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Aus den Tyroler Bergen

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Textdaten
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Autor: Adolph Pichler
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Titel: Aus den Tyroler Bergen
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[657]
Aus den Tyroler Bergen.
Von Adolph Pichler.

Der Wanderer, welcher auf dem Wege nach Achenthal vom Tegernsee herkommt, hat bald einen sehr steilen Felsenkegel vor Augen, der sich rechts vom Bade Kreuth über waldigen Vorbergen erhebt. Hinter einer Kante des Gipfels lauert Stanis, wie von einer Warte die verschlungenen Pfade überblickend, welche sich tief drunten von der Straße abzweigen und durch das Gebüsch winden. Zu seinen Füßen liegt ein Gemsbock, er hat ihn bereits aufgebrochen und die Eingeweide hinabgeschleudert, vorher jedoch ein Stückchen von der rohen Leber mit Salz bestreut verzehrt, um sich einen schwindelfreien Kopf zu erhalten. Die Vorderfüße sind unter den Sehnen der Hinterfüße durchgezogen auf eine Art, daß er das Wild schnell und bequem um den Hals über den Rücken hängen kann. Stanis ist von kurzem, gedrungenem Körperbau mit breiter, hochgewölbter Brust, über dem linken Ohr sitzt keck das grüne Hütchen mit dem Spielhahnstoß und beschattet das scharfe graue Auge, die gebogene Nase springt zwischen den magern Wangen, welche kaum der erste Flaum umsäumt, bestimmt und fest hervor, und der wohlgeformte Mund mit trotzig aufgeworfener Unterlippe, die stark entwickelten Kiefer deuten auf Härte und Entschlossenheit. Es sind die Züge eines Raubthieres, wenn auch eines edlen, man könnte an den Alpenadler denken. Eine graue Joppe, graue Hosen und Strümpfe, über denen das nackte, von biegsamen Sehnen umflochtene Knie hervorragt, vollenden den Anzug. Wenn er sich nicht rührte, möchte man ihn wohl für ein Stück Fels halten.

Stanis war ein weitum berühmter oder berüchtigter Wildschütz. Die bairischen Jäger behaupteten, er sei kugelfest und könne, wenn man ihn dränge, in den Felsen verschwinden. Freilich that es ihm Keiner im Klettern gleich, wie eine Fliege über eine senkrechte Wand läuft, entrann er über die Schorfen, wenn er nur einen Finger oder einen Nagel der schweren Bergschuhe einhacken konnte. Bisweilen nahm er ein Hündlein mit; das arme Thier vermochte ihm nicht zu folgen, da steckte er es in den Schnappsack und trug es über die kahlen Felsenrünste. Der zweitgeborne Sohn eines reichen Bauern im Unterlande, zog er es vor, den ganzen Herbst zu wildern, anstatt auf dem Felde Garben zu schneiden und Korn zu dreschen. Schon lange hatten ihn die Baiern auf dem Strich, ja es war sogar ein Preis auf seine Einlieferung gesetzt, das kümmerte ihn aber wenig, er war frech genug, Nachts vor den Fenstern der Jäger Trutzliedeln zu singen; am Sonntage ging er wohl auch in Tegernsee zur Kirche, wobei man ihm, da er harmlos ohne Waffen erschien, nichts anhaben durfte. Im Wirthshaus versuchten es einmal fünf Jäger, ihn durch Sticheleien zu reizen, er lächelte nur bisweilen und trank ruhig sein Bier, da wagte es Einer, trat ihm auf den Fuß und stieß seinen Stuhl fast um. Nun sprang Stanis auf wie eine Stahlfeder, zeichnete den Kecken mit seinem Schlagringe und warf die Andern, welche Jenem zu Hülfe eilten, durch Thür und Fenster hinaus. Die wilde Rauferei dauerte keine fünf Minuten, seitdem ließ es sich Niemand mehr beifallen, mit Stanis anzubinden.

Nur ein Gegner lebte, dem auch er auswich, und dieser kletterte jetzt den steilen Pfad heran. Dieser war der Förster Peter Auer; der Schuß, mit welchem Stanis die Gemse erlegt, hatte ihn angereizt, den Wilderer zu suchen und zu fangen. Auer glich einem Recken der Vorwelt, an Größe überragte er alle Andern, und obwohl ein Greis von sechszig Jahren, war er noch so stark, daß er als Grundstein für sein neugebautes Häuschen einen Block von beiläufig fünf Centnern frei auf der Schulter herbeitrug und versenkte. Nur beim Klettern merke er das Alter, er mußte langsamer gehen, als in der Jugend, wo er sich wie eine Gemse von Absatz zu Absatz schwang. Stanis ließ ihn ruhig herankommen; als er etwa noch dreißig Schritte entfernt war, streckte er den Stutzen vor und rief ein donnerndes „Halt!“

Der Alte war überlistet. Sei’s Jäger oder Wildschütz, dem dieses begegnet, er muß, will er nicht ein Opfer des Todes sein, die Büchse ablegen und beiseite stellen. Auer erkannte den Stand der Dinge augenblicklich, er wußte, daß Widerstand vergeblich sei, und lehnte sein Gewehr an die Felsenwand. Eine solche Entwaffnung sieht Niemand für schmählich an, ebensowenig als wenn bei einem Duell dem Gegner der Degen aus der Hand geschlagen wird.

Nun trat Stanis vor: „Hast mich fangen wollen, gelt? Bist jedoch abgeschlüpft. Laß gut sein! Du bleibst auf Deinem Platz stehen, die Büchse nehm ich zur Sicherheit mit, dort drunten beim Kreuz kannst Du sie wieder aufklauben. Rührst Dich aber, oder giebst Laut, so schieß ich zurück.“

„Du hast Glück,“ erwiderte Auer, „viel Glück, aber mißbrauch es nicht länger, sonst holt Dich endlich die Strafe Gottes ein.“

„Fasten ist vorbei, brauchst mir nicht zu predigen,“ antwortete Stanis. „Eigentlich hätt’ ich die Gelegenheit nutzen und Dir das Licht ausblasen sollen, wie Du’s unbarmherzig vielen meiner Landsleute gethan, aber Du bist ein alter Mann, hast ohnehin nimmer lang zu leben und siehst ganz meinem Vater gleich; geh’ dieses Mal in Frieden, steig mir aber nicht mehr nach, sonst –“ Er schwieg und nahm Auer’s Gewehr, vor seinen Augen riß er die Zündkapsel ab, spuckte auf das Schloß, daß der Schuß nicht mehr losgehen konnte, belud sich mit der erlegten Gemse und stieg, ohne sich um den Jäger weiter zu kümmern, bergab.


[658] Beim Wirth in der Glashütte war Musik. Der Schullehrer mit seinem Gehülfen saß zu hinterst an der Mauer, auf einem Bretergerüst, das untergelegte Fässer stützten, und fiedelte lustig drauf los. Köhler, Bauernbursche, Jäger mit ihren Mädchen, Alles tummelte durch einander und strampfte, als sollte der Boden einstürzen. Seitab am Tische saßen Gruppen von Bauern mit ihren Weibern, die Mädchen, wenn sie nicht tanzten, gingen ab und zu, um sich in der Hitze mit einem Schluck Gerstensaft zu laben. An einem solchen Tische saß nun Auer’s Weib und Stina, ihre Tochter, beide vorläufig in ein Stück Braten vertieft, den ihnen der Wirth mit einer Schüssel Gurkensalat vorgesetzt hatte. Stina entsandte von Zeit zu Zeit die glänzenden braunen Augen auf das bunte Gemisch des Tanzes, wie es schien, war sie aufgelegt recht lustig mitzuspringen. Mitunter schaute wohl auch ein Bursch herüber, ob sie bald fertig gegessen, um sie sodann aufzufordern. Sie war aber auch die Königin des Festes; dazu erhob sie ihre Schönheit und ihre Tracht. An dieser hatte sie alles Auffällige vermieden, aber auch die häßlichen Bauschen und Falten, welche das Weibsvolk im bairischen Gebirge so abscheulich entstellen. Die langen schwarzen Zöpfe waren um eine silberne Nadel geschlungen, das braune Mieder schloß knapp an den schlanken Leib, während Nelke und Rosenknospe an der Brust mit den Lippen und Wangen zu wetteifern schienen.

Da lief ein Flüstern durch den Saal, Stanis war eingetreten. Lust und Uebermuth sprühte aus seinem Auge, in der Tasche trug er eine Rolle harter Thaler, denn die Gemse war gut verkauft. Er musterte die Gesellschaft, sein Blick blieb an Stina haften. Er hatte nie ein Wörtlein mit ihr geredet, sie nie gesehen, das kümmerte ihn aber wenig, er schritt zum Tisch, und nachdem er die Mutter um Erlaubnis gefragt, bat er sie um ein Tänzchen. Auch ihr war der Fremde aufgefallen, unwillkürlich erhob sie sich und reichte ihm die Hand. Sie war sehr hoch gewachsen, man hätte streiten können, ob sie nicht größer sei als Stanis, dieser behauptete jedoch trotzdem durch die Mächtigkeit des Gliederbaues neben ihr den vollen Rang. Er legte den starken Arm um sie und trat vor die Musikanten, ihm nach die übrigen Tanzpaare. Schnalzend warf er in den Zinnteller, welcher auf dem Fenstersims stand, einen Kronenthaler und sang:

A Gamsl hon’ i g’schoß’n,
Daß der Berg widerhallt,
Und iatz tanz i mit ’m Diendl,
Dös mir am allerbesten g’fallt!
     Juchhui!

Er patschte auf die Lederhosen und tauchte sich in die dichtesten Wogen des Reigens. Schade, daß der alte Bauerntanz mehr und mehr verschwindet und Walzer, Mazurka und all’ der einförmige Schnickschnack auf dem Lande sich einschmuggeln. Hier konnte man ihn noch in seiner wilden Grazie, in seiner verschämten Liebe, in seiner tollen Freude bewundern; auch bei diesem Tanz gilt, wie bei der Schlacht, jeder so viel er werth ist, – versuch es einmal ein Berliner Galan und wage mit seinen Schwefelspähnen solche Sprünge gleich unserem Stanis, der Stinele wie ein feuriger Planet umkreiste und sie dann wieder jauchzend hoch aufschwang, aus dem Arm ließ, sehnsüchtig verfolgte und wieder umfaßte. Da sang ein Jägerbursch, den die Haut juckte:

’S Gamsel hast g’stohl’n
Da drenten in Wald,
’S Stinele, des kriegst nit,
Und wenn’s Dir no a so g’fallt.

Stanis war zu selig, um die Herausforderung zu hören; so ein Mädel im Arm, dachte er sich, ist doch was anders als einen Hirsch pirschen. Ein tüchtiger Schütz hat beides am liebsten. Während des Tanzes fragte ein Nachbar Auer’s Weib: „Wo hast denn deinen Mann?“

„Ich weiß nicht,“ antwortete sie, „warum er heut so saggrisch ist, durch’s ganze Haus rennt er hin und her und brummt wie eine Hummel. Später kommt er schon.“

Immer wilder wogte der Tanz, die Kleider flogen und der Busen hob sich in feuriger Lust. Da hatte Stinele den Strauß verloren, Stanis holte ihn aus dem Gewühl, anstatt ihn jedoch der Tänzerin zu reichen, steckte er ihn auf den Hut und nahm von diesem eine üppige Staude Jochraute. „Das kann Dir keiner geben von denen, die da sind!“ flüsterte er ihr in’s Ohr, und sie steckte den Büschel erröthend an die Brust.

Jochraute! Schönes ist nichts daran, aber der Aelpler kennt kein edleres Kraut; was ist Edelweiß dagegen! So mancher kühne Bursche hat sich todt gefallen, wenn er seinem Schatz am Himmelfahrtstage einen Strauß bringen wollte, er lag zerschmettert unter den Felsen, die Stäudchen in seiner Hand schmückten dann den Sarg.

Der Jägerbursche hatte Alles gesehen und gehört, noch einmal sang er sein Trutzliedl, da erwiderte Stanis lachend:

„Wer die Rauten mecht hab’n,
Steig aufi auf d’ Wand;
An boarischen Jaga
Fallt’s gewiß nit in d’ Hand’.“

Das wäre sonst das Signal zu einer Rauferei gewesen, einige stämmige tyrolische Holzknechte traten schon an Stanis’ Seite, dieser war aber nur zu einem Handel mit Stinele aufgelegt, die Musik fiel wieder rauschend ein, und von Neuem begann der Tanz. Indessen hatte sich Auer eingefunden, er fragte die Alte nach der Tochter, sie deutete mit dem Finger auf das Paar, der Alte verstummte, von dem, was sich seinem Auge zeigte, keineswegs sehr erbaut. Alles nimmt ein Ende, so auch der Tanz, Bursche und Mädchen suchten verathmend die Plätze, und Stanis führte Stinele an den Tisch zurück.

„Grüß Gott, Vater!“ rief sie schon von Weitem.

„Bist Du Auer’s Tochter?“ flüsterte Stanis.

„Hast Du das nicht gewußt?“ erwiderte sie heiter und eilte auf den Vater zu.

Stanis zögerte einen Augenblick den Kopf senkend, ermannte sich jedoch rasch und trat zu den Eltern. Aug’ in Auge standen die Männer, kein Zug jedoch verrieth, was heute zwischen ihnen vorgegangen, der Tanzboden war neutrales Gebiet wie die Kirche. Da neigte sich Stanis: „Herr Förster, ich dank’ für den Tanz mit Eurem Stinele!“ Dem Mädchen bot er die Hand, welches den Druck arglos erwiderte. „Leb’ wohl,“ fügte er bei, „ich hab’ noch einen weiten Weg, und muß jetzt gehen.“

Das war nur eine Ausrede; die Furcht trieb ihn nicht fort, wohl aber ein Gefühl, als ob es sich nicht schicke, unter solchen Verhältnissen im Angesicht des Greises zu verweilen. Man will ihn beobachtet haben, wie er aus dem Dunkel der Bäume, welche vor dem Tanzsaal standen, in diesen hineinlugte, bis der letzte Geigenstreich verklang und Alles müde nach Hause ging. Er folgte Auer’s Familie von fern auf dem weichen Grase neben der Straße; als bereits die Hausthüre geschlossen war, stand er noch lange und spähte nach den Fenstern.

Am nächsten Morgen holte Stanis sein Gewehr, das er unter einer Haselstaude verborgen, wieder hervor, und stieg in die Wände des Blauberges. Erst gegen Abend gelang es ihm, eine Gemse zu erlegen. In einer baierischen Alpe mochte er nicht einkehren, zur nächsten österreichischen war es über den Schiltenstein zwei gute Stunden, dazu die bei der Dunkelheit halsbrechenden Pfade, er besann sich daher nicht lange und suchte in einer verlassenen Hütte, wo die Bauern das abgefallene Laub bis zum Winter aufzubewahren pflegen, ein Nachtlager. Brod und Käse waren ihm Mittagskost und Abendmahl. Ein Hirtenbube hatte ihn beobachtet, wie er in das Laub schlüpfte, und es einem Jäger, welcher durch den Schuß alarmirt worden war, verrathen. Dieser holte allsogleich seine Cameraden, die Morgendämmerung war noch nicht angebrochen, als sie die Hütte von allen Seiten umstellt hatten. Der Kühnste kroch hinein, nahm Stanis’ Gewehr und reichte es dem Nächsten an der Thüre. Nun folgten zwei Andere nach. Stanis lag im tiefsten Schlafe; als man ihm Stricke um die Hände wand, murmelte er von Stinele und dem Tanz. Die Jäger lachten höhnisch. Nachdem ihm jede Möglichkeit eines Entrinnens, eines Widerstandes geraubt war, schoß der Bursche, der ihn Abends zuvor mit dem Trutzliedchen geneckt, den Stutzen neben ihm ab.

Er fuhr auf – welches Erwachen! Die scharfe Morgenluft gab ihm rasch die volle Besinnung, er schaute grimmig herum im Kreise der Peiniger und biß knirschend in die Stricke. Alles war vergeblich. Als sie ihn mit den Kolben vorwärts stießen, kam kein Laut über seine Lippen; wie die Wilden Amerika’s hätte er sich lieber todt martern lassen, als seine Feinde um Schonung gebeten, und wäre sie auch mit einem Worte zu erlangen gewesen. Diesen Triumph gönnte er ihnen nicht. Da sang der Bursche das Trutzliedl von gestern und rief spöttisch: „Jetzt führen wir Dich zu Stinele!“ Er blieb stumm, aber in seinem Blick loderte tödtlicher Haß.

[659] Als sie die Straße erreichten, begegneten ihnen viele Leute, welche die Frühmesse besuchen wollten. Sie warfen einen mitleidigen Blick auf Stanis. „Haben sie ihn endlich,“ sagte Mancher, „der hat sich schlecht gebettet.“ In einem Anger verzehrte eine Bäuerin mit ihren Kindern fröhlich das Morgenbrod, eine Schüssel dicker Suppe und Schmalznudeln zum Eintunken. „Da siehst Du,“ warnte sie den älteren Buben, „wohin der Müßiggang führt.“ Sie stand jedoch auf, um Stanis einige Nudeln zu schenken. Er konnte keinen Finger rühren; das gute Weib steckte sie ihm in den Schnappsack, welchen ihm die Jäger auf den Rücken gehängt hatten. „Gieb ihm nur Nudeln,“ bemerkte der Bursche spöttisch, „im Zuchthaus auf der Plassenburg kriegt er viele Jahre keine mehr zu beißen.“

„Du bist auch nicht der Beste,“ bemerkte die Bäuerin unwillig, „hast Du vielleicht einen Freibrief für die Zukunft, daß Du nie ins Elend geräthst? Man soll den Nebenmenschen nie spotten, wenn er sich nicht wehren kann.“

„Er hat uns lang genug getrutzt!“

„Warum habt Ihr es ihm nicht gelegt, Ihr seid halt für Nichts. Geht, schämt Euch, da schleppen vier solche Laggel einen Menschen gebunden daher, den sie im Schlaf überfielen; Ihr habt wenig Ursach zu einem Triumphgeschrei.“

Sie kehrte den Jägern verächtlich den Rücken.

Diese führten Stanis zu Stinele. Auer war ihr Vorgesetzter, er hatte über das Schicksal des Gefangenen das Weitere zu verfügen. Die Dirne, welche an der Thüre stand, sagte ihnen, daß er in den Wald gegangen sei und erst in einer Stunde zurückkehre.

„Stinele,“ rief der rohe Bursche, „Stinele! wir bringen Dir Deinen Liebhaber!“

Das Mädchen hatte den Lärm längst gehört, ohne sich darum zu kümmern, jetzt beugte sie sich unwillig zum Fenster heraus. Ihr Blick begegnete dem Blick Stanis’, entsetzt fuhr sie mit einem leisen Schrei zurück. In der Brust des Gefangenen schwoll Schmerz, Wuth und Scham zur Riesenkraft, er drehte die Fäuste übereinander, die Knochen knackten, Blut rann über die Finger, die Bande waren gesprengt. Er entriß einem Jäger mit einem Griff sein Gewehr, schlug den Burschen mit dem Kolben nieder, überwarf den nächsten, die zwei andern schossen in der Verwirrung ihre Büchsen ab, fehlten jedoch und liefen eiligst davon. Das war alles das Werk einer Minute. Stanis war frei, er flog die Höhe vor das Haus hinan und sang, eh’ er sich in das Gebüsch barg, droben noch einmal:

Wer die Raut’n mecht hab’n,
Steig aufi auf d’ Wand,
An boarischen Jaga
Fallt’s g’wiß nit in d’ Hand.

Als der Jägerbursche ächzend, mit blutrünstigem Schädel bei der Bäurin, welche Stanis die Nudeln geschenkt hatte, vorbei geführt wurde, erkundigte sich diese um die Geschichte. Man erzählte ihr die Befreiung Stanis’. „Gott sei Dank,“ rief sie aus, „es wär’ schad gewesen um den saubern[1] jungen Menschen, wenn er sich’s nur zur Warnung nimmt und das Wildern aufsteckt. Du aber,“ die Worte galten dem Jägerburschen, „sei ein anderes Mal barmherzig und lobe den Tag nicht vor dem Abend.“

Woche um Woche verrann, niemand hörte mehr von Stanis, doch blieb er deswegen nicht vergessen: der Jägerbursche trug seinen Denkzettel, wegen dessen er oft ausgelacht wurde, an der Stirne herum; vielleicht auch erinnerte sich Auer manchesmal seiner, obgleich er ihn nie nannte, ebenso wenig als Stinele, das wohl am öftersten an ihn dachte. Sie konnte ein Gefühl der Unruhe nicht bewältigen, wem sollte sie vertrauen? Der Mutter? Diese war durch die Keckheit des Burschen, der anfänglich, eh’ sie Näheres von ihm wußte, einen günstigen Eindruck auf sie gemacht, tief gekränkt und schmälte mehr, als der Tochter gefiel. Den Freundinnen? Die hätten sie wahrscheinlich in allen Spinnstuben herumgetragen. Den Sternen? Diese Erfindung hatte sie, obwohl sie nicht neu ist, für sich noch nicht gemacht. Was hätte sie schließlich auch sagen sollen? War sie doch über ihr Herz selbst im Unklaren, daß sie sich fest einredete, nur der Unwille rufe ihr das Bild des Wilderers vor die Seele. – Der Reif hatte längst schon die Zeitlosen versengt, nach einer Reihe klarer kühler Tage meldete ein Herbststurm das Nahen des Winters, die Nebel hingen von den Bergen so dicht in das Thal, daß man sie hätte schneiden mögen, und schwere Tropfen schlugen an die Nordseite des Hauses, mit einem Wort ein Wetter, in welches man keinen Hund hinausjagen soll. Die Dämmerung brach früher als gewöhnlich an, Stinele saß in ihrer Kammer, die ungestört hinten aus lag, denn sie sehnte sich nach Einsamkeit, da tickte es an die Glasscheiben, als suche ein Vögelchen Unterkunft. Sie machte rasch das Fenster auf, eine Hand ergriff den Querstab des Kreuzes, und eh’ sie noch einen Schrei ausstoßen konnte, stand Stanis vor ihr. Er war blaß und abgemagert. Nachdem er der Betroffenen einen Augenblick zur Erholung gegönnt, begann er: „Stinele, wenn Du alles weißt, wirst Du mir verzeihen.“

„Du gehst schleunig, sonst rufe ich den Vater!“

„Thu es und weihe mich dem Untergang, dann ist’s aus.“

Sie schwieg.

„Stinele!“ er faltete dabei wie bittend die Hände, „Stinele, laß mich wenigstens reden; gönnt man doch dem Verbrecher, der zum Galgen geführt wird, ein letztes Wort. Ich hab’ Alles aufgeboten, Dich zu vergessen, Alles! Es war jedoch unmöglich. Stets sah ich Dich, aus jedem Busch tratest Du mir entgegen, in jedem Wölkchen, das vom Thal aufstieg, wallte Dein Gewand, Du glittest wie im Tanz an den Felswänden hin, Gemse hab’ ich seitdem keine mehr geschossen, obwohl mich ein prächtiger Bock fast niederstieß. Ich kann ohne Dich nicht leben, – wie willst Du’s halten mit mir? sag nur ja oder nein. Von Dir hängt es ab, ob ich untergehen –“

„Gott im Himmel!“ unterbrach sie ihn heftig, „der Vater kommt –“

„Dann bin ich verloren!“

„Lauf durch jene Thüre und spring’ aus dem Fenster!“

„Stinele, jetzt weiß ich, daß Du mich lieb hast!“

„Flieh, flieh!“

Die Tritte, die man zuerst unten auf dem Flur vernommen, näherten sich.

„Stinele, und wär’s mein Tod, noch ein Kuß!“

Er drückte sie heftig an sich, sie leistete keinen Widerstand.

Eine Minute später schlugen die Büsche hinter dem Hause zusammen, er war dahin.

Der Vater öffnete die Thüre: „Was machst Du denn für einen Lärm?“ frug er. „Mir schien, es sei etwas Schweres auf den Boden gefallen. Du wirst bleich und roth, was ist denn mit Dir, fehlt Dir etwas? Seit einiger Zeit weiß man wahrlich nicht, was anfangen, nichts ist Dir recht, und Launen hast Du mehr als Haare auf dem Kopf.“

Das Mädchen nahm die Vorwürfe hin, ohne sich zu entschuldigen, hätte doch ein Wort ihre Aufregung verrathen können. Der Vater fuhr fort: „Drunten in der Stube ist schon eingeheizt, ich hab Dich holen wollen, daß Du mir und den Nachbarn die neue bairische Zeitung vorlesest.“

Sie gehorchte der Aufforderung.

Der Himmel klarte sich wieder, selbst im Hochgebirge schmolz die zusammenhängende Schneedecke und ließ nur in Runsen und Senken einzelne Fetzen zurück, die Buchenwälder hatten jedoch schon Roth angelegt, und zwischen den schwarzen Föhren stieg hier und da wie eine goldene Pyramide ein Lärchenbaum. Hoch oben durch den blauen Himmel flogen im langen Striche die Zugvögel dem wärmern Süden zu, hier und da drang ein verlorner Ton hinab und weckte tiefe Sehnsucht nach schönern Ländern; es war Allerheiligen. Längst hat die Gemse ihr schwarzes Winterkleid angezogen, es schützt sie nicht vor der Kugel des Jägers, der sie jetzt besonders eifrig verfolgt. Stanis saß auf einer Bergspitze im milden warmen Sonnenschein, die wundervolle Aussicht von der Spitze der Gletscher bis tief ins bairische Flachland kümmerte ihn wenig, sein Aug’ war in das Thal gerichtet, durch welches bläulicher Rauch floß, in das Thal auf das schimmernde Häuschen Auer’s. Wenn der verliebte Auerhahn balzt, sieht und hört er nicht; auch Stanis balzte, sonst hätte er gewiß das leise Knistern des trockenen Grases hinter seinem Rücken bemerkt. Der alte Auer schlich näher und näher, die Büchse in der Hand, das Auge unverrückt auf den Wilderer, machte er jetzt wieder vorsichtig einige Schritte und blieb, wie sich jener regte, ruhig stehen. Endlich, nur noch einen Steinwurf weit entfernt, rief er mit lauter Stimme: „Stanis!“ Dieser sprang, wie aus einem Traume aufgeschreckt, rasch auf und blieb, als er den Alten erblickte, unbeweglich stehen. Auer schritt langsam vorwärts, erst jetzt besann sich der Wilderer, riß die Büchse von der Schulter und wollte anlegen. „Laß gut sein,“ sagte der Alte ernst, „ich hab Dich schon beobachtet, wie Du [660] beim Geläute während der Wandlung den Hut zum Beten abnahmst; hätte ich Dich schädigen wollen, es wär mir ein Leichtes gewesen. Leg das Gewehr ab, siehst Du, auch ich lehne das meinige an diesen Steinblock, ich bin gekommen, um mit Dir friedlich zu reden.“

Erstaunt that Stanis, wie der Alte verlangt, und trat zu ihm.

„Ja, Stanis,“ begann dieser, „ich hab’ mit Dir lang schon reden wollen und eine schickliche Gelegenheit erwartet, jetzt ist sie da, und meine Worte machen vielleicht Eindruck auf Dich, weil wir hier Gott näher stehen und uns Niemand hört als Engel und Heilige, die heut aus dem weit offenen blauen Himmel niederschauen. Du brauchst mir nicht zu sagen, wer Du bist und was Du bisher verübt hast, ich kenne Dich und Du kennst mich. Auch Dein Vater hat mich gekannt und 1809, wo ich gefangen und verwundet bei ihm auf dem Peinstroh lag, gepflegt wie ein Christ den andern. Er ist jetzt todt, ich hab’ jedoch nicht vergessen, was ich ihm schuldig bin, sondern für ihn gebetet und eine Seelenmesse lesen lassen. Jetzt will ich an Dir vergelten, was er an mir gethan, und an seiner Statt Dir in das Gewissen reden. Willst Du ihm noch in der Grube Schande machen? Wie durch ein Wunder bist Du letzthin entronnen; vielleicht säßest Du jetzt im Zuchthaus und dächtest dort über das siebente Gebot nach; laß es Dir zur Warnung sein und bändige Deine wilde Lust. Ich weiß, zuverlässige Zeugen haben es mir bestätiget, daß Du sonst Jahr aus Jahr ein brav bist, und in Deinem Handwerk als Büchsenmacher unverdrossen arbeitest, nimm Dich zusammen und gelob der Mutter Gottes zum Dank nie mehr zu wildern. Es ist Diebstahl“ – Stanis fuhr auf – „ja Diebstahl, wie ein anderer. Du würdest Dich schämen, von einem Bergmahd auch nur eine Handvoll Heu fortzutragen, und doch läßt es der liebe Gott wachsen ohne Zuthun des Menschen. Wenn Du nachdenkst, kannst Du Dich bei der einfältigen Ausrede, das Wild sei für jeden, der es erlegt, nicht beruhigen. Siehst Du dort den Bach, der durch das Thal rinnt? Kehr’ ihn ab, so werfen Dir die Müller wegen Verletzung des Eigenthums einen Proceß an den Hals, und was ist freier als das Wasser? – Du bist noch jung, Stanis, es wär’ schad’ um Dich! Es ist mir nicht entgangen, in Deiner Brust lebt noch ein edler Funke, blas’ ihn nicht selber aus, ich beschwör’ Dich beim Grabe Deines Vaters, ich bitte Dich bei Deinem eigenen leiblichen und geistigen Wohl!“

Stanis war so erschüttert, daß er kein Wort zu stammeln vermochte.

„Willst Du mir folgen? Schlag ein und zieh’ in Frieden!“ Er hielt mit einem milden, treuherzigen Blick die offene Hand hin.

„Ja, ich will!“ rief Stanis, der sich indeß gesammelt hatte, „ich will, aber stell’ Du, nachdem Du so viel für mich gethan, auch noch den Engel an meine Seite, der mich vor jeder Versuchung schirmt.“

„Der Schutzengel hat Dich ja nie verlassen, das beweist Alles, was Dir widerfahren ist.“

„Ich mein’ das Stinele!“ sagte Stanis tief aufathmend.

„Das Stinele? Nu, Du hast eine spaßige Manier, um ein Mädel zu werben. Uebrigens müßt’ noch die Mutter und hauptsächlich Stinele Ja sagen.“

„Die hat schon Ja gesagt!“

„Hm!“ brummte der Alte, „hält’ mir’s doch denken können, daß sie verschossen ist! So ist’s aber mit den Diendeln. Sind Alle gleich, Eine verdreht wie die Andere.“ Er wendete sich wieder zu Stanis. „Das Gernhaben gehört freilich zur Heirath, aber auch noch viel Anderes. Du bist der zweite Sohn, wirst schon ein Bischen was haben, ein Bischen kriegt Stinele, wenn ich die Augen zudrücke, von mir, das ist aber zu wenig.“

„Hab’ ich nicht gesunde Glieder zum Arbeiten? die Büchsenmacherei trägt auch etwas, und ein Gesell’ wird endlich Meister!“

„Endlich! wär’ schon recht! Wenn Dir gar so ernst ist, weiß ich aber etwas Anderes. Meld’ Dich beim Forstamt, dort braucht man Leute, und Du wirst vielleicht bald als Gehülf’ angestellt. Bist noch jung, Stinele und Du könntet einige Jährchen warten, unterdeß bringst Du’s zu einem bessern Brod und dann meinetwegen Amen. Aber brav sein mußt’.“

„Auer, da hast meine Büchse, ich will sie nimmer anrühren, bis Du mir sie selber giebst. Jetzt müssen wir aber zum Stinele und ihr die Neuigkeit melden, das arme Mädel hat sich viel gekümmert.“

„Ei der Teufel, Du hast Eil’! Den Schießprügel magst’ übrigens selber tragen, auch ist’s bald Mittagszeit; die Alte hat schon so viel gekocht, daß Du mithalten kannst.“

Sie suchten den nächsten Weg, Stanis wollte immer vorwärts über Stock und Block, sonst werde die Suppe kalt.

„Du bist doch der gleiche Trottel, wie ich’s gewesen bin,“ bemerkte der Förster, „laß Dir nur Zeit, die Alte richtet nicht an, bis wir drunten sind, und das Diendl wird derweil auch nicht kalt.“

Stinele pflückte im Garten Blumen und Kräuter, wie erschrak sie, als sie Beide daherkommen sah! Kaum traute sie ihren Augen, was mußte vorgegangen sein! War Stanis gefangen? Dann würden sie schwerlich so friedlich miteinander reden, er böte ihr nicht von Weitem ein lachendes „Grüß Gott!“ Während der Vater in das Haus ging, seiner Alten Bericht zu erstatten, trat er in den Garten und schüttelte ihr die Hand, unbekümmert um die ganze Nachbarschaft, als ob alle Vettern und Basen bereits wüßten, wie es zwischen ihnen gemeint sei. „Laß jetzt das Kranzelflechten für Allerseelen,“ rief er fröhlich, „Nachmittag helf ich, da geht’s schneller, mir steckst noch einen Büschel Blumen auf den Hut.“ Nun erzählte er ihr unter lustigem Schäkern Alles, was geschehen und wie sie sich nun der ganzen Welt als Brautleute zeigen dürften.

Das Mädchen senkte ungläubig den Kopf, ihr schien sein ganzes Gerede ein kindisches Märchen, sie zu äffen; ein schöner Traum, aus dem man in eine schreckliche Wirklichkeit erwacht. Da stieg der Vater über die Treppe, das Mütterchen begleitete ihn, sorgsam mit der Schürze die Hände wischend, an den rußigen Küchenzettel auf der Wange dachte sie gar nicht, ihre Züge waren sonnenhell und heiter. „So laß ich es mir gefallen, Stanis,“ sagte sie herzlich, „wenn Du so in das Haus kommst!“

Stinele perlten die Freudenthränen auf das Busentuch. „Ist’s wirklich so?“ rief sie erstaunt.

„Ja, ja, es ist so,“ erwiderte der Alte, „ich hoffe, Stanis thut in Zukunft gut!“

„Ganz gewiß!“ meinte Stanis, „Stinele, da heb’ Du meine Büchse auf, bis ich ordentlich angestellt bin und sie von Rechtswegen tragen darf.“

„Jetzt ratscht aber nicht bis morgen,“ unterbrach ihn Auer, „ich möchte eine Suppe, und die Dienstboten passen auch schon lang und können nicht von der Lieb zehren!“

„Derweil die Mutter anrichtet,“ sagte Stanis, „binden Stinele und ich einen schönen Strauß, heut’ gehört einer auf den Tisch.“

Die Alten kehrten in das Haus zurück, das junge Paar flatterte wie Schmetterlinge von Aster zu Aster, von Nelke zu Nelke, und wenn es sich in die von Ranken umsponnene Laube verlor, so wird es wohl nicht blos Blumen, die der Reif verschont, sondern auch einige Küsse gepflückt haben. Wenigstens erzählte man so im Wirthshaus zur Glashütte, wo die Jäger den Burschen aufzogen und föppelten. Der aber sang:

Eine andere Mutter
Hat auch ein schön’s Kind.


Es sind einige Jahre verflossen, der Leser begleitet mich wieder in eines der zahlreichen waldigen Seitenthäler. Unter den Bäumen erhebt sich ein zierliches Häuschen aus braunen Balken mit einem hölzernen Hirschkopf über dem Söller, den Astern, Kapuzinerkresse und Windling schmücken; das Geräusch unserer Tritte auf dem steinigen Wege ruft ein schönes, junges Weib heraus, ein starker Bube hängt an ihrer Schürze, auf dem Arme trägt sie ein herziges Mädchen.

„Das ist nicht der Großvater,“ sagt sie zu den ungeduldigen Kleinen und will umwenden.

„Wohnt hier der Forstwart Stanis?“

„Ja,“ erwidert sie freundlich, „er muß in einem Viertelstündchen kommen, er ging dem Vater entgegen, den wir heute erwarten. Wollen Sie nicht eintreten?“

Kehren wir ein, es ist ein Bild des reinsten Friedens und der Liebe, welches sich vor uns entrollt, und da naht auch Stanis und Auer. Schließen wir unsere Idylle in der Wildniß mit ihrem herzlichen:

Grüß Gott!

  1. WS: fehlendes s ergänzt