme. Man fragte nicht, ob sein Leben frei von jedem Vorwurfe sei, ob er sein Schicksal verdient oder verschuldet habe (und Letzteres war großentheils der Fall); es genügte, daß es schrecklich genug gewesen, um den Greis, dessen Silberhaare man mit Achtung betrachtete, in Frankreich freundlich aufzunehmen. Aber er war Robespierre entgegengetreten, und das erforderte, ihn unter Anklage „der versuchten Wiederherstellung des Königthums und der Aufwieglung der Gefangenen von St. Lazare“, im Verein mit noch 29 Unglücksgefährten, zu stellen. Robespierre ging mit furchtbarer Entschiedenheit vorwärts. Ihm genügte die Anzahl der Opfer nicht mehr. Es mußten unter denselben auch Leute von Ruf sein. Was nur irgend von Bedeutung in Paris aufzufinden war, das suchte man unter die Guillotine zu bringen. Trenck erfreute sich, wie gesagt, einer großen Beliebtheit in den Stadttheilen, welche er gewöhnlich besuchte. Die Männer von Ruf fingen an, selten in Paris zu werden. Er mußte fallen.

Friedrich von Trenck.

Noch 29 Namen rief der Ausrufer. Dann steckte er seine Liste in die Brusttasche, nahm eine ungeheuere Prise, zog eine Glocke, deren Strang an der Seite des Gefängnißeinganges herabhing, und verließ die Halle.

Wenige Minuten später öffnete sich wieder die Thüre; auf dem Corridor gewahrte man eine doppelte Reihe von Nationalgardisten aufgestellt. Die bezeichneten Gefangenen traten aus der Barre und zwischen die Soldaten, das Commando „Marsch“ ertönte, und die Gefängnißthür schloß sich vor den Zurückbleibenden. Sie sollten ihre Unglücksgefährten nicht wiedersehen. –

Trenck hatte durch keine Miene irgend eine Bewegung geäußert. Als aber der Ausrufer die Halle verlassen hatte, als die Geforderten Abschied von ihren Freunden, Verwandten nahmen, die unter dem Haufen der Zurückbleibenden sich befanden, als Thränen und Seufzer auf’s Neue sich zeigten und hundert zitternde Hände sich nach der Barre ausstreckten, die zwischen dem Gitter hervorkommenden Hände noch einmal zu drücken, da winkte Trenck einem feinen jungen Manne, der gedankenvoll an einem Pfeiler der Halle lehnte.

„Mein lieber Graf Baylus,“ flüsterte er, „nehmen Sie dieses hier, als ein Zeichen meiner Freundschaft. Es ist das letzte Geschenk der Prinzessin Amalie, meiner Wohlthäterin, meiner Freundin. Ich bewahrte es lange. Bewahren Sie es ebenso lange zum Zeichen eines ehrenvollen Andenkens für mich und für Sie.“ Mit diesen Worten überreichte er dem Grafen eine schöne, mit dickem Goldrande verzierte Dose von Schildpatt.

„Theuerster Baron,“ rief Baylus, „warum wollen Sie sich von dem werthvollen Gegenstande trennen?“

„Nehmen Sie es. Ich vermache es Ihnen. Ich bin ein Sterbender; ehren Sie meinen letzten Willen. Wir sehen uns nie wieder. Mein Kopf wird fallen.“

„Aber, theurer Baron, in dieselbe Anklage wie Sie verwickelt, steht mein Kopf nicht fester als der Ihrige.“

„Ich weiß es. Aber mir ahnt es, Sie werden gerettet. Ich, Baron – ich werde sterben.“[2]

Vor dem Gefängnisse, zwischen den lauernden Volkshaufen angelangt, ward Trenck vor allen Andern erkannt. Man rief ihm zu. Man applaudirte ihm. „Singt das Ça ira, langer Preuße!“ „Er ist ein Spion!“ „Es muß sich erst zeigen, ob er kein Patriot ist!“ So rief der Pöbel durcheinander.

Im Sitzungssaale angelangt, warf Trenck seine Augen umher. Dieselbe Begleitung wie auf der Straße. Männer, Weiber, Kinder. Auf den Gallerien Zuschauer, in den vordersten Reihen Mütter, welche ihre Kinder säugten und dabei gespannt auf die Richter blickten. Man gewahrte, vom einfachen schwarzen Kleide an bis herunter zum Hemdärmel des Sections-Mannes, alle ungeheuerlichen Trachten jener Zeit. Die Schreiber trugen rothe Mützen; rothe Mützen tauchten überall aus dem Haufen der Zuschauer auf, eine rothe Mütze trug die Büste Marat’s, welche hinter dem Gerichtstische auf einer Konsole prangte und das blutgierige Auditorium angrinste, und an der Spitze der über Marat angebrachten dreifarbigen Fahne hing eine rothe Mütze. Widerliche Gerüche, heisere Stimmen, eine erstickende Temperatur, die furchtbaren Gesichter – dies Alles vereinigte sich, um den Sitzungssaal zu einem noch schrecklicheren Aufenthalte als das Gefängniß selbst zu machen. Die Glocke tönte. Tiefe Stille trat ein. –

Der Syndicus Hermann erhob sich. Er verlas die Anklage. Dann wandte er sich an den ihm zunächst stehenden Gefangenen, dessen hoher Wuchs das greise Haupt weit über die Bajonnete der Wachen emporragen ließ. Dieser Kopf, dieses Antlitz, schon dem Messer verfallen, erregten allgemeine Aufmerksamkeit. – Keine Furchen hatte das Schicksal hineingegraben. Es war wie versteinert. Diese Mundwinkel konnten nicht mehr zucken, diese Stirn runzelte sich nicht mehr, nur das Auge und die Zunge vermochten es auszudrücken, was der Mann getragen, was er jetzt empfand.

„Ihr Name, Alter und Stand?“ fragte Hermann.

„Baron Friedrich von Trenck, geboren zu Königsberg im Jahre 1726; früher Officier in preußischen und österreichischen Diensten; jetzt Literat.“

„Angeklagter, Sie stehen in Verdacht, mit den Königen Europas einen verbrecherischen Briefwechsel zu unterhalten. Eines Ihrer Schreiben ist aufgefangen worden; es wird Ihnen durch den öffentlichen Ankläger vorgelegt werden. Sie sprechen sich in diesem Schreiben sehr zweifelhaft über die Ereignisse der letzten Tage aus.“

„Der öffentliche Ankläger ist getäuscht worden. Kein Schreiben von mir hat die deutsche Grenze passirt. Ich bin seit langen Jahren schon kein Gast mehr in den Palästen der Fürsten. Wollen die Herrscher Europas den Zustand Frankreichs kennen lernen, so werden sie nicht bei mir, dem Freunde des Volkes, sich Auskunft erbitten. Hier seht, Bürger, die Wundmale, welche die Kerker meinen Gliedern aufgedrückt haben, und gegen die Befreier aus Kerkern sollte ich diese Hände erheben? Das könnt, das dürft Ihr nicht glauben.“

Trenck streifte den Aermel zurück. Er erhob seine immer noch muskulösen Arme hoch in die Luft. Die Zuschauer erhoben sich von den Sitzen. Sie gewahrten an den Knöcheln der Arme braune Ringe. Es waren die Spuren, welche die Handschellen aus der Magdeburger Sternschanze hinterlassen hatten. Diese Vorgänge erschütterten die Richter; Trenck’s Worte, mit sonorer Stimme gesprochen, brachten unter den Zuschauern ein Gemurmel des Beifalls hervor.

„Können Sie leugnen, daß Sie der Korrespondent Joseph’s II. gewesen sind?“

„Das war ich, ich bin es aber nicht mehr. Vergönnen Sie mir das Wort, Bürger Procurator, und ich werde die Ankläger zum Schweigen bringen.“

Jetzt erhob sich, links vom Gerichtstische, schnell wie eine Natter in die Höhe fahrend, ein Individuum, dessen scheußliches Antlitz das Blut in den Adern erstarren machte. Das waren Züge, wie sie sich eigneten für die Henker jener Zeit, die man so bezeichnend „die Schreckenszeit“ getauft hat. Es war, als schwebe [10] vor dem Gesichte des Mannes nur eine aus Dunst gewobene Maske, welche in ungewissen Umrissen die Züge eines Menschenantlitzes trug, während hinter derselben Augen, Rachen und Zähne einer Hyäne zu lauern schienen. Die widernatürlich in die Höhe gezerrten, buschigen Brauen, die hervorquellenden Augäpfel gaben dem Gesichte vollends den Ausdruck des Entsetzlichen. Die kreischende, bis in die fernsten Winkel verständliche Stimme begleitete ein schmatzender Ton, wie er jenen düsteren Phantasiegebilden zugeschrieben wird, welche die Volkssage mit dem Namen „Vampyre“ bezeichnet. Der Mann, den die Rachegötter zu seinem fürchterlichen Handwerke gleichsam gestempelt zu haben schienen, war Fouquier Tinville, der öffentliche Ankläger, der Bauerssohn von Herouelle, der Spürhund der Guillotine.[3]

„Ich thue Einspruch,“ kreischte das Ungeheuer, „der Angeklagte darf sich nicht in unnützen Ausschweifungen ergehen. Kostbar ist die Zeit. Bis 4 Uhr muß das Urtheil über 14 Gefangene gesprochen sein. Jetzt ist es zwölf. Keine Zeit ist zu verlieren.“

„Sie haben keine Zeit zu verlieren?“ donnerte Trenck. „Die paar Augenblicke, in denen es sich um die Vertheidigung eines Menschenlebens handelt, die halten Sie für verloren?“

„Sprechen Sie, Angeklagter,“ rief der Syndicus Hermann.

„Bürger Procurator,“ heulte Tinville, „dann kann ich nicht mehr – –“

„Bürger Ankläger,“ fiel Hermann ein, „mir liegt die Sorge ob, das Gericht zu leiten. Lassen Sie mich die Ansprüche auf Vertheidigung ermitteln. Angeklagter, ich wiederhole, Sie können sprechen.“

Jetzt erhob sich Trenck und sprach: „Bürger! zehn Jahre lang schmachtete ich in Fesseln. Endlich befreit, benutzte ich die Freiheit, wie sie der Philosoph benutzen soll, der ihre heilige Nothwendigkeit tief empfindet. Ich war ein nützlicher Bürger. Nachdem ich in Aachen die Tochter des Bürgermeisters geheirathet hatte, betrieb ich den Handel, Literatur und militärische Studien. Ich war der Gründer einer Zeitung, in welcher ich die Lehren eines neuen reinen Christenthums predigte. Aus Achtung für eine Fürstin, der ich meine Freiheit verdanke, gab ich die Zeitung auf, nicht aber meine Grundsätze. Von 1774–77 bereiste ich Frankreich und England. Hier machte ich die Bekanntschaft des großen Patrioten Franklin. Ich bin es, der den auf ihn gedichteten Vers verfaßt hat:

„Eripuit fulmen coelo, sceptrumque tyrannis!“[4]
(Dem Himmel entriß er den Blitz, den Tyrannen das Scepter.)

Nach Deutschland zurückgekehrt, wollte man mir öffentliche Aemter übertragen, aber der Tod meiner Wohlthäterin, der großen Kaiserin Marie Theresia – – –“

„Sie dürfen die Ihnen gegebene Erlaubniß nicht zur Verherrlichung der Tyrannen mißbrauchen,“ schrie Tinville.

„Sie werden mich nicht hindern zu sprechen, wie ich muß. Es ist doch sehr sonderbar, daß ein republikanischer Beamter die Freiheit der Vertheidigung mit dem Kreise des Popilius umgeben will. Also, als die große Kaiserin – – –“

„Wir sind hier, um Recht zu sprechen,“ fiel Herman ein, „nicht aber um Lobreden auf die Feinde der Republik zu hören.“

„Sagen Sie lieber: um zu verurtheilen. Aber Sie haben mir das Wort gegeben, ich werde es benutzen. Die große Kaiserin Marie Theresia – – –“

„Entziehen Sie ihm das Wort, wenn er Tyrannen lobt,“ rief Tinville.

„Sie war meine Wohlthäterin,“ rief Trenck, „und ich muß es sagen, gerade hier, an dieser Stelle, daß sie eine große Kaiserin war. Als diese große Fürstin gestorben war, ging ich nach Ungarn und ward Landmann. Ja, Bürger, der, den Ihr als Angeklagten vor die Schranken fordert, war der Freund Franklin’s und hat in den Ebenen von Zwabach die Pflugschaar geführt! 1787 ward es mir verstattet, mein Vaterland wiederzusehen. Ich ging nach Preußen, blieb aber dort nur so lange, als ich brauchte, um eine heilige Schuld der Dankbarkeit zu bezahlen. Der Gegenstand derselben verließ diese Welt, und ich entfloh von der Stätte, auf der ich so viel geduldet hatte. –

Jetzt erschienen meine Denkwürdigkeiten, welche die Aufmerksamkeit Europas auf mich lenkten. Man machte mir glänzende Anerbietungen. Ich schlug sie aus. Ich wollte meiner freien Gesinnung nicht untreu werden und trotzte neuen Verfolgungen. Meine Begeisterung für den Sturm der Bastille trug mir in Wien eine siebenzehntägige Gefangenschaft ein. Bürger, ist das eine Führung, die den Patrioten Frankreichs anstößig sein kann? Seit 1791 lebe ich Frankreich, ich veröffentliche Broschüren, die nicht ohne Einfluß auf die politische Erziehung des französischen Volkes gewesen sind. Wenn ich die Volksversammlungen nicht besucht habe, so geschah dies, weil ich glaubte, man werde mir, einem Fremden, das Wort entziehen. Befragen Sie, Bürger, außerdem meine Cameraden in der Section der Lombarden, der ich lange angehörte, sie werden mir das Zeugniß eines ehrlichen Mannes nicht versagen. Ich habe gesprochen und glaube bewiesen zu haben, daß ich niemals etwas gegen die Freiheit der französischen Nation unternahm.“

Trenck setzte sich mit stolzer Gebehrde nieder. Neuer Beifall flog durch die Reihen. Da erhob sich der öffentliche Ankläger wieder. „Ich werde,“ heulte er, „dem Angeklagten nicht in seinen Windungen folgen. Die Gerechtigkeit muß die Schnelle des Blitzes haben. Ich lasse sogar einen Theil der Ankage fallen, soweit dieselbe die feindlichen Beziehungen außerhalb Frankreichs betrifft. Aber der Angeklagte erwidere mir etwas auf die Beschuldigung, zu der ich jetzt übergehe: Bürger! Man hat in St. Lazare eine Verschwörung angesponnen, welche die Wiederherstellung des Königthums und den Sturz der Republik zum Zwecke hatte. Trenck, Chenier, Boucher, de Bart und Andere sind die Rädelsführer. Bürger, Sie sind berufen, die eine Hälfte derselben zu richten, morgen steht die andere vor den Schranken. Der Abend des 6. Thermidor war zur Ausführung bestimmt, der Genius der Freiheit hat den blutigen Plan vereitelt, die Hauptschuldigen stehen vor Ihnen. Sie müssen Sie verurtheilen, denn das Vaterland ist in Gefahr.“

„Jeder Sclave hat das Recht, seine Fesseln zu sprengen,“ brauste Chenier auf.

„Der Strafe wollten wir entgehen, weiter nichts,“ rief Boucher. „Nicht Jeder paßt zum Mörder. Die Hand, die eine Feder oder ein Schwert mit Ehren führte, verschmäht den Dolch.“

„Als ich aus dem Gefängnisse entflohen war,“ rief Trenck, „legte man mir schwerere Fesseln an, aber man strafte nicht mit dem Tode. Dem Gerichte der Republik war es vorbehalten, Alles an Grausamkeit zu übertreffen.“

„Warum greifen Sie dem Urtheile der Geschworenen vor?“ sagte Hermann.

„Wir kennen unser Schicksal,“ eiferte Boucher; „bergt nicht den Tiger in der Fuchshaut! unser Tod ist unwiderruflich, und wir verlassen diesen Raum nur, um das Schaffot zu beschreiten. Nichtswürdige Richter! es thront ein Richter über uns, der auch Euch richten wird. Wehe Euch! Eure Bluturtheile werden Euch überleben und Eure Namen bis in die entferntesten Zeiten am Schandpfahle prangen.“

„Im eigenen Vortheile der Angeklagten entziehe ich ihnen das Wort,“ sagte Hermann.

„Entzieht es uns oder nicht,“ rief Chenier, „wir wollen uns nicht vertheidigen. Es wäre Hohn, einem solchen Gerichte gegenüber sich vertheidigen zu wollen. Die Richter der Revolution schänden die Freiheit.“

„Bürger Präsident,“ rief Tinville, „machen Sie diesem Gewäsche ein Ende. Fordern Sie die Geschworenen auf, sich in das Berathungszimmer zu begeben.“

„Angeklagter Trenck,“ sagte jetzt Hermann, „man schätzt an Ihrer Vertheidigung den Charakter der Mäßigung. Bleiben Sie dabei, daß Sie an der Verschwörung nicht Theil genommen haben?“

Trenck konnte sich mit einem Worte retten; er konnte wieder frei ausgehen. Aller Augen hafteten auf ihm. Mit einem Ruck erhob er sich. „Bürger!“ rief er, „Ich erkläre, daß ich die Verantwortlichkeit der von meinen Genossen gesprochenen Worte übernehme. Ihr Schicksal soll das meinige sein. Ich will mit ihnen leben und sterben.“

Trenck war verloren; aber der große Augenblick hatte ihn groß gefunden. Alle seine Verirrungen, seine Fehler waren gesühnt durch diesen Entschluß – er war ein Märtyrer seiner Ehre. Eine schreckliche Pause entstand. Endlich treten die Geschworenen wieder ein. Sämmtliche Angeklagten, 30 an der Zahl, sind zum [11] Tode verurtheilt, beschuldigt: „eine Verschwörung im Gefängnisse angezettelt zu haben, um durch Ermordung der Volks-Repräsentanten die Republik zu stürzen und das Königthum wiederherzustellen.“ Mit Gleichgültigkeit hörten die Angeklagten das Urtheil an. Man war zu jener Zeit abgestumpft gegen den Tod und seine Schrecken, denen man täglich in’s Auge sah; man verabschiedete sich von einander mit den Worten: „Auf Wiedersehen, vielleicht unter der Guillotine.“ Um zwei Uhr war das Urtheil gesprochen, um vier Uhr brachten die Karren die Verurtheilten zum Revolutionsplatz. Fest umschlungen hatten sich die Freunde. Ein Gesang schwirrt durch die Luft, ein Gesang von festen, ergreifenden Männerstimmen. Es ist der „Chant du départ“, den die Verurtheilten singen.

Man sang zu jener Zeit, auch wenn man zum Tode ging; man sang, wenn man in den Krieg zog; man sang während der Blutarbeit. Boucher und Chenier unterhielten sich von ihren Schwärmereien, ihrer einst so rosig lächelnden Zukunft.

„Warum so frühe schon zum Tode?“ rief Chenier. „Hier war Etwas.“ Er schlug sich vor die Stirne.

„André,“ entgegnete Boucher. „Es sind Ideen, die Du verlässest – ich aber meine Kinder – mein holdes Weib. Jenseits finden wir uns; und nun enden wir edel, geben wir den Henkern nicht das Schauspiel des Zagens oder der Schwäche.“

„Ich zittre nicht,“ sagte Chenier, „aber ich bedaure, daß ich der Welt nicht noch nützen konnte.“

Mit entschiedenen Zeichen des Mitgefühls betrachtete das Volk die vorüberfahrenden Karren.

„Was wollt Ihr, was staunt Ihr?“ rief Trenck mit fester Stimme. „Dies ist nur eine Komödie à la Robespierre!“

Man war am Fuße der Guillotine angelangt. Hier erst zeigte Trenck die ganze Kraft seiner Seele, den ungebeugten, mächtigen Willen. Er verschmähte es, der Erste zu sein. Einen Kopf nach dem andern sah er fallen; ohne eine Bewegung der Unruhe stand er ruhig da, die Arme über der Brust gekreuzt, seine Augen fest auf das blutige Schauspiel gerichtet, das sich 29 Mal vor ihm wiederholte. Hoch über alle Häupter hinweg ragte seine riesige Gestalt; sein greises Haar flatterte um das energische Antlitz. Welche Gedanken wogten durch sein Gehirn? – „Bleib Er bei mir, ich will etwas Großes aus Ihm machen,“ hatte Friedrich der Einzige 1749 zu ihm gesagt.

Da fiel Boucher’s Haupt. Er war der Vorletzte.

Die Reihe kam an Trenck. Festen Schrittes ging er auf das Schaffot zu; die Stufen der Treppe knirschten unter seinen gewichtigen Schritten. Oben angelangt übersah er ruhig die Menge. „Franzosen!“ rief er, „wir sterben unschuldig. Unser Tod wird gerächt werden durch Euch – stellt die Freiheit her, indem Ihr die Ungeheuer opfert, die sie schänden.“

Schnell warf er sich in die Maschine. Blitzend fuhr das Beil herab, und in den Sack des Henkers rollte das Haupt des unglücklichen Abenteurers. – Dreißig Köpfe waren in fünfzehn Minuten gefallen. – Auseinander stob die Zuschauermenge. – Wie ein Oceanbrausen schallte donnernd durch die Lüfte der Ruf:

„Vive la Nation!“
George Hiltl.[WS 1]



Heilung und erste Hülfeleistung bei Knochenbrüchen.
Vormerke beim Glatteis.


Verzweifeln möchte man über das abergläubische Vertrauen, welches verständige Menschen auf die Heilmacht von allerhand Personen und allerlei Dingen setzen. Gegen die Thatsachen, welche ganz klar beweisen, daß in unserm Körper fast alle Krankheiten ohne jedweden Arzneikram und Hokuspokus, nur durch die schon so oft besprochenen Naturheilungsprocesse (siehe Gartenlaube Jahrgang 1855 Nummer 25 und 1862 Nummer 13) gehoben werden, wehrt sich die große Menge, ebenso der Aerzte wie Laien, mit Händen und Beinen, nur um nicht aus ihrem bequemen, aber verdummenden Aberglauben gerissen zu werden. Von leicht ansführbaren Versuchen, durch welche man ganz sicher hinter den Blödsinn der verschiedenartigsten Heilmethoden und Charlatanerien kommen könnte, will die abergläubische Mensch- und Arztheit durchaus nichts wissen, denn sie befindet sich ruhiger bei ihrem blinden Vertrauen auf unnatürliche und unvernünftige Heilmächte.

Hat denn wohl schon einmal einer von den fanatischen Anhängern und Lobhudlern der homöopathischen Heilkünstelei das ganz gefahrlose Experiment mit Chinarinde nachgemacht, auf welches doch Hahnemann die Homöopathie gründete? Nein! Einer schlabbert’s dem Andern nach, daß China bei einem Gesunden einen dem Wechselfieberanfalle ähnlichen Zustand erzeugt und daß deshalb, weil diese Rinde Wechselfieberanfälle wirklich unterdrückt, die homöopathische Heilmethode auch ihre volle Berechtigung habe. Daß aber die Erzeugung eines wechselfieberähnlichen Zustandes durch die China gar nicht zu ermöglichen und Hahnemann’s Behauptung: „Aehnliches heilt Aehnliches“ geradezu Unsinn und Lüge ist, davon wollen sich die meisten, auch sonst ganz vernünftige Leute durchaus nicht überzeugen, obschon dies so leicht wäre. Und ein solches unvernünftiges Sträuben gebildeter Menschen gegen eine vernünftige Aufklärung über ihr körperliches Heil sollte die Anhänger des Fortschritts nicht zur Verzweiflung bringen? Am Menschenverstande sollte man nicht irre werden, wenn man diese heillose Lutze’-, Lampe’-, Laurentius’sche Wirtschaft mit ansehen und die Hoff’sche Malzextract-Geldmacherei in allen Zeitungen gelobhudelt lesen muß?

Man lasse sich’s doch ein für allemal gesagt sein: wo immer in einem kranken Körper Heilung eintritt, da half der Naturheilungsproceß (oft selbst trotz der unsinnigsten Curirerei), und die Macht eines wissenschaftlich gebildeten Arztes besteht blos darin, diesen Proceß durch diätetische Hülfsmittel zu unterstützen. Nur in sehr wenigen Fällen lassen sich durch Arzneistofle (niemals aber in homöopathischer Gabe), Beschwerden lindern oder beseitigen.

Was der Naturheilungsproceß zu leisten im Stande ist, zeigt sich, und zwar auch dem blindesten und vorurtheilvollsten Homöopathen, am deutlichsten bei äußern Schäden. Betrachten wir z. B. einmal den Heilungsproceß bei Knochenbrüchen.

Zum bessern Verständniß desselben sei aber vorher kurz des Knochens im Allgemeinen und seiner Umgebung gedacht. Letztere besteht gewöhnlich aus Muskeln (Fleisch) und Zellgewebsgebilden; der Knochen enthält in seinem Innern mit Mark (Fett) erfüllte Hohlräume und hat an seiner äußern Oberfläche einen sehnigen Ueberzug, die Knochenhaut. Alle diese genannten Theile besitzen eine größere oder geringere Anzahl der feinsten Blutröhrchen.

Zerbricht nun ein Knochen, so zerreißt natürlich gleichzeitig mit der Knochenhaut, in der Regel auch eine stärkere oder schwächere Portion der fleischigen und sehnigen Umgebung desselben, und aus den verletzten Blutröhrchen nicht nur dieser zerrissenen Theile, sondern auch des zerbrochenen Knochens und seines Markes selbst, läuft mehr oder weniger Blut heraus, welches sich ebenso rings um die Bruchstelle, wie zwischen den Knochenstücken und im Markcanale ansammelt, theilweise flüssig bleibt, zum größten Theile aber gerinnt und allmählich, schneller oder langsamer, wieder weggesogen wird. Kurze Zeit nach diesem Blutaustritte zeigt sich, in Folge der Reizung und gesteigerten Blutfülle in den umliegenden Blutröhrchen, eine flüssige Ausschwitzung von schnell gerinnenden Blutbestandtheilen. Das Ausgeschwitzte kommt zuerst in den Weichtheilen äußerlich rings um die Bruchstelle und an der geschwollenen Knochenhaut zum Vorschein und bildet hier eine Geschwulst von dichter speckiger Masse, welche, sehr fest mit der Beinhaut verschmolzen, die Knochenstücke wie eine Kapsel oder Zwinge umfaßt und so mit einander vereinigt. Diese anfangs weiche Zwinge (äußerer, zeitiger oder provisorischer Callus) wird allmählich immer härter, knorplig und endlich theilweise knöchern. Innerhalb dieser Zwinge bildet sich nun erst zwischen den Knochenenden, ganz besonders aber vom Marke aus, eine sofort verknöchernde, die getrennten Knochenstücke innig verbindende Ausschwitzung (innerer, späterer oder definitiver Callus). Nach Wiederherstellung der gehörigen Festigkeit durch knöchernen Callus schwindet allmählich der größte Theil des viel zu reichlich abgesetzten Verbindungsmaterials, besonders der Zwinge, fast vollständig, und der Knochen bekommt dadurch seine natürliche Gestalt wieder. Auch im Innern des Knochens stellen sich die Markräume wieder her.

Wenn dieser Heilungsproceß naturgemäß und ungestört verlaufen kann, so heilt beim Erwachsenen (auch im Alter) ein Oberschenkelbruch [12] in etwa 10 Wochen, ein Oberarmbruch in 5 Wochen, ein Unterschenkelbruch in 8 und ein Unterarmbruch in 5 Wochen, ein Rippenbruch in 3 und ein Schlüsselbeinbruch in 4 Wochen. Natürlich können aber eine Menge von Umständen und Verhältnissen, die entweder auf den Zustand des ganzen Körpers oder nur des verletzten Theiles Einfluß auszuüben im Stande sind, den Heilungsproceß verzögern. – Bei Kindern heilen Knochenbrüche viel schneller, fast in der Hälfte der oben angegebenen Zeit, als bei Erwachsenen.

Die ersten Hülfeleistungen bei Knochenbrüchen, welche gar nicht selten auf die spätere Heilung gut oder schlecht einwirken können, lassen den Verunglückten in der Regel Laien angedeihen, und deshalb sollen hier die dabei zu befolgenden Grundsätze kurz besprochen werden. – Was zuvörderst einen Knochenbruch vermuthen läßt, ist die große Schmerzhaftigkeit an der Bruchstelle, sodann die Unfähigkeit, das verletzte Glied zu gebrauchen, sowie die widernatürliche Beweglichkeit und Mißgestaltung (Verkürzung, Verdrehung) des gebrochenen Knochens. Für den Chirurg ist auch noch das eigenthümliche Knarren, die Crepitation, von Bedeutung, welche durch das Bewegen der Knochenbruchflächen an einander entsteht.

Was nun den Transport des Verletzten betrifft, so ist dieser vorzugsweise bei Brüchen von Rumpf- und Beinknochen von Wichtigkeit. Denn bei Brüchen am Arme weiß sich der gehende oder fahrende Kranke in der Regel selbst zu helfen, indem er das verletzte Glied durch den andern, gesunden Arm so lange unterstützt, fest und ruhig hält, bis ein Verband angelegt werden kann. Erleichtern läßt sich diese Untersuchung durch eine Schlinge (Mitella), welche um das verletzte Glied und den Hals geschlungen, und aus einem Handtuche oder großen dreizipfligen Halstuch gebildet wird, dessen Enden am Nacken zusammengebunden werden. Man achte hierbei darauf, daß diese Schlinge vorn an der Brust nicht zu hoch hinauf oder zu tief herab reiche, sondern dem Arm eine recht bequeme Lage gestatte.

Bei Beinbrüchen kommt der Verletzte bisweilen auch in den Fall, sich ohne Beihülfe selbstständig eine kurze Strecke weit fortbewegen zu müssen. Dann kann er dies nur dadurch bewerkstelligen, daß er auf dem Boden sitzend (gewöhnlich rückwärts) fortrutscht, indem er sich theils mit den Armen, theils mit dem unverletzten Beine behutsam fortschiebt und das gebrochene Glied nachzieht. Wäre noch Jemand zur Hand, dann kann dieser das gebrochene Glied durch seine Hände oder ein Bretchen, ein Tuch etc. unterstützen, muß dabei aber den Bewegungen des Verletzten mit großer Vorsicht folgen. – Auch das Aufheben des Verletzten von der Stelle, wo er liegt, auf ein Transportmittel, wie auf eine Trage, Bahre, einen Wagen, einen Schlitten, ein Bret, eine Matratze, einen Strohsack u. s. f., verlangt außerordentliche Behutsamkeit, damit nicht bloß großer Schmerz, sondern auch eine gefährliche Verschiebung des zerbrochenen Knochens vermieden werde. Meist sind mindestens vier Personen zum sichern Aufheben nöthig, von denen zwei das gebrochene Bein in seiner ruhigen Lage sichern, während die andern Beiden den Rumpf des halbsitzenden und seine Arme um den Nacken der Tragenden legenden Kranken in der Weise erheben, daß sie ihre Hände unter den Rücken und das Gefäß desselben schieben. Natürlich müssen beim Aufheben und Forttragen des Kranken alle dabei behülflichen Personen ganz gleichmäßig (am besten auf Commando) und so behutsam als möglich handeln. Ebenso muß das Niederlegen des Verunglückten sehr vorsichtig geschehen. Von großem Vortheil ist es, wenn beim Aufheben und Fortschaffen des Kranken das gebrochene Bein auf ein Bret von der Länge des ganzen Beines gelegt und locker befestigt wird. Im Nothfalle, wo blos eine Person zum Fortschaffen des Kranken vorhanden ist, läßt sich dies nur dadurch ermöglichen, daß letzterer von ersterer mit herabhängenden Beinen auf dem Rücken fortgetragen wird. Stehen zwei Personen zur Verfügung, dann kann der sitzende Kranke seine Arme um die Nacken der Träger legen, und diese fassen sich einander unter dem Gesäße und Oberschenkeln desselben fest bei den Händen. Ein Stuhl, auf welchen der Kranke gesetzt werden kann, erleichtert den Transport, nur muß auch dabei stets die größte Aufmerksamkeit auf das gebrochene Glied verwendet werden, damit dieses keine Erschütterungen, Schwankungen und Verschiebungen erleide.

Das Entkleiden des Verletzten, welches mit der größten Vorsicht und erst dann geschehen muß, wenn derselbe an den Ort seines Bleibens gebracht und auf eine feste Unterlage gelegt worden ist, fange an den unverletzten Theilen an und bestehe am verletzten Gliede im Aufschneiden oder Auftrennen der Nähte der Kleidungsstücke, doch geschehe dies stets mit der größten Behutsamkeit, damit ja keine Erschütterung und Verschiebung des Bruches stattfinde. Durch geronnenes Blut angetrocknete Kleider sind durch Wasser anzufeuchten und dann nach ihrer Aufweichung sanft abzulösen. Am besten ist es, wenn das Entkleiden den Aerzten überlassen wird.

Die vorläufige Lagerung des Verletzten bis zu der Zeit, wo der Arzt ein kunstgerechtes Lager bereitet, ist bei Beinbrüchen so einzurichten, daß der Verletzte so wenig als möglich Schmerz empfindet und das gebrochene Glied eine bequeme und sichere Lage einnehmen kann, welche eine Verschiebung des gebrochenen Knochens nicht aufkommen läßt. Am brauchbarsten dazu sind gut gearbeitete Matratzen oder gleichmäßig gestopfte Strohsäcke.

Ist bei einem Knochenbruche ärztliche Hülfe in der Nähe und kann der Verband bald angelegt werden, dann wird jede weitere örtliche Behandlung überflüssig. Nur wenn diese Hülfe lange auf sich warten läßt, sind zur Milderung der eintretenden Entzündung kalte Umschläge (von Eis, Schnee, Wasser) von Vortheil. – Die allhelfende Homöopathie verordnet innerlich, wenn der Verletzte sehr angegriffen und ohnmächtig ist, Aconit, und nach einigen Stunden Arnica; nur bei sehr heftigen, ganz unerträglichen Schmerzen und Krämpfen davon, giebt sie erst Chamille und dann Hypericum. Nach der Einrichtung des Knochens bewirkt Symphytum, daß das verletzte Glied oft in weit kürzerer Zeit als gewöhnlich schon wieder gebraucht werden kann. Sollte es aber nicht anheilen wollen und der Knochen bleibt lose, so tröpfle man, nach dem amerikanischen Homöopathen Hering, etwas verdünnte Phosphorsäure in Kalkwasser, trockne den Niederschlag und gebe dem Kranken alle Tage eine kleine Messerspitze voll. (Ist das auch eine homöopathische Gabe?)

Bock.



Zum Nordcap.[5]
Von Carl Vogt in Genf.


Unser Schooner lag auf geschützter Ankerstelle in der Nähe von Gjesvär, der letzten Handelsstelle auf der westlichen Seite des Nordcaps. Wir hatten den dortigen Kaufherrn, der gerade in Hammerfest zur Besorgung einiger Geschäfte anwesend war, während der Reise nach Gjesvär kennen gelernt, und er hatte sich bereitwillig anerboten, uns gleich am Morgen nach unserer Ankunft ein großes Segelboot mit vier Ruderern zu stellen, worunter ein Kendmand, d. h. ein mit der Gegend bekannter Mann, der uns nach dem Nordcap über Land führen könne. Wir hätten, hieß es, nicht ganz eine halbe Meile zu rudern und eine halbe Meile über das Fjeld nach dem Nordcap zu gehen. Unsere Karten schienen zwar hinsichtlich der Distancen nicht gut mit diesen Angaben zu stimmen; allein wir wollten den wahrscheinlichen Irrthum lieber auf Seiten der Geographie, als der Eingeborenen suchen. Doch wurde beschlossen,

[13]

Bergsturz am Tu-Fjord (Nordcap).
Nach der Natur aufgenommen von Hasselhorst.

[14] auch unser kleines Segelboot zu bemannen und sich gehörig mit Proviant zu versehen für alle Fälle. Auch durfte die Flasche Champagner, die auf dem Nordcap geleert werden sollte, nicht vergessen werden. Die Stunde der Abfahrt wurde auf 9 Uhr Morgens festgesetzt.

Vergebens erwarteten wir am andern Morgen das große Boot. Leopold von Buch klagt schon über die guten Stunden, welche er über langwierigen Vorbereitungen mit Lappen und Normännern habe verlieren müssen. Auch hier schienen dieselben Klagen ihre Stätte zu finden. Zehn Uhr vorüber und kein Schiff zeigte sich. Man glaubte an ein Mißverständniß und ruderte hinüber. Aber die Verabredung ist ganz richtig verstanden worden; nur sind die Leute spät vom Fischfang heimgekommen, haben essen müssen – und was dergleichen Gründe mehr sind. Endlich erscheint das Boot um elf Uhr an unserem Bord, mit vier Ruderern bemannt, welche ihre keinen Löffel (denn Ruder kann man die Dinger wohl nicht nennen) mit ziemlicher Geschwindigkeit handhaben. Wir wollen einsteigen – kein Sitz. Wahrscheinlich hatten sich unsere Ruderer eingebildet, wir würden nach Art der Lappen uns auf dem Breterboden, der im Hintersteven angebracht war, auf die Fersen in die Runde hocken und so die Meile zurücklegen. Es müssen noch Sitze mit Koffern und Bretern improvisirt und damit wieder eine kostbare Zeit verloren werden.

Endlich sind wir fertig. Der Capitain und Berna besteigen unser keines, mit zwei Mann besetztes Segelboot, wir Andern suchen im großen Boot uns einzurichten. Der Wind ist uns nicht günstig, wir müssen nach dem Tufjord hin kreuzen.

Anfangs gewinnt unser großes Boot scheinbar einen bedeutenden Vorsprung. Das einzige große Segel, das es besitzt, zieht gewaltig, und die vier Ruderer arbeiten aus Leibeskräften, um uns nahe an dem Winde zu halten. Bald aber zeigt es sich, daß unser Blankeneser Boot mit seinem dreieckigen Fock- und schiefen Hauptsegel sich viel näher an den Wind legen und schneller wenden kann, als das plumpe norwegische Fahrzeug. Der Capitain schießt mit seiner Nußschale zwischen Scheeren hindurch, um welche wir langsam herumluven müssen, und wie wir endlich, bei fast vollkommener Windstille, im Tufjord anlangen, sehen wir den Capitain schon gegenüber am Ufer hinkreuzen und auf eine Bucht hinsteuern, welche noch ferner als diejenige war, an der wir landen sollten. In der That langen wir auch trotz dieses Umwegs eine Viertelstunde später am Landungsplatze an, der in einer kleinen Bucht am östlichen Ende des Fjords lag.

Der Marsch ward angetreten. Die Felsen, auf denen wir mit Beschwerde landeten, die steilen Ufer ringsum bestanden aus grauschwarzem, feinkörnigem, leicht verwitterbarem Gesteine, dessen Schichtenköpfe nach Norden schauten, so daß überall im Tufjorde die Neigung der Schichten und ihr Einschießen gen Süden deutlich zu erkennen war. Ueber die mineralogische Beschaffenheit dieses Gesteines, welches das ganze Massiv von Nord-Mageroe bildet, möchte ich nicht streiten. L. von Buch behauptet mit Bestimmtheit, nördlich von Hammerfest komme kein Glimmerschiefer sondern nur Gneiß und Thonschiefer vor; allein schwer würde es werden, am Gesteine des Tufjords nachzuweisen, daß es kein Glimmerschiefer sei, und wenn Einer uns sagte, es sei glimmeriger Sandstein, so könnte man ihn auch nicht widerlegen. So zermahlen und zerrieben sind die Bestandtheile, welche diesen dunkelgrauen, geschichteten Stein bilden, daß man wohl Glimmer, Quarz, Feldspath darin unterscheiden, aber nicht deutlich sichten und erkennen kann. Außerordentlich deutlich ist aber überall die Schichtung und die Einlagerung von Schichten fleischrothen, massiven Granites, die der Wand des Tufjordes aus einiger Ferne das Ansehen geben, als wäre es eine Wand von Liasschiefer mit Einlagerung von derbem Liaskalke. Und das ist ja wohl eine merkwürdige Erscheinung! Ist es doch, als ob die Natur mit deutlichen Zügen in die nördlichsten Blätter des europäischen Steinbuches die Metamorphose der Gesteine hätte eingraben wollen. Freilich enthalten diese bis zur gänzlichen Zerstörung ihres ursprünglichen Gefüges umkrystallisirten Gesteine keine Versteinerungen, welche uns über ihr Alter und ihre Einreihung in die Zeitalter der Erde belehren könnten; – aber daß diese krystallisirten Schiefer einst versteinerungshaltige Mergel oder Thonschiefer, die granitischen eingelagerten Schichten einst derbe Kalke waren, das wird unmittelbar Jedem klar werden, der die Wand von einer Entfernung aus betrachtet, wo ihm die Existenz von Versteinerungen doch entgehen mußte. Ganz gewiß aber wird Angesichts einer solchen Einlagerung continuirlicher Granitschichten in Schiefermassive kein vernünftiger Mensch behaupten können, daß der Granit ein eruptives Gestein sei, das, aus den Tiefen der Erde emporgeworfen, die Schichten der Erde in die Höhe gehoben habe. Nein! hier ist gewiß der Granit an Ort und Stelle gebildet, durch langsame, allmähliche Umwandlung, Metamorphose der ursprünglichen Schichten, die sich aus dem Wasser abgesetzt hatten.

Wir stiegen langsam einen steilen, aus großen Blöcken zusammengehäuften Schuttkegel hinan, neben welchem ein Bach durch den steilen Thalriß in die Bucht niederrauschte. Von einer alten Strandlinie, wie wir deren so viele bisher gesehen hatten, fand sich keine Spur; auch gestattete die üppige Vegetation, welche den Kegel deckte, nicht zu untersuchen, ob wir uns etwa auf einer Gletschermoräne befänden, die das Thal beinahe sperrte. Es war eine Art nordischer Maienwand, die wir mühsam hinankletterten. Der steile, gen Süden gerichtete, gut bewässerte Abhang, auf dem die Verwitterung des Gesteines eine vortreffliche Dammerde erzeugt hatte, war reich überwuchert von kriechenden Weiden, Zwergbirken, Heidelbeeren und ähnlichem an dem Boden hinschleichenden Gesträuche, zwischen dem blaue Wicken, rothe Feuernelken, weiße Kopfnelken in anmuthigem Wechsel blühten. Die Engelwurz (Angelica), welche den Lappen so werth ist, daß jeder von der Rennthierhut heimkehrende Bräutigam, Gatte und Vater der Familie einige Blumenstengel zum Kauen und Aussaugen mitbringt, treibt hier Stengel von mehreren Fuß Höhe. Gewiß, könnte die Birke oder ein anderer Baum in diesem Klima gedeihen, an diesem Abhange müßte er stehen. Aber nichts der Art zeigte sich. Was mehrjähriges Holz hat, schleicht am Boden hin und drückt sich in die Spalten zwischen den Felsblöcken, und nur die krautigen Stengel, die innerhalb der kurzen Sommerfrist aufschießen und verdorren, wagen ihr Haupt über die feste Fläche in die Luft zu erheben.

Das erste Ansteigen war mühsam und beschwerlich. Der Fuß rutschte in die Spalten und Klüfte, welche zwischen den Steinen von Moos und Kraut versteckt sich hinzogen, und oft mar man genöthigt, kletternd mit den Händen eine Stufe zu erklimmen. Voran schritten die beiden Führer, schwer bepackt mit Speise und Trank; ihnen nach eiferten die Jäger, Berna, Herzen und der Capitain mit dem Maler um dem Vorrang, der vergebens seine Zeichenmappe schleppte. Den Nachtrab machten Greßly und Vogt, eben so sehr durch die Untersuchung der Gesteine und Gewächse, als durch die Schwere des Körpers und die beginnende Steifigkeit des alternden Gebeines zurückgehalten.

Nach einer schweren Stunde mühsamen Aufkimmens hatten wir die Höhe des Fjeldes erreicht und schritten nun, leichter athmend, über ödes Steingeklipp rüstig vorwärts. Die Flächen dehnten sich fast unabsehbar nach allen Seiten hin als Plateau aus, das nur geringe wellenförmige Modulationen zeigte. Die zu kuchenförmigen Stücken verwitterten Gesteine lagen fast wie Pflaster eines Provinzialstädtchens neben einander, und nur in den Fugen keimte mühselig, wie in einem mittelalterlichen, verlassenen Schloßhofe, kümmerliches Gras und spärliches Moos. Nur hie und da zeigten sich riffähnliche Rücken, in welchen die schroff gebrochenen Schichtenköpfe zu Tage traten, oder blendend weiße Massen und Flecke, die man für Schnee oder Eisklumpen hätte halten können, wenn nicht die genau begrenzte, scharfeckige Gestalt über die härtere Natur belehrt und die warme Temperatur die Unmöglichkeit der Erhaltung solcher Winterreste gezeigt hätte. Es waren Massen krystallisirten Quarzes, die bald in Nestern, bald in Gängen sich vorfanden, der Verwitterung besseren Widerstand leisteten, als das weiche Schiefergestein, und so über die Flächen hervorragten als redende Zeugen der Abtragung, die diese erlitten. Wir überschritten einzelne dieser Quarzgänge, die in gerader Richtung, so weit das Auge reichte, wie Mauern über das Fjeld hinliefen und einige Fuß über die allgemeine Bodenfläche emporzuragen schienen.

Wenn auch in vieler Beziehung ähnlich den Fjelden, die wir auf Dovre zwischen Jerkind und dem Sneehättan überschritten hatten, so zeigte sich doch mancher Unterschied. Dort deckte Rennthiermoos und isländisches Moos fußhoch die öden Flächen und überzog sie mit hell schwefelgelben und weißen Farben, zwischen denen die dunkeln Gesteine und Moortümpel mit ihren braunen und schwarzen Tinten hervorstachen, wie Flecken auf dem Felle des Panthers; hier war Alles grau in grau, denn die spärliche Vegetation konnte gegen die allgemeine Wirkung des nackten Gesteins nicht aufkommen. Dort konnte man sich zuweilen in die Nähe eines Vulcanes versetzt [15] glauben, dessen flache Lavaströme mit ausgewittertem Schwefel und Salzen überdeckt seien; hier konnte keine Täuschung obwalten über den grauenvollen Kampf, in welchem der Schrecken eines durch seine Länge entsetzlichen Winters Sieger geworden über die unterliegende Vegetation. Schnee zeigte sich freilich nirgends mehr auf unserem Wege; nur in der Runse einer seitlichen Schlucht hatte sich noch ein Ueberrest erhalten; aber viele ausgetrocknete Tümpel und kleine mit Wasser gefüllte Teiche zeigten deutlich, daß sie kaum erst durch Schmelzen des Schnees entstanden und vielleicht nur dem heuer außerordentlich günstigen warmen Wetter ihren Ursprung verdankten.

(Schluß folgt.)


Blätter und Blüthen.


Aus dem Leben eines deutschen Thierbändigers. Es war im Herbste 1848, nach der Beendigung des mexicanischen Krieges, als ich mit einem Trupp Reconvalescenten von Veracruz in New-Orleans eintraf. Nachdem ich meine Amts- und Berufsgeschäfte beendigt und die Leute dem Vereinigten-Staaten-Inspector übergeben hatte, nahm ich mir vor, zu meiner eigenen Erholung einige Tage in dieser Stadt zu verweilen und die Ankunft der Peytona abzuwarten, mit deren Capitain ich befreundet war, um mit diesem prachtvollen Dampfboote die Reise stromaufwärts anzutreten. Das gelbe Fieber zeigte sich freilich wieder in New-Orleans und fing nachgerade an epidemisch zu werden, indessen wer die Hölle des vomito prieto in der tierra caliente Mexicos mitgemacht hat, pflegt sich vor dem Fegefeuer nicht mehr zu fürchten. So schlenderte ich denn eines Tages wohlgemuth über den französischen Markt, als meine Aufmerksamkeit plötzlich dadurch rege wurde, daß ich die Menschen scheu von dem Seitenwege ausbiegen sah. Die Ursache davon wurde mir bald klar, als ich einen Mann von hohem Wuchs daher schreiten sah, dem ein mächtiger Jaguar wie eine große Dogge folgte, wie ein wohl dressirter Hühnerhund[WS 2] dem Jäger. Auf eingezogene Erkundigungen erfuhr ich, daß dieses der berühmte Thierbändiger Herr Driesbach sei, der am Abend im amerikanischen Theater eine Vorstellung geben werde und die Ausgänge mit der wilden Bestie zuweilen benutze, um Reclame für sich zu machen. Da Herr Driesbach ein Deutscher und folglich ein Landsmann von mir war, und die Anschlagzettel Außerordentliches verhießen, so konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, hinzugehen, obgleich ich van Amburgh und andere Künstler der Art schon oft gesehen hatte.

Ich hatte mir, um besser schauen zu können, einen Platz in der vordern Reihe der Sperrsitze genommen, und da ich zeitig genug gekommen war, fand ich reichlich Gelegenheit, vor dem Anfange des Stücks meine Bemerkungen über das schaulustige Publicum von New-Orleans zu machen. Da in kluger Berechnung, um das Theater noch mehr mit dem den Sport und gewaltige Aufregung liebenden Theile der Bevölkerung zu füllen, vor dem Auftreten Driesbach’s noch ein Spectakelstück „die corsicanischen Brüder“ gegeben wurde, so kann man sich wohl denken, daß das Parterre und die obern Gallerien mit jener Gentry überfüllt waren, die man gewöhnlich bei Bärenhetzen, Hahnenkämpfen, Preisgefechten und dergleichen Vergnügungen der Südländer eifrig wettend am Platze findet. Da fehlten nicht die ledernen Helme der Feuerleute, noch die wildscheuen Gesichter jener Loaser, die eine transatlantische Ausgabe der neapolitanischen Camorristen vorstellen könnten. Im ersten Range schauten die feurigen Augen jener Creolinnen hinter den bunten Fächern hervor, welche den unerfahrenen Nordländern bei dem ersten Anblick durch ihre wahrhaft classische Schönheit imponiren, duftige Rosen mit vergiftetem Stachel, denen aber ein vernünftiger Deutscher jedenfalls die tugendhafte Petersilie der Heimath vorzieht. Auch Neger und mit bunten Kopftüchern geschmückte Sclavinnen machten sich oben im Paradiese über das Publicum im Parterre lustig, zeigten grinsend ihre weißen Zähne und unterhielten ein fortwährendes Bombardement mit Orangen. Nichts konnte die fieberhafte Spannung übertreffen, mit der die Zuschauer der Handlung des Stückes folgten, und als fast in jedem Acte Mord und Giftmischerei vorkam, war des Beifallklatschens kein Ende. Zuletzt, als in der letzten Scene der Zwillingsbruder des gemeuchelten Corsen dem Todfeind seiner Familie erscheint und von diesem für den Geist des von seinen Händen Gefallenen gehalten wird, war des Jubels kein Ende, denn die New-Orleanser haben starke Nerven. „Give it to him, tuez, mata,“ tönte es von allen Bänken, und selbst die zarten Creolinnen lehnten sich weit über die Einfassung der Logen heraus, um ja den unblutigen Bühnenmord recht zu genießen. Kurz und gut, es war eine Scene, welche einen deutschen Hoftheaterintendanten und ditto Polizeicommissair zur Verzweiflung gebracht haben würde.

Endlich rollte der Vorhang auf. Ich hatte erwartet, daß das Proscenium jetzt durch ein sicheres eisernes Gitter oder eine ähnliche Vorrichtung von dem Orchester und dem Publicum abgesperrt sein würde, allein von alledem war keine Spur zu sehen, die Musiker intonirten ruhig „Eine feste Burg ist unser Gott“, und die Decorationen stellten eine wilde Waldgegend, ähnlich wie die Wolfsschlucht dargestellt wird, vor. Mag es die majestätische Melodie gewesen sein oder spannende Erwartung, oder vielleicht auch Furcht, die bei solchen Schauspielen selbst den Muthigsten befällt, es wurde still im ganzen Hause. Da erschien nun Driesbach aus der Seitencoulisse in der Tracht eines römischen Haussclaven aus der Kaiserzeit, schritt wie ein auf den Tod Ermüdeter wankend über die Bühne und sank endlich betend auf die Kniee, während man in der Ferne dumpfes Hundegebell und den Lärm der Verfolger hörte. Der gehetzte Christensclave konnte nicht weiter, das Getöse der Suchenden verlor sich, und der ermattete Mann, nachdem er noch einen Blick des Dankes nach oben gerichtet hatte, legte sich am Fuße eines Felsens zur Ruhe und versank in tiefen Schlummer. So weit war die Pantomime meisterhaft ausgeführt und hätte dem größten Schauspieler Ehre gemacht, nun kam aber die Reihe an das wilde Thier. Auf einmal hörte man das grollende Knurren des Tigers, der dicke Kopf des Raubthiers erschien in einer finstern Spalte, keine 6 Fuß über dem Haupte des ruhig Schlafenden, und ein Paar grüner Augen reflectirten den sparsamen Schein der Gasflammen in unheimlicher Weise. Immer deutlicher entwickelte sich die kolossale Gestalt des buntgefleckten Jaguars aus dem dunkeln Felsrisse, schon sah man, wie die Bestie sich die breiten Flanken mit dem geringelten Schwanze peitschte, da machte der Schläfer eine Bewegung, und der Tiger sprang unter entsetzlichem Gebrüll auf seine eingebildete Beute hinab. … Doch in demselben Augenblick fiel der Vorhang blitzschnell herunter und entzog dem athemlos hinstarrenden Publicum den Anblick des scheinbar so ungleichen Kampfes. Der großen Stille folgte nun ein gewaltiges Toben, Alles schrie und applaudirte durcheinander, die zarten Ladies klatschten, daß ihnen die Handschuhe an den zierlichen Händen platzten, und die Musik begann das „star spangled banner“ zu spielen. Als der Vorhang wieder aufging, sah man ein anderes nicht minder aufregendes Tableau. Der Jaguar stand aufrecht auf den Hinterfüßen, scheinbar im verzweifelten Ringkampf mit seinem Gegner begriffen, der ihn an der Kehle gefaßt hatte. Jetzt konnte man die massige Größe des Thieres ermessen, welches den großen und breitschultrigen Driesbach fast um eine Kopflänge überragte. Diese Scene, welche einen Tiberius in Entzücken versetzt haben würde, dauerte nur eine Minute, da der Vorhang gleich wieder fiel, doch lange genug, um der Rohheit eines Theils des Publicums vollen Spielraum zu geben. Aus dem Parterre heraus riefen mehrere Stimmen „sicke, sicke,“ ein Ausruf, dessen sich die Sportsmänner bedienen, um bissige Hunde auf einander zu hetzen, und der ungefähr dasselbe bedeutet, wie das deutsche „Pack an“. Das dritte Tableau stellte den vollständigen Sieg des Menschen über die wilde Bestie dar, indem der Tiger platt auf der Seite lag, den Kopf auf der Erde, und Driesbach in imponirender aufrechter Haltung demselben den rechten Fuß auf den Nacken setzte, während er verächtliche Blicke nach der Gegend warf, aus welcher jene brutalen Rufe gekommen waren. Im zweiten Theile der Vorstellung spielte die bekannte Geschichte des Androclus, der dem Wüstenkönig den Dorn aus dem Fuße zieht. Nero, der maroccanische Löwe, spielte seine Rolle ausgezeichnet und brüllte, als er auf den entflohenen Sclaven losgelassen wurde, so natürlich, daß das ganze Haus bebte. Wie es Driesbach dahin gebracht hat, daß das anscheinend so wüthende Thier plötzlich zur größten Sanftmuth überging, ist mir noch heute unerklärlich, obgleich ich seither in manche Geheimnisse der Thierbändiger eingeweiht wurde. Jedenfalls war des Arrangement der beiden Tableaux, welche die Höhle des Androclus und ein Segment des Circus maximus vorstellten, künstlerisch gehalten, abgesehen von der wundervollen Gelehrigkeit des Löwen, welcher seine Rolle mit der Gefühlsfrische und dem Pathos eines Devrient spielte. Wie sehr Driesbach seine Thiere in der Gewalt haben mußte, ging daraus hervor, daß die Coulisseschieber im unbedingten Vertrauen auf denselben ihre Pflicht thaten, als wenn Rochus Pumpernickel über die Bühne ritte, und daß die Musiker dicht unter dem Proscenium ruhig fortspielten, ohne bei dem Brüllen der Bestien aus dem Takte zu kommen; ob letztere selbst nicht aus dem Takte kommen würden, wenn man ihnen eine Hammelkeule auf die Breter werfen würde, möchte ich dahingestellt sein lassen.

Einige Jahre später fügte es der Zufall, daß ich mit Driesbach wieder in einer großen westlichen Stadt zusammentraf und dessen nähere Bekanntschaft machte. Ich erfuhr von ihm, daß er in früher Jugend mit seinem Vater, einem verabschiedeten Officier des ehemaligen Königreichs Westphalen, in das Land gekommen sei. Letzterer sei bald darauf gestorben, und so habe er sich als mittelloser Waisenknabe einer englischen Circustruppe angeschlossen, mit der er herumgezogen sei, bis ihm der Zufall „Cuvier’s Naturgeschichte des Katzengeschlechts“ in die Hände gespielt habe. Von da an habe er ein ungewöhnliches Interesse an diesen Thieren genommen und deren Naturell genau studirt. Kein Raubthier ist so wild, daß der energische und intelligente Beobachter es nicht vollständig zähmen könnte. Auf meine Frage, ob er sich denn geheimer Mittel und Kniffe bediene, um seine Löwen und Tiger zu zähmen, antwortete er: „Ja, ja, ich kenne sie alle, aber sie taugen sammt und sonders nichts! Da rühmt sich der Eine, er könne den Bestien ein Schaf in den Rachen halten, ohne daß dieselben zugriffen. Das geht ganz natürlich zu; man schmiert den Hammel mit Terpentinöl ein, und da schaudern begreiflicher Weise die Thiere zurück. Das mag hundert Mal gut gehen, aber einmal doch hat der Tiger den Schnupfen, riecht nichts und faßt zu, wobei es sich sehr gut ereignen kann, daß er dem Manne den Arm abbeißt. Die Hauptsache ist, daß die Thiere vor jeder Vorstellung gut gefüttert werden, die magnetische Macht der Augen und die Kraft der Arme kennen lernen und das Glüheisen fürchten. Ich glaube an die Seelenwanderung und vermuthe, daß ich in einem frühern Leben einmal so eine wilde Bestie gewesen bin, und so kommen diese mir oft vor, als wenn sie meine Basen und Vettern waren, und ich behandle sie danach. Auch die Sprache der Thiere glaube ich zu verstehen. Das tiefe Knurren des Löwen, welches vom Publicum für verkappten Grimm gehalten wird, erscheint mir als das innere Behagen einem Mannes, der sich satt gegessen hat. Ich bin überzeugt, daß mein Jaguar jedes meiner Worte versteht, wie ich auch alle Modulationen seines Brüllens zu deuten weiß.“

Als ich nun zu erfahren suchte, ob er nie in Gefahr gewesen sei, von seinen Zöglingen zerrissen zu werden, sagte er: „Nie! ausgenommen es war denn menschliche Bosheit im Spiel. Glauben Sie, die vierfüßigen Bestien fürchte ich nicht, aber sie werden mitunter von zweifüßigen verführt, und diese flößen ihnen ihre eigene Bosheit ein. Sehen Sie,“ fuhr er fort, indem er seinen linken Aermel aufstreifte und mir eine häßliche große Narbe am Vorderarm zeigte, „diese Wunde verdanke ich der Niederträchtigkeit eines Geschöpfs, das ich längere Zeit in meiner Menagerie beschäftigte und dem ich immer freundlich entgegen gekommen war.“

[16] „Wenn ich nicht indiscret sein darf, Herr Driesbach, theilen Sie mir die Geschichte mit,“ sagte ich.

„Ach, das ist eine traurige Geschichte,“ sagte er, und ein trüber Schatten flog über sein schönes Gesicht. „Ich verlor dabei einen braven Freund, welcher vor meinen eigenen Augen zerrissen wurde, ohne daß ich ihm helfen konnte. Hören Sie. Vor ungefahr zehn Jahren fand ich in Baltimore einen hülflosen deutschen Emigrantenknaben, dessen Eltern auf der Ueberfahrt gestorben waren. Der Junge gefiel mir, da er ein gutes Gesicht hatte und anstellig schien. Anfangs verwandte ich ihn zu leichtern Arbeiten, zum Zetteltragen und dergleichen; da er aber einen furchtlosen Charakter hatte und ein unerschrockenes Auge, so lernte ich ihn an, und bald ließ er die Wölfe durch den Reif springen, daß es einem wohl that. George, so hieß er, wuchs immer mehr heran, und sein Körper versprach wahrhaft athletische Formen; dabei war er treu wie Gold und machte seinem Lehrer in jeder Beziehung Ehre, so daß ich eine wahre Freundschaft für ihn empfand. Zu derselben Zeit hatte ich einen Irländer Mike (Michael) zum Gehülfen, einen rohen Patron, den ich zum Metzger der Menagerie degradiren mußte, weil er ein Trunkenbold war und einmal im Rausch grausamer Weise einem ganz zahmen Jagdleoparden ein Auge mit dem Eisen ausgebrannt hatte. Dieser Bursch warf einen verstockten Zorn auf George, weil letzterer von jener Zeit an als zweiter Darsteller an seiner Stelle mit dem größten Beifall auftrat. Hätte ich ahnen können, welch ein hartgesottener Schurke dieser Mike war, so würde ich ihn augenblicklich entlassen haben, so konnte ich ihn aber nicht gut entbehren, well er mit der Wartung und Plege der Thiere genau vertraut war und ein unerfahrener Mann damit viel Schaden stiften kann. Zu dieser Zeit hatten wir eine bengalische Tigerin, Flora genannt, deren Abrichtung mir viel Mühe und Zeit kostete. Es ist ja bekannt, daß die weiblichen Thiere viel schwerer zu zähmen sind, da manche Mittel, die wir bei den Männchen anwenden, hier wegfallen. Ich sah es deshalb nicht gern, daß George zu ihr ging, da ich sie positiv für die gefährlichste Bestie in der ganzen Menagerie hielt. Indessen er war ehrgeizig und bat mich inständig, ihm die ganze Dressur zu überlassen; vielleicht hätte auch der brave junge Mann kein Unglück gehabt, wenn Mike seine höllische Hand nicht mit im Spiel gehabt hätte. Ja, diese höllische Hand war auch blutig, und ich habe das leider an mir selbst erfahren, als es fast für mich zu spät war.

Es war in Charleston, als George am Ende der Vorstellung in den Käfig der Tigerin trat, um sie die gelernten Sprünge machen zu lassen, während ich zufällig in einem entferntern Theile der Menagerie beschäftigt war. Plötzlich höre ich ein Gebrüll, das ich augenblicklich als das der Flora erkannte und das von dem gewöhnlichen Gutturalton so verschieden war, daß mir die Haare zu Berge standen. In einem Nu hin ich vor dem Käfig und sehe mit Schrecken, wie George am Boden liegt, während die Tigerin über ihm steht. Sie hatte ihn mit einem Schlage der Vorderpfote vollständig scalpirt und ihm das Genick gebrochen. Alles schrie durch einander und flüchtete, während Mike mir auf meinen Ruf die Büchse brachte. Ich drücke ab, das Gewehr versagt; was war nun zu thun? Dem jungen Manne konnte Niemand mehr helfen, denn er war offenbar todt; nur seine Leiche vor weiterer Verstümmelung zu schützen, das war meine Aufgabe. Die Bestie, welche durch meine Stimme und meinen Blick eingeschüchtert war, wagte nicht ihr mörderisches Werk fortzusetzen, sondern zog sich zähnefletschend in den hintersten Winkel des Käfigs zurück und leckte lüstern ihre blutige Pfote, gierige Blicke auf die Leiche werfend. Als Mike eine neue Büchse brachte, befahl ich ihm das Thier bei der ersten Bewegung zu erschießen und stürzte dann um die lange Wagenreihe herum, um von hinten in den Käfig zu kommen. Unbewaffnet wie ich war, öffnete ich die Thür, trat ein und ergriff den warmen Körper meines Freundes, den ich auch ohne weitere Verstümmelung in Sicherheit brachte. Mein erster Gedanke war dann, die Flora für immer unschädlich zu machen, indessen besann ich mich bald anders und beschloß, trotzdem daß die Bestie nun doppelt gefährlich sein mußte, ihr zu zeigen, daß ich ihr Herr und Meister sei. Ich wollte auf solche Weise mit ihr umspringen, daß ihr die Widersetzlichkeit für immer vergehen sollte. Nachdem ich für ein ehrenvolles Begräbniß meines Freundes gesorgt hatte, schiffte ich mich mit der Menagerie nach der Havanna ein, wo mir die Behörden nicht weit vom Tacontheater eine unbenutzte Reitbahn einräumten. –

Bald nach meiner Ankunft ließ mir der Generalcapitain sagen, daß er bei der ersten Vorstellung mit seinem Stabe gegenwärtig sein wolle. Sie wissen ja, die Dons lieben dergleichen Sachen, sind sie doch die eifrigsten Freunde der Stiergefechte. Da die andern Thiere nun eine vollkommene Dressur besaßen, beschloß ich Flora allein noch einmal vorzunehmen und ihre lauernde Tücke in blinden Gehorsam zu verwandeln. Es war gegen Abend nach der Fütterung, als ich die letzte Probe mit ihr vornehmen wollte, um sie den nächsten Tag als ein ganz dociles Thier vorführen zu können. In dem Locale war außer einem Paar untergeordneter Wärter, die eben von einem Auftrage zurückgekehrt waren, Niemand weiter, als Mike gegenwärtig, der wie gewöhnlich den Nachmittag die Fleischrationen an die Raubthiere vertheilt hatte, wie dieses sein Geschäft war. Ich fragte ihn, ob Alles in Ordnung sei, und ob die Tigerin gut gefressen habe. Der Irländer antwortet: „Noch nie hat Flora einen so guten Appetit gezeigt, wie heute,“ was mich beruhigte, da ich den zweideutigen Sinn nicht verstand. Ich trat vor den Käfig hin und sah, daß sie zwischen den Vorderpfoten einen nackten Schenkelknochen hielt, indessen lag etwas in ihrem Blick und ihrem Knurren, was mir auffiel, so daß ich mich nicht mit der gewöhnlichen Peitsche, sondern mit der schweren, deren Griff einen Todtschläger enthält, bewaffnete. Ich trat ein und hatte Mühe die Bestie aus ihrer Ecke auf die Beine zu bringen; durch Drohungen und Schläge brachte ich es endlich so weit, daß sie durch den Reif sprang, aber sie suchte stets in ihre Ecke wieder zurückzukehren, während sie mir giftige Blicke zuwarf. Ich zwang sie dann, den Sprung noch ein halbes Dutzend Mal zu wiederholen, worauf ich sie beim Ohre faßte und mir gegenüber auf die Hinterbeine stellte. Sie haben ja das Manöver oft genug gesehen. Da, als ich ihren Kopf dem meinigen gerade gegenüber sah, merkte ich, daß sie Böses im Schilde führte. Ich fühlte, daß ihre Augen sich meinem Blicke zu entziehen suchten, und gewahrte, daß die Spalte ihrer Pupillen sich haarfein gestaltete. In demselben Augenblick bemerke ich, daß auf meinem linken Aermel Blutflecke waren, und der Gedanke, daß Mike mich absichtlich mit seinen noch blutigen Händen berührt habe, schoß mir durch das Gehirn. Ich hatte keine Zeit diesen Gedanken zu fassen, als ich auch schon sah, wie sich die Tatzen des Ungethüms zum Schlage zusammenzogen. Aber blitzschnell und ehe die Bestie noch ordentlich zugreifen konnte, holte ich auch aus und traf sie mit aller Gewalt mit dem Todtschläger dermaßen zwischen die falschen Augen, daß sie augenblicklich zusammenbrach und kein Glied mehr rührte. Hätte sie mehr Zeit gehabt, würde sie mir den Arm ohne Frage amputirt haben, so aber kam ich mit einer freilich abscheulichen Fleischwunde davon, die mir lange genug zu schaffen gemacht hat.

Blutend stürzte ich aus dem Käfig, um an dem Irländer meine Rache zu kühlen, indessen Mike hatte sich, als er das Resultat sah, eiligst aus der Stadt begeben. Anzeige wurde gemacht, und da der Generalcapitain sich selbst für mich interessirte, konnte es nicht lange dauern, bis er in Eisen saß. Man hatte ihn am Fuß des Moro in einer jener berüchtigten catalanischen Kneipen, in denen sich die Mannschaft der Sclavenschiffe aufzuhalten pflegt, gefunden, wo er wahrscheinlich gehofft hatte, unbemerkt an Bord eines Fahrzeuges zu kommen. Dem Richter in meiner Gegenwart vorgeführt, konnte er nicht leugnen und gestand Alles. Seit ich ihn aus guten Gründen degradirt hatte, war er nur deshalb in meinen Diensten geblieben, um sich an mir und George zu rächen; er hätte ja leicht als gelernter Metzger ein anderes Unterkommen finden können. Um meinen jungen Freund und mich zu verderben, hatte er ein und dasselbe Stratagem benutzt, indem er der Tigerin ihre Fleischration entzog und, um der Entdeckung zu entgehen, ihr ein Paar abgeschälter Knochen in den Käfig warf, so daß die Bestie den Hunger doppelt fühlte. Um sie noch mehr aufzustacheln, hatte er es so einzurichten gewußt, daß er uns Beide, kurze Zeit bevor wir zu der Tigerin eintraten, mit seinen blutigen Metzgerhänden berührte, und Blut ist ja ein ganz besonderer Saft. So konnte es denn nicht ausbleiben, daß das bösartige Thier seinem unwiderstehlichen Instincte gemäß alle Dressur vergaß und zupackte. George, der weniger erfahren und kaum halb so stark war als ich, wurde auf diese Weise ein Opfer der Bosheit des Irländers, und ich entkam demselben Schicksal nur, weil ich zufällig mit der schweren Waffe versehen war. Mike wurde nach spanischer Weise durch die Garotte hingerichtet, und die verhängnißvolle Schraube brach ihm ebenso unbarmherzig das Genick, wie die grausame Pfote der Tigerin das meines beklagenswerthen Freundes.“ –

T. v. B.


An die Freunde der Gartenlaube

Der Unterzeichnete erlaubt sich nochmals auf das „Beiblatt zur Gartenlaube“ aufmerksam zu machen, welches bestimmt ist, unter der Redaction Berthold Auerbach’s, des bewährten Volksschriftstellers, eine nothwendige, zugleich aber auch schöne Ergänzung der Gartenlaube zu bilden. Wenn es der Gartenlaube bisher nicht vergönnt, unmittelbar in die Fragen der Zeit belehrend und anregend einzugreifen, wenn die Fülle des gebotenen Stoffes sie bis heute meist verhinderte, den Aufgaben des innern und äußern Lebens eine fortlaufende und eindringliche Berücksichtigung zuzuwenden – und wenn namentlich in den letzten Jahren durch die Größe der illustrirten Auflage und deren zeitraubende Herstellung jede Gelegenheit zur schnellern und dadurch wirksamern Mittheilung der Zeitereignisse und deren anregenden Beleuchtung genommen wurde, so soll nunmehr durch die

Deutschen Blätter

diese Aufgabe unter der Leitung des genannten Volksschriftstellers in bestem Maße erfüllt werden. Die glänzende Theilnahme, mit der die bis jetzt erschienenen Nummern von der deutschen Lesewelt aufgenommen wurden, beweist hinlänglich, wie richtig Auerbach seine Aufgabe erfaßt und gelöst hat.

Alle Fragen der Zeit also, sowohl die eines jeden Menschen in sich, in seinem Hause, in der Familie, in der Geimiende, sowie die der Kunst und Literatur und des öffentlichen Lebens, sollen den Lesern der Fartenlaube in anmuthiger, knapper und an’s Herz greifender Weise dargelegt und klar gemacht werden. Auch die Fragen der Politik werden, wenn es nöthig sein sollte, in den Bereich unseres Blattes gezogen werden, wie denn überhaupt, wo es gilt den Schmerz des Volkes und den Jammer des einzelnen aussprechen, wo es Pflicht wird den Anmaßungen der Gewalt von oben oder unten entgegenzutreten, das Beiblatt so wenig schweigen wird, wie es das Hauptblatt gethan.

Ich biete hiermit den in so erhebender Weise stets treuen und anhänglichen Freunden meiner Gartenlaube kein großes und weitschichtiges Organ, wohl aber in gedrängter Form nach des Tages Mühen und Lasten eine innere Labung für Gemüth und Verstand, die ihnen hoffentlich mit eder Woche eine stets willkommene Herzensfreude werden wird. Um aber auch den Aermsten meiner Leser die Anschaffung dieser Beigabe zu erleichtern, habe ich für die Abonnenten der Gartenlaube – den Preis des Vierteljahrs auf nur

6 Rgr. = 36 Neu-Kr. öster. W. = 21. Kr. rhn.

gestellt, während Nichtabonnenten der Gartenlaube 12 Rgr. oder 72 Kr. zu zahlen haben. Selbstverständlich findet dabei kein Zwang statt, und steht es den Abonnenten vollständig frei, auf das Beiblatt zu abonniren oder nicht.

Versucht es also auch mit diesem Blättchen, und – damit Gott befohlen!

Leipzig, Anfang Januar 1863.

Ernst Keil


  1. Verfasser des an vielen Bühnen mit Beifall aufgeführten Dramas: „Marfa“.
  2. Die Aussage ging in Erfüllung. Baylus kam nach drei Tagen frei, da Robespierre’s Einfluß bereits sank. Der Graf bewahrte die Dose heilig. Er hatte nur die goldene Einfassung abgetrennt und solche seinen Wächtern gegeben, um ihre Habsucht nicht zu reizen, welche sonst die ganze Dose an sich gerissen hätten.
  3. Fouquier Tinville ward 1795 guillotinirt, weil er so viele Franzosen unschuldig geschlachtet habe (!). Auf dem Wege zur Richtstätte fiel er mehrere Male in Ohnmacht. Er schrie: das Blut erstickt mich! Er hatte die fixe Idee, er müsse durch ein Blutmeer waten.
  4. Mit diesen Worten soll d’Alembert Franklin bei dessen Aufnahme in die Akademie begrüßt haben. Wer der Erfinder war, bleibe dahingestellt.
  5. Bruchstück aus dem demnächst erscheinenden Reisewerke, betitelt: „Nordfahrt längst der Küste Norwegens bis zum Nordcap, den Inseln Jan Meyen und Island, auf dem Schooner Joachim Hinrich, von Dr. Georg Berna in Begleitung voll C. Vogt, A. Greßly, H. Hasselhorst und A. Herzen, erzählt von Carl Vogt. Mit vielen Illustrationen in Holzschnitt und Farbendruck nach Zeichnungen von Hasselhorst.“ Ein starker Band von etwa 30 Bogen groß Octav. – Dr. Berna aus Frankfurt hatte die übrigen Theilnehmer der Reise eingeladen, ihn auf dieser Sommerfahrt um das Nordmeer, die beinahe fünf volle Monate in Anspruch nahm, zu begleiten. Ein eigenes Schiff, mit vortrefflichen Seeleuten bemannt, war in Hamburg auf das Vollständigste zum Zwecke einer wissenschaftlichen Vergnügnugsreise ausgerüstet worden. Die Kosten der ganzen Reise, sowie der Gesammtausrüstung wurden von Dr. Berna allein getragen, und wir können diese That eines begüterten Privatmannes um so mehr als ein der Nachahmung würdiges Beispiel aufstellen, als auf diesem Wege einigen Naturforschern Gelegenheit gegeben wurde, Gegenden zu bereisen, die ihnen sonst wohl in keiner Weise zugänglich geworden waren.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: George Hiltt.
  2. Vorlage: Hüherhund