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Aus der Zeit der Weinlese

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Titel: Aus der Zeit der Weinlese
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aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 721, 727–730
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[721]

Schwäbische Weinlese.
Nach dem Oelgemälde von Professor Albert Kappis in Stuttgart.

[727]

Aus der Zeit der Weinlese.

Hierzu die Illustrationen S. 721 und S. 728/729.

Wie viele andere Culturpflanzen, so hat auch der Weinstock seinen Heimathschein verloren, und Niemand kann heute das Land bezeichnen, von dem aus er seinen Triumphzug um die Welt begonnen. Aber überall nennt ihn die Sage als eine der edelsten Gaben der Götter, und oft wurde er zum Symbol der blühenden Cultur. Er wird auch darum gleich hoch geschätzt im hohen Norden, wie im Süden.

Wer kennt nicht die Vorliebe, mit der die nordischen Völker in warmen Treibhäusern die Rebe cultiviren, wer kennt nicht den größten Weinstock der Welt in dem Gewächshause von Hampton Court bei London, der an seinen bis 100 Fuß langen Zweigen alljährlich 2000 bis 3000 Trauben trägt?

Erst in der gemäßigten Zone unter dem 50. Grade nördlicher Breite wagt sich die Rebe in’s Freie, und obwohl sie noch in verkümmerter Gestalt auftritt, verleiht sie der Landschaft einen romantischen Schmuck, wie dies die Weinberge in Deutschland, Nordfrankreich und Ungarn deutlich genug beweisen. Hier wird noch die Rebe an 2 bis 5 Fuß hohe Pfähle oder Drahtgitter in Reih und Glied angebunden und in ihrer Zwerggestalt erhalten.

Ungebundener tritt sie uns in Tirol entgegen, wo sie in den Weinbergen, auf Steinsäulen und horizontalem Lattenwerke sich emporschlingend, die berühmten Weinlauben bildet.

Vollständig frei wird sie erst in dem Garten Italiens, in der fruchtbaren lombardischen Ebene, wo ihre Ranken die Maulbeerbäume mit phantastischen Guirlanden umschlingen, oder im Süden Italiens, wo sie namentlich die Wipfel der Ulmen und Pappeln erklimmt.

Hier wurde auch der Weinbau in der schönsten poetischen Form verklärt, hier entstand das schöne Märchen von der Vermählung der Rebe mit der Ulme, hier bestand auch die sinnreiche Sitte, die Rebe wenigstens einmal im Jahre für ein paar Tage von ihren Banden loszumachen, damit sie in Gemächlichkeit sich auf dem Lager der Erde ausruhen könne, nach welchem sie das ganze Jahr verlangend schaue, und damit auch der Baum, seiner theuren Last entledigt, die Arme behaglich von sich strecken und frischen Athem schöpfen könne.“[1]

Wie verschiedenartig aber die Pflege des Weinstocks in den einzelnen Ländern sein mag, überall wird die Zeit der Weinernte mit besonderer Freude begrüßt, welche die schwere Arbeit zu einer Art herbstlichen Festes gestaltet.

„O Blüthe der Reben! Ob Engel du seist, laßt uns erproben“ – so singen fröhlich bei der Arbeit die Winzer und Winzerinnen Italiens und füllen die Pausen durch die Saltarellotänze aus, die an den alten Reigen des Bacchus erinnern.

Es ist Herbst. Kein Wölkchen am blauen Himmel Italiens; die Sonne des September scheint mild und golden wie verklärend auf die erquickte Erde; mit vollen Zügen athmet der Städter die erfrischende, reine Luft des platten Landes ein. Die Bauern sind auf ihren Feldern zerstreut – sie machen fröhliche Gesichter, denn das Schwerste ist gethan und die Arbeit der vergangenen Monate reich gesegnet: sie haben hundertfältige Frucht geerntet. Auf den grünen Hügeln sitzen die schönen Töchter des Landes und singen vom Morgen bis zum Abend; nach Sonnenuntergang wird die Hirse in Garben auf die Tenne gelegt, und beim Klange der Guitarre tanzen und springen Knaben und Mädchen darauf herum, so lange der Mond scheint. Hier und da schleicht ein Liebhaber durch die Nacht und bringt seiner Schönen eine Serenade – der Hänfer richtet seine kleine Guillotine auf, bricht Hanf und erzählt den Burschen und den Dirnen, die bis über Mitternacht um ihn herumstehen, seine gruseligen Geschichten, wie man sie wohl bei uns in der Spinnstube hört – und aus der Ferne rufen die melancholischen Käuzchen: Tutto è mio, tutto è mio, das heißt: Alles ist mein! Alles ist mein!

Freilich ist es die Jahreszeit der Fröhlichkeit und der Feste und die Weinlese steht bevor.

La Vendemmia! Die Gabe des Bacchus wird sorgsam abgeschnitten und in Körbe gelegt – „es ist kein Korb so schlecht, daß man ihn nicht bei der Weinlese brauche“ – sagt das Sprüchwort. Geringere Trauben werden mit der Hand gebrochen, edlere Sorten mit dem Messer abgeschnitten oder vermittelst einer zangenartigen Scheere abgeknipst. Aus den Körben werden die Trauben zum Transport nach der Kelter in hölzerne Gefäße aus Dauben ohne Deckel, oben weiter als unten, gethan: ein solches Gefäß nennt man una Bigoncia. Esel und Maulthiere tragen, mit je zwei gefüllten Bigonci behangen, die Trauben nach dem Orte, wo gekeltert wird, dem sogenannten Palmento. Hier werden sie in eine große hölzerne, aus Dauben zusammengesetzte und gut gebundene Kufe geschüttet, welche unten weiter ist als oben und Tino genannt wird; darunter steht ein irdenes Auffanggefäß, die sogenannte Tinozza del Tino. In der Kufe werden die Trauben von den sogenannten Tretern oder Pressern (Calcatori oder Pigiatori) mit den Füßen zerquetscht und ausgepreßt: die Füße sind gewöhnlich nackt, manchmal mit Stiefeln aus Holz oder rohem Leder bekleidet.

Die Leute stehen zu zwei oder mehreren in einer Kufe und stemmen sich beim Treten auf eine Art Krücke, die sie in der Hand haben, halten sich auch wohl an Seilen, die über ihren Häuptern ausgespannt sind, und an einander an. Das ist die alte patriarchalische Art des Kelterns, wie sie schon vor Jahrtausenden zu des Propheten Jeremias Zeiten bestand; unser eigenes Wort Kelter erinnert daran, es lautete ursprünglich Kalter und kommt von dem lateinischen Calcatura, gleichsam die Trete. In einzelnen cultivirteren Gegenden, namentlich in Toscana, wendet man eine hölzerne Stampfe (Torchio) und in fortgeschritteneren Wirthschaften die Traubenmühle an, auf welcher die Beeren zwischen hölzernen oder eisernen, fein cannelirten Walzen zerquetscht werden, ohne daß durch Verletzung der Stiele und Kerne Gerbstoff in den Most kommt.

In Rom gestaltet sich die Vendemmia zu einer Art Volksfest, das am Monte Testaccio gefeiert wird. In jenen aus alten Scherben aufgehäuften Hügel sind zahlreiche Grotten eingegraben, in denen der Wein aufbewahrt wird, und an diese Kellereien schließen sich zahlreiche Osterien an, welche der lustigen Schaar der Tänzer und Tänzerinnen die Gabe des Bacchus bieten.

Der deutsche Herbst ist nicht so heiter, wie sein italienischer Bruder. Nur selten suchen bei uns die Winzer und Winzerinnen

[728]

Wein-Ernte bei Rom.
Nach dem Oelgemälde von A. Schönn.

[730] bei der Mittagspause hinter dicht belaubten Weinstöcken Schutz vor den brennenden Sonnenstrahlen, wie dies in dem Kometenjahr 1811 der Fall gewesen, wo „singend und jubelnd über den reichen Herbstsegen, in geschlossenen Reihen, geleitet von einem Fahnenträger und begleitet von Löhlsknechten und Buttenträgern, die Winzer und Winzerinnen in nettem nationalen Costüm zu und von der Arbeit zogen.“

Der Italiener läßt einen Theil seiner Trauben hängen, damit sie an der Rebe zu Rosinen eindorren, in Deutschland droht bei nasser Witterung die Gefahr, daß die Trauben faul werden und auslaufen. Aber trotz der günstigeren Umstände, unter welchen der italienische Weinbauer arbeitet, ist doch der deutsche Wein weit besser als der italienische, der sich kaum ein Jahr zu halten vermag – einige Ausnahmen abgerechnet. Das hat aber nur darin seinen Grund, daß der Deutsche fleißig und der Italiener nachlässig ist, daß der Deutsche die Kunst der Weinbereitung gründlich versteht und der Italiener sich um die Veredelung der Gaben des Weinstockes nicht bekümmert.

So kam es auch, daß bei uns selbst die ungünstige Witterung ausgenützt wurde und die „faulen Trauben“ keinen Schrecken der Weinbergbesitzer mehr bilden. Es ist jetzt allgemein bekannt, daß auf die „Edelreife“ der Trauben die „Edelfäule“ derselben folgt, und daß gerade aus solchen edelfaulen Trauben die besten Weine gekeltert werden. Sehr alt ist allerdings diese Kenntniß nicht.

Nach der einen Angabe soll sie uns das Jahr 1811 gebracht haben. Damals kaufte die Weinfirma Mumm in Frankfurt am Main die Crescenz des Johannisberges von dem französischen Marschall Kellermann (Herzog von Valmy), dem Napoleon diese Weinberge „geschenkt“ hatte. Die Weinlese konnte wegen der Kriegswirren nicht rechtzeitig – nach den damaligen Begriffen – beginnen, und man sammelte faule Trauben, aus welchen zu nicht geringem Erstaunen der glücklichen Käufer ein so vorzüglicher Wein gekeltert wurde, daß der Erlös für denselben den Grund zu dem Reichthum der Firma gelegt hat.

Nach einer anderen Lesart soll die Edelfäule im Jahre 1822 als solche erkannt worden sein. Es gab in jenem Jahre nur wenig Trauben, und die Witterung war so „ungünstig“, daß die Edelfäule fast über Nacht eingetreten war.

Jacob Schlamp aus Nierstein berichtet darüber in seinem Büchlein „Die Weinjahre des 19. Jahrhunderts“[WS 1]: „An dem betreffenden verhängnißvollen Herbsttage, an einem Sonntag Nachmittag, befand ich mich in W ….., hessische Pfalz, in einer Gesangprobe. Ohne daß man an den Herbst dachte, fingen plötzlich alle Glocken des bedeutenden Cantonortes zu läuten an. Man stürzte aus allen Häusern auf die Straße, da man den Ausbruch eines bedeutenden Feuers fürchtete. Großer Irrthum! Auf vielseitige Fragen: ‚Wo brennt’s?‘ erfolgte die überraschende Antwort: ‚Die Trauben in den Weinbergen laufen fort. Eilends hinaus, und helfe, wer helfen kann!‘ Alle Geschirre, Herbstgeräthe, die im Augenblick zur Hand waren, wurden ergriffen und hin eilte man in die Weinberge, um zu retten, was zu retten war. Von den wenigen Trauben, womit die Stöcke behangen, waren mehrere ausgelaufen, manche auch noch gefüllt, mit edelfauler Hülse umgeben, aber so mürbe, daß man sie mit bloßer Hand, ohne daß sie ausliefen, nicht abnehmen konnte. Eine gesunde Beere zum Essen war nirgends mehr zu finden. Man hatte solchen Herbst noch nicht erlebt. Manche Befürchtungen wurden laut: ‚Was wird aus dieser faulen Brühe werden?‘ Auch wurden die Ortsbehörden mit Vorwürfen überhäuft, die Nothwendigkeit des Herbstes nicht früher erkannt zu haben, um die Trauben noch im gesunden Zustande lesen zu können. Das außerordentlich günstige Ergebniß widerlegte jedoch die Befürchtungen und Vorwürfe gründlich. Niemand wollte je einen so edlen Tropfen gekostet haben; ‚wenn es nur mehr wäre!‘ war der allgemeine Wunsch.“

Auf Schloß Johannisberg, das in der Geschichte der Edelfäule eine hervorragende Rolle zu spielen scheint, soll sich Folgendes ereignet haben. Anno 1822 ging der Verwalter im September auf Reisen, noch lange nicht an das Einheimsen seiner Trauben denkend. Als er wiedergekommen war, lagen die Trauben unter der Schneedecke auf der Erde. Der Schnee war nicht von langer Dauer, und so ließ der Verwalter die edelfaulen Trauben auflesen und auf die Presse bringen. Ueber das Resultat dieser verspäteten Weinlese wird nun erzählt: „Auf dem Johannisberg wurden 1822 nur zwei Stück geherbstet. Davon wurde das eine, wahrscheinlich das sanftere und lieblichere, die Braut und das andere, das kräftigere und volle, der Bräutigam genannt. Die Braut wurde zu 15,000 und der Bräutigam zu 16,000 Gulden per Stück, zu 1200 Liter, verkauft.“

Und nun noch einige Worte über 1834, als dessen Jubilar wir den heurigen Wein begrüßen möchten. Jenes Weinjahr war groß an Quantität wie 1811 und an Qualität ausgezeichnet wie 1822. Der Herbst in den Weinbergen begann damals gegen Ende October und war von kaltem Regen und rauhen Tagen begleitet; die Edelfäule war daher allgemein und nur selten noch eine gesunde, eßbare Traube zu finden.

Nun, unsern deutschen Weinbauern wünschen wir von Herzen in diesem Jahre einen gleichen Erfolg, möge sich ihre Kelter mit gutem Naß füllen, die „alte Kelter“, die C. Weitbrecht also besingt:

„Im Frühjahr beim Schlehenbluscht – ha, ja! –
War der Maurer mit Hammer und Zweispitz da,
Hat hier geklopft und dort gepickt;
Aber die alte Kelter, die hält noch lang,
Der ist vor dem wildesten Wein nicht bang,
Wenn mir Sanct Urban was Rechtes schickt!

Und im Juni die Traubenblüth! – ei, mein!
Schon lang war der Neckar nicht mehr so klein,
Schier gingen die Schiff’ auf dem Sand –
Hat der Zimmermann über die Hitz’ geflucht,
Als er die Kelterbäum’ untersucht!
Doch jetzt ist alles im guten Stand.

Das Kelterstüblein weißelt man nicht:
Da steht an der Wand manch alte Geschicht,
Zahlen die Kreuz und die Quer,
Allerhand Jahrgäng’, gut und schlecht –
Na, ja, der Heurige, der wird recht!
Vetter, so denkt’s uns schon lang nicht mehr!

Am Montag that man ’s Geschirr heraus –
Jetzt, Wingertschütz[2], trag’ die Rätsch’ nach Haus!
Leser und Buttenträger, juh!
Käufer genug schon, so ist’s recht!
Morgen, da springen die Kelterknecht’ –
Jetzt, alte Kelter, ist’s aus mit der Ruh!“


  1. Vergl. F. Cohn „Die Pflanze“.
  2. Wingert- (Weingarten-)schütz, der während der Dauer der Traubenreife bestellte Weinberghüter, welcher u. A. auch mit einer hölzernen Knarre (Rätsche) die Vögel aus den Weinbergen zu vertreiben hat.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Wiesbaden 1879 Google