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Der Verbannte von Brighton

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Textdaten
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Autor: H. B.
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Titel: Der Verbannte von Brighton
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Verbannte von Brighton.

Vor mehr als dreißig Jahren begrüßten wir auf der lateinischen Schule der Franke’schen Stiftungen zu Halle einen neuen Lehrer, der Ruge hieß, Dr. Arnold Ruge. Wir sollten bei ihm deutsche Verse machen lernen. Wir liebten ihn sofort und hatten alle aufrichtigen Respect vor ihm, ohne daß er jemals etwas der Art gefordert hätte, wie dies andere Lehrer vergebens thaten. Wer von uns keinen Vers machen lernte, setzte doch immer Himmel und Hölle in Bewegung, die aufgegebenen Hexameter, Distichen, Jamben und Reime aus dem Gehirn Anderer zu liefern, blos um dem einen Blicke oder Worte des Vorwurfs oder Spottes vom Katheder herab zu entgehen.

Jeder von uns sah ohne Weiteres mit dem scharfen Blick der Jugend für die Vorzüge und Schwächen der Lehrer nicht blos den geharnischten Helden gründlichen Wissens und lebendigen, anregenden Vortrags, sondern noch mehr den kernigen, edeln Mann in seiner ungeschminkten, ich möchte sagen, naiven Würde, ganz nüchtern, ohne alle Phrase und müßige Zuthat.

Ruge personificirt ganz wesentlich den Geist der letzten funfzig Jahre, der Freiheitskriege, in deren höchsten wissenschaftlichen und praktisch-politischen Folgerungen und Forderungen. Das ungeheuere Trauerspiel dieser von Regierungen unterdrückten, vom Volke verlotterten Forderungen und Früchte geht mitten durch sein Leben und alle seine wahrhaft heldenmüthige Thätigkeit. Er personificirt diese Zeit zugleich in einer so sittlich reinen, nüchtern norddeutschen, logisch scharfen, wissenschaftlich starken, sonnenhaft durch sich selbst klaren und leuchtenden Individualität, er hat dem Inhalte dieser unserer Zeit durch Worte und Werke und namentlich einst durch die Hallisch-Deutschen Jahrbücher einen so mächtigen Ausdruck gegeben, daß wir hier, kurz nach jenen Feierlichkeiten, welche zu Ehren der nach funfzig Jahren auferstandenen Geister der Freiheitskriege in’s Leben gerufen wurden, just zur rechten Zeit uns an einem solchen Leben erquicken, durch einen solchen Mann ermannen lernen mögen. Noch jetzt als Verbannter ruft er uns vom Meere herüber zu: „Tod, wo ist Dein Stachel? Hölle, wo ist Dein Sieg? Nichts ist todt. Wir haben nicht umsonst gekämpft und gelitten. Gerade jetzt und nun erst nach funfzig Jahren fangen wir an, in diesem Geiste der Freiheit zu leben und zu fordern.“

„Bei der damaligen Umwandlung glich Deutschland dem Löwen, welchem Don Quixote den Käfig aufmachte. Er war seinen Käfig so gewohnt, daß er nicht herauskam. Oder es glich einem Schlaftrunkenen, dem die Sonne in’s Gesicht scheint und der sich herumdreht, um weiter zu schnarchen. Vor funfzig Jahren legte das Volk einen vollständigen Mangel aller politischen Fähigkeit an den Tag, ja sogar das Bewußtsein von einem freien Gemeindewesen fehlte ihm.“

Und jetzt? „Ebenso allgemein als die Forderung, daß Volk und Staat einig seien, ist die der Selbstregierung. Sie ist nicht mehr die Theorie einiger Freunde der englisch-amerikanischen Freiheit, sondern Eigenthum aller denkenden Deutschen.“

Dies sind einige Stellen aus der unbefangenen, bis jetzt in zwei Bänden erschienenen Selbstbiographie Ruge’s: „Aus früherer Zeit“, worin die tröstliche Thatsache, daß der Geist der Freiheitskriege, damals blos ein dumpfer Unabhängigkeitskampf gegen einen Eroberer, jetzt zum klaren, in allem Volke lebendigen Streben nach Unabhängigkeit zu Hause geworden, ebenso männlich als überzeugend bewiesen und uns ermuthigend an’s Herz gelegt wird.

Er spricht also, obgleich ein Sechziger und Verbannter, noch mit ungeschwächter Kraft und Ueberzeugung ermuthigend mitten in unsere höchsten Bestrebungen und Kämpfe hinein. Den Mann wollen wir näher kennen lernen. Ruge stammt von der Insel Rügen, in deren Hauptstadt Bergen er am 13. September 1803 geboren ward. Sein Vater war damals Verwalter der Güter des Grafen Braße, der, als er seine Kossäthen von Hörigkeit und Frohn befreien wollte, beinahe eine Revolution seiner Leibeigenen gegen sich hervorrief, die sich endlich nur befreien ließen, weil sie es nicht hindern konnten. So sagt Ruge selbst in seiner Selbstbiographie und setzt hinzu. „Die, welche mir Schuld geben, ich hätte den Deutschen immer zu viel zugetraut, wissen nicht, wie früh ich ihr Talent kennen gelernt, sich ihren Befreiern zu widersetzen.“

Sein Vater pachtete sich schon 1804 selbst ein Gut zu Bismitz auf Jasmund an der Ostküste von Rügen. Hier im Thale, von Wogen und Jasmunds blauwellig umspülter weißer Felsenbrust umgeben, von Buchenwäldern, Wassermühle, Forellenbach, Uferbergen, grünen Weiden, weidenden Thieren, Füchsen und Seehunden, von ländlichen und Meer-Schönheiten, erzogen von einem strengrechtlichen, gutherzigen Vater und einer ebenso geistvollen als körperlich starken Mutter, die einmal einen Franzosen, der sie auf den Arm gehauen, eigenhändig und allein mit einem Besenstiele so nachdrücklich zerbläute, daß er betäubt auf dem Hausflur liegen blieb und auf Befehl der zornigen Mutter liegen bleiben mußte, bis er von selber wieder aufstand (der französische Officier, der kam, um die Sache zu untersuchen, gab ihr Recht und setzte hinzu, daß sie, die Franzosen, Deutschland nicht zu sehen gekriegt hätten, wenn die große Nation Napoleon’s Angriffe so erwidert hätte, wie sie, Ruge’s Mutter) – so gesund und stark entsprossen und in solcher Umgebung zum ersten Bewußtsein erwachend, dann schon als Kind persönlich von der Franzosen Herrschaft berührt, daß er eines Nachts in einem dunkeln Gange des Gartens niederkniete und betete, der Tyrann möge zu Grunde gehen, oder er wolle ihn mit eigener Hand erstechen, endlich in und auf Schulen in Bergen, Langenhavshagen und Stralsund schon im 17. Jahre zum sprüchwörtlichen „Altklug“ geworden, fuhr er zu Ostern 1821 als „ganz vernünftiger, junger Fuchs“ mit zweihundert harten Thalern im Ränzel auf einem Hühnerwagen nach Halle hinein auf die Universität.

Mit diesem langen Satze haben wir die ganze Kind-, Knaben- und Schulzeit gleichsam übersprungen, obgleich „diese Welt der Kindheit größere Aufmerksamkeit verdient, als ihr gewöhnlich gewidmet wird.“ Blos weil wir innerhalb eines beschränkten Raumes das ganze bisherige Leben unseres Helden in seinen reichhaltigen Hauptzügen wenigstens andeuten müssen, können wir uns mit dieser frischen Jugend ebenso wenig aufhalten, wie mit der noch bedeutungsvolleren Universitätszeit, der Ruge den ganzen zweiten Band seiner Selbstbiographie[1] widmet. Wer aber nicht nur ein Muster sittlicher Strenge, muthigen Handelns, edler Resignation, riesigen Fleißes, muthigen Kampfes gegen die Albernheiten des alten Studententhums und den Reformator selbst kennen und achten lernen, sondern sich auch das klarste, reichste, lebenswahre Bild von dem damaligen Geiste der Universitäten verschaffen will, der muß diesen Band lesen. Ruge besuchte fast alle Universitäten als Hauptträger oder echter Bevollmächtigter der Burschenschaft, ihrer Bestrebungen, Pläne, Reformen, Vereine und Verschwörungen.

Wir wollen uns bei der Burschenschaft nicht weiter aufhalten: „sie hatte doch nur das Gefühl und den Glauben der Freiheit,“ sagt Ruge selbst; „die verwirklichte Freiheit war uns dann die Philosophie, und eben dieses Bewußtsein gab uns damals und giebt

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Arnold Ruge.
Nach einer Photographie aus dem Jahre 1863.

uns noch die Erhabenheit über das Gesindel, das nur ausschlägt, wenn’s wild wird, aber doch der Allgewalt der Entwicklung weichen muß, die in der Philosophie vornweg genommen wird.“ – Daher später der strenge, unbarmherzige Philosoph Ruge.

Als Hauptvertreter der neuen, sittlich strengen Burschenschaft und des Jünglingsbundes besuchte er, wie gesagt, fast alle Universitäten Deutschlands und der Schweiz. Nie hat Jemand etwas Schlagenderes gegen das Duell gesagt, als Ruge der Student, wie wir’s im zweiten Bande seiner Selbstbiographie finden. Die Polizei verfolgte den Freiheitsgeist der Studenten und diesen sittlichen Ernst der Jugend zu Gunsten landsmannschaftlicher Liederlichkeit und pietistischer Schwanzwedelei Jahre lang und bevölkerte die Gefängnisse größtentheils bei Nacht und Nebel mit immer neuen Opfern.

So ward auch Ruge in einer Januars-Mitternacht 1824 von einem „quäkenden Regierungsrath“ zu Heidelberg „im Namen des Großherzogs“ (nicht des Gesetzes) als Hochverräther verhaftet. Die Thätigkeit der Kamptz und Tzschoppe’s[WS 1] schaffte eine ganze Menge Jünglingsbündler herbei und hielt sie das ganze Jahr hindurch in Untersuchungshaft. Die Meisten wurden endlich zu 15 jähriger Festungsstrafe verurtheilt, darunter Ruge. Nachdem er fünf Jahre lang auf der Festung Coblenz tief und anhaltend studirt und sich sprachlich und philosophisch zu einem Kerngelehrten ausgebildet hatte, wurde er und mehrere Mitgefangene entlassen. Sofort trat er mit dem Geiste der Freiheitskriege wieder auf, er ließ in Stralsund das Trauerspiel „Schill und die Seinen“ veröffentlichen.

In Jena zum Dr. phil. promovirt, arbeitete er vorzugsweise als sehr bald gefürchteter Kritiker mit an den „Blättern für literarische Unterhaltung“.

Wie die Julirevolution von 1830 auf ihn wirkte, werden wir erst ordentlich im dritten Bande seiner Selbstbiographie erfahren. Er ließ sich aber praktisch nicht stören und benutzte die ihm gewordene Erlaubniß, wieder ohne polizeiliches Hinderniß von seiner Arbeit leben zu dürfen, zunächst dazu, in den Franke’schen Stiftungen zu Halle sein Probejahr als Lehrer durchzumachen. Hier, mit der Familie des Kanzlers Niemeyer befreundet, verlebte er glückliche Tage praktischen und poetischen Schaffens. Auf Grund seiner „Platonischen Aesthetik“ wird er Privat-Docent der Universität und verheirathet sich mit Fräulein Louise Düffer, wodurch er zugleich in Besitz eines bedeutenden Vermögens gelangt. Die Honig-Monde werden zu einem Jahre in Italien, besonders in Rom. Dann studirt er in Giebichenstein bei Halle die Philosophie Hegel’s und lehrt sie uns Studenten als Logik, Metaphysik, Politik und Aesthetik bis 1837. Ich war und blieb mit Wenigen ausdauernd sein Zuhörer, und das einzige Heft, welches ich mir je auf der Universität binden ließ, war die Aesthetik von Ruge. Ich und fünf bis sechs Andere, wir hielten’s aus bei ihm. Alle Andern blieben weg; es war ihnen zu starke Kost, vorgetragen in einer streng logischen „reinen Begriffs-Bewegung“, holperig, unbarmherzig, ohne Zeit, sich zu erholen oder es niederzuschreiben. Da saß er auf dem Katheder fest und knorrig, beinahe unbeweglich, hellblond, durchdringend blauäugig, körperlich stark, beinahe massiv, aber ganz unsichtbare, dialektische Gedankenbewegung, ohne Farbe, ohne Fleisch und Blut, ohne Wärme, uns armen Studenten zumuthend, das ganz raum- und zeitlose, ewig schrankenlose Evangelium von der geistigen Freiheit, wie es Hegel in gewaltigen Bänden classisch niedergeschrieben hatte, in unsere freitischgenährten, tabaks- und torfrauch- und bierumnebelten Köpfe aufzunehmen. Es war harte, harte Arbeit für uns.

Als Wirth, Gatte und Vater in seinem Hause (am Franke-Platz mit einem schönen eigenen Garten) stieg er manchmal auf die liebenswürdigste, witzigste Art mitten in unsere Anschauungsweise herab, sang mit uns Studentenlieder, spielte mit der jungen [381] Frau[2] Federball, ließ den kleinen Richard auf dem Knie reiten und ging auf den Kieswegen so fest und zuversichtlich einher, daß sich jeder Fußtritt abdrückte, ein ganzer Mann der Freiheit und Sittlichkeit in Wissenschaft und Leben.

Aber das Universitäts-Katheder ward ihm zu eng. Er schuf sich 1837 die eigenste, mächtigste Wirksamkeit: die halleschen Jahrbücher. Die Jahrgänge 1837–42 und das in Leipzig unter dem Titel „Deutsche Jahrbücher“ fortgesetzte Bruchstück sind und bleiben die ewig siegreiche Schlacht bei Leipzig in Wissenschaft der Philosophie. Wer je in seinem Dünkel Miene machen sollte, über die unfruchtbare Philosophie die Nase zu rümpfen, der greife nach diesen Jahrbüchern. Preußen verbot endlich diese Jahrbücher. Ruge flüchtete nach Sachsen, aber auch hier wurde das Januarheft 1843 weggenommen und dem Verleger O. Wigand weiterer Druck verboten. Die zweite Kammer der Volksvertreter bestätigte das Verbot mit 54 gegen 6 Stimmen.

Ruge suchte sich nun eine Freistätte für Preßfreiheit außerhalb Deutschlands, in Paris. Hier dachte er mit Karl Marx und den Franzosen in „deutsch-französischen Jahrbüchern“ zusammen zu wirken, aber Ersterer zeigt, daß er kein Mensch und kein Mann der Wissenschaft, sondern giftiger Communist ist, Letztere verstehen gar nichts von deutscher Wissenschaft und können nicht mitarbeiten. Die deutsch-französischen Jahrbücher befinden sich jetzt im 5. und 6. Bande der gesammelten Schriften von Ruge und verkündeten 1844 ganz sicher die republikanische Revolution von 1848 in Frankreich, die constitutionelle in Deutschland voraus.

In Paris gescheitert, versucht er’s 1846 mit Julius Fröbel in Zürich, als Verlagsbuchhändler (literarisches Comptoir, Herwegh’sche Gedichte) weiter zu wirken. Auch als solcher verboten, fängt er 1847 das Verlags-Bureau in Leipzig an. Diesem verdanken wir die Veröffentlichung seiner bis dahin „sämmtlichen Werke“ in 10 Theilen mit den übersetzten „Briefen von Junius“, diesem ewig classischen Werke des echten Manneszornes in constitutionellen Staatsverhältnissen. Es sind seitdem noch 14 Werke hinzugekommen und zwei unter der Presse oder Feder. Wir können hier leider auf eine Würdigung derselben nicht eingehen und beschränken uns blos auf Erwähnung der nach unserer Meinung werthvollsten: „Das Komische“, erste wirklich philosophische Lösung dieses Begriffs und „verwickelten Processes“, „die Loge des Humanismus“, „Friedrich Schiller’s Leben“ (in St. Louis gedruckt und bei amerikanischen Schillerfeiern vorgetragen), „Uebertragung von Buckle’s Geschichte der Civilisation“ und „Aus früherer Zeit“, die in zwei Bänden erschienene und wahrscheinlich in zwei bis drei folgenden vollendete Darstellung und Kritik seines eigenen Lebens und Wirkens und unserer letzten sechzig Jahre. Mancherlei Dichtungen, Dramen, Novellen u. s. w. von Ruge sind zu kalt-classisch gerathen, als daß sie auf unsern wieder sentimental verdorbenen Geschmack hätten bedeutend wirken können. Mehrere, wie „die neue Welt“ (Trauerspiel) etc. kenne ich noch nicht, andere sind noch ungedruckt.

Den März 1848 erlebte Ruge in Leipzig, wo er besonders mit Nobert Blum verkehrt hatte. Der Minister Oberländer, der die deutschen Jahrbücher gegen Regierung und Kammer-Majorität vertheidigt hatte, bildete damals keinen feindlichen Gegensatz zum Ruge’schen Standpunkte.

Breslau wählte ihn für die deutsche Reichs-Versammlung nach Frankfurt. Hier verlangte Ruge mit seiner Partei: „Centralgewalt aus unserer Mitte gewählt, Unterordnung aller Fürsten unter diese Centralgewalt, also Einheit auf dem Boden der Freiheit“. Gagern’s „kühner Griff“ und das deutsche Parlament selbst versuchten’s mit Einheit ohne Freiheit und schufen jene verhängnißvolle Reichsverweserei mit unverantwortlicher Centralgewalt und ohne Verbindlichkeit gegen die Beschlüsse des Parlaments. Ruge hielt dies für Selbstabdankung der National-Versammlung, schied aus und nahm in Berlin die in Leipzig gegründete Reform wieder auf, weil nach seiner Ueberzeugung nun Alles auf Preußen und nichts mehr auf Frankfurt ankam. In Frankfurt hatte sich die Volksvertretung selbst umgebracht.

Die „Reform“, mit dem Privateigenthum Ruge’s, 60,000 Thlr., begründet, gelang und ergab, wie von Sachverständigen und durch den Absatz nachgewiesen war, jährlich einen anständigen Gewinn, als General von Wrangel mit seinen Truppen in Berlin einzog, die Nationalversammlung auflöste und die „Reform“ verbot. Da Ruge am Morgen nach dem Verbote die Zeitung trotzdem wie üblich erscheinen ließ, wurde die Druckerei geschlossen und er selbst mußte Berlin verlassen. Spätere Reclamationen um Rückerstattung seines Eigenthums blieben auch unter der „neuen Aera“ unbeantwortet. Ruge hat diese Angelegenheit und Correspondenz mit dem Ministerio der neuen Aera in einer englisch geschriebenen Broschüre dem Volke seiner zweiten Heimath, als gesetzlich englischer Bürger, zur Beurtheilung zugänglich gemacht.

Ruge, um seine Existenzmittel gebracht und heimathlos, begab sich nach Leipzig, dann mit der badenschen Gesandtschaft nach Paris.

In Folge der Niederlage Ledru Rollin’s am 13. Juni ward er auch von da vertrieben. Nach dem Siege der Contre-Revolution in ganz Europa, und in Leipzig durch Veruntreuung seines Verlagsgeschäfts (sein Commis B. verkaufte es für seine eigene Tasche), in Berlin durch Schließung seiner Druckerei aller seiner Habe beraubt, suchte und fand er eine Zuflucht in England. In London wollte ihm nichts gelingen. So siedelte er sich 1850 in Brighton am Meere, Frankreich gegenüber, in dem aristokratischen Vororte Londons an, wo die gute Gesellschaft im Herbst und Winter jedesmal bis zur Parlaments-Eröffnung an der Meeresküste entlang wohnt, fährt, reitet und sich amüsirt. Hier schuf er sich durch harte Arbeit und eiserne Ausdauer, durch die Kraft und das Ansehen seines Wissens und seiner starken, geraden, edelmännlichen Persönlichkeit auf fremdem Boden, durch fremde Menschen, in fremder Sprache eine neue Welt und Wirksamkeit. Durch öffentlichen und Privatunterricht erwarb er so viel, daß er die Seinigen anständig ernähren und seine Kinder würdig erziehen und versorgen kann. Er verdiente aber mehr, viel mehr, die aufrichtigste Hochachtung und Liebe seiner englischen Mitbürger. Da wird man selten eine edle Familie in Brighton finden, die nicht warm würde, sobald man von Ruge spricht.

In Deutschland braucht er sich nichts mehr der Art zu erwerben: er gehört zu den wenigen Männern der Zeit, die auch die bittersten Feinde, wenn sie ehrlich und gebildet genug dazu sind, unbedingt achten müssen.

Das ist das nothwendigste Außenwerk zum Leben Ruge’s. Er selbst liefert uns in seinen Erinnerungen „Aus früherer Zeit“ das lebendig Innere und den wahren Zusammenhang zu dem äußerlichen Rahmen. Er giebt die Wahrheit und den innersten Sinn seiner Erlebnisse und seiner Zeit wieder. Das wird ein wichtiges Werk, da diese Zeit so reich und anziehend ist, da sie unsere Zeit ist, in der wir Alle wurzeln, aus der wir die Lebenskraft für unsere Zukunft und das Werk der Befreiung ziehen, für welche er arbeitete, kämpfte, opferte und litt, wie Wenige.

Ruge vermuthet, daß er in England sterben werde, und hat sich für seinen Grabstein folgenden Zuruf an die Heimath gedichtet:

„Menschen ließ ich zurück und der Heimath freundliche Fluren,
Doch nicht den Stolz und den Muth, welcher die Menschen befreit;
Und es bewegt kein Hauch die gehässige Wolke der Knechtschaft,
Welche des Volkes Gemüth wider die Freien empört
Und die Vertrieb’nen an’s Ufer der gastlichen Fremde gebannt hält,
Bis sie der Tod umarmt, treu bei der Fahne des Rechts.“

Wir hoffen, daß er noch in seinem, in unserm Deutschland leben werde. Er ist erst 60 Jahre alt und noch in voller Mannes- und Lebenskraft. Sollte aber endlich auch sein Leib in englischer Erde begraben werden, was er gethan und erstrebt, lebt und wirkt unsterblich in unserm Deutschland.

H. B.

  1. Ruge: „Aus früherer Zeit“ bis jetzt zwei Bände. Berlin, F. Duncker.
  2. Die erste Frau war ihm nach kurzem Glück durch den Tod entrissen worden. Er vermählte sich 1834 mit einer Freundin der Verstorbenen, einer Dresdnerin, seiner jetzigen Frau, der Mutter seiner zwei Söhne und zwei Töchter. Der älteste Sohn ist praktischer Arzt in Berlin, der zweite studirt als Ingenieur in Zürich. Die jüngste Tochter ist erst dreizehn Jahre alt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Tschoppe's