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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Alte Trümmer auf der Stephanie-Insel im Kozjaksee deuten darauf hin, daß in früheren Zeiten die Römer diese prächtige Landschaft wohl zu würdigen verstanden und an den Ufern der Seen Villen gebaut haben. Plitvice war wohl damals ein berühmter Kurort. In den Wogen der Völkerwanderung brach die alte Kultur zusammen; die rohen Einwanderer schwärmten nicht für Naturschönheiten; das Seegebiet blieb unbeachtet; lag es doch auch an der unruhigen Grenze von der Türkei. Der Staat verwaltete die weiten Waldungen, Grenzoffiziere machten hin und wieder einen Ausflug zu den von geheimnisvollen Sagen umgebenen Gewässern, und sie waren es, die dort an den Ufern des Kozjak den ersten Unterkunftsort, das sogenannte Touristenhaus, bauten. Im Jahre 1888 besuchte die Kronprinzessin Stephanie das herrliche Seegebiet; eine Zeit lang stand es im Vordergrunde des Interesses für das österreichische Publikum, wurde aber wieder vergessen, bis im Jahre 1893 ein „Verein zur Hebung der Plitvicer Seen in Agram“ gegründet wurde. Dank seiner Thätigkeit wurde neben dem alten Touristenhause ein Hotel errichtet, das, mit großstädtischem Komfort ausgestattet, vierzig Fremden Unterkunft bieten kann. Ein Badehaus giebt Gelegenheit für Erfrischung in den durchsichtigen Fluten des Sees; man schuf Parkanlagen, sorgte für Anlage von Wegen und Brücken. Der Leser, der sich dafür mehr interessiert und einen Ausflug in jenes schöne Land unternehmen möchte, findet nähere Auskunft in dem soeben erschienenen interessanten Büchlein „Die Plitvicer Seen“ von Stefan v. Buchwald (A. Reinhards Verlag, Fiume). So wird Plitvice wieder zu einem Kurort. Für unser verwöhntes Publikum ist es allerdings nicht leicht zu erreichen; es liegt noch immer 75 bis 100 km von der nächsten Dampfer- oder Eisenbahnstation entfernt. Man plant darum, einen Schienenweg in die Urwaldeinsamkeit zu legen, und will auch die Wasserfälle zur Erzeugung der Elektrizität zwingen. Die Wasserwunder von Plitvice werden sich später in elektrischer Beleuchtung wohl märchenhaft ausnehmen, aber von unvergleichlicher, poesievoller Schönheit erscheinen sie schon heute dem Auge, wenn der Mond über der einsamen Berglandschaft aufgeht. Dann fühlt sich der Beschauer in eine eigenartige Welt versetzt; geisterhaft schimmern die Felsen und geisterhaft rauschen die Fälle; die alte Sage wird lebendig und raunt von einer „Schwarzen Königin“, die nach dem Volksglauben einst diese Seen mit ihren Wundern geschaffen hat. J. S.     


Kinderfüßchen.

Novelle von Victor Blüthgen.

      (Schluß.)

Frau von Einsiedel war wieder genesen. „Jetzt muß man ein Ende machen,“ wiederholte sie sich unaufhörlich. „Gerade jetzt vor Weihnachten, wie schwer es auch ist, wie hart es aussieht! Denn einmal muß das Ende doch kommen. Er wird die Kinder mit Geschenken überschütten – wenn nicht um ihretwillen, so um meinetwillen. Er knüpft Verpflichtungen zu einem Netz über mich – es ist eine Feigheit, wenn ich das dulde. Ich will es zerreißen, ich muß es zerreißen. Ich muß den Mut dazu finden. Meine Kinder werden zwei Weihnachtsstuben haben: eine üppige, verschwenderische unten, eine ärmliche oben, bei ihrer Mutter. Das geht nicht. Darauf muß man sich stellen, um ihm verständlich zu machen, weshalb man ihm die Kinder nimmt. Man braucht keinen andern Grund zu nennen. Wenn ich die Kinder wieder für mich allein habe, so habe ich freie Hand gegen ihn – wir werden einander fremd, wie wir’s waren, als mich das Verhängnis trieb, jenen unglücklichen Brief zu schreiben …

Warum mußte ich hierher ziehen?

Ich suchte Frieden, und nun kämpfe ich – nach außen – in mir …

Vor Weihnachten muß es geschehen; er soll doch nicht erst für die Kinder einkaufen!“

Ein echter Dezembermorgen war’s, das Licht, das durch das breite Eckfenster der Berliner Stube fiel, so grau gedämpft, daß es zuerst die Augen des Doktor Hartmann auf sich zog, als er früh eintrat. Das Fenster war von oben bis unten dick zugefroren. Aber das Zimmer war warm, und die Lampe über dem Frühstückstisch leuchtete einladend, und auf dem Teller, da lag ein Brief.

Es gab einen Schlag an das Herz: das lange, schmale, lichtgrüne Couvert … er schellte erst … dann wandte er es um, und da war auch das Silbermonogramm.

Er starrte in die Flamme, mit abwesendem Blick … eine fatale Ahnung sprach unverständlich aus ihn ein. Da kam die Frau Fricke und trug den Thee auf.

„Wer hat den Brief da gebracht?“

„Das Kindermädchen von oben, Herr Doktor!“

„Es ist gut.“ Er hätte sich das selber antworten können, der Brief war ohne Marke.

Frau Fricke sagte sich: er ist schlechter Laune, und beeilte sich, zu verschwinden. Doktor Hartmann nahm Platz und riß das Couvert auf. Erst mußte er diesen Brief lesen, mochte drin stehen, was wollte.

  „Sehr geehrter Herr Doktor!
So schwer es mir wird – ich muß Ihnen diesen Brief schreiben; zu meiner inneren Befreiung. Versuchen Sie, mir nicht allzusehr zu zürnen über das, was ich sage.“

„Das fängt gut an,“ preßte der Doktor durch die Zähne.

„Wie glücklich Sie auch meine älteren Kinder durch die gütige Art gemacht haben, wie sie sich ihrer angenommen, wie dankbar Ihnen mein Mutterherz dafür ist – ich leide darunter, schwerer als ich möchte. Abgerechnet den verzeihlichen Egoismus der Mutter, die sich gern den ersten Platz in den kleinen Herzen sichern möchte – diese Teilung der Kinder zwischen uns führt zu Konsequenzen, die eine Pein für uns beide sind. Wäre ein unbefangener Verkehr zwischen uns möglich, so würde ich diesen Brief nicht geschrieben haben: Sie wissen, warum ich das bezweifeln muß. Meine Zukunft ist abgeschlossen, ich wünsche mir nichts, als in Frieden meine Kinder erziehen zu dürfen; wenn Sie meine Lebenserfahrungen kennen würden, so würden Sie das begreifen und billigen. Ich will es – und ich muß es!

Glauben Sie mir das aufs Wort hin.

Ich bitte Sie, sich keinerlei Depensen für die Kinder zum Fest aufzuerlegen. Lassen Sie mich die Festtage benutzen, um meine Kinder wieder oben zu fesseln – es ist die beste Zeit dafür – und lassen Sie es meine Sorge sein, sie von Ihnen abzulösen, ohne daß eine Frage oder ein Vorwurf für Sie in ihren kleinen Herzen zurückbleibt. Sie sollen bei zufälligen Begegnungen die alte Zuneigung bei ihnen vorfinden.

Wenn Sie mir und meiner Zukunft Gutes wünschen, so verwinden Sie mit gutem Willen, was nicht zu umgehen ist … Jeder Versuch, es zu ändern, wäre nichts als eine Qual für mich. Ihre
Helene von Einsiedel.“ 

Doktor Hartmann sah sehr verstört aus, als er die beiden kleinen Bogen aus der Hand legte. Aber er biß die Zähne aufeinander. „Ich will Dich quälen!“ sagte er leidenschaftlich. „Ich will nicht auf Jahre hinaus verlumpen und vertroddeln, weil das Weib, das zu mir gehört wie mein Kopf und mein Arm, vor mir flüchtet! Was das für Marotten sind, verstehe ich nicht … aber das ist kein Abschiedsbrief. Du hast von dem Trank getrunken, schöne Frau, der selig oder verdammt macht, und ich bin Dein Schicksal...“

Er frühstückte hastig, zerstreut, las zwischendurch den Brief noch zweimal. Und er murmelte: „Meine Kinder … meine Puppen … Weihnachten ohne mich …“

Er wußte, was er thun würde.

Er ging zum Schreibtisch und schrieb eine Antwort:

  „Gnädigste Frau!
Ich werde Ihnen den Uebergang erleichtern: morgen verreise ich auf ein Vierteljahr nach dem Süden.

Allein jeder, der geköpft werden soll, hat das Recht auf drei Dinge. Erstlich: genau zu wissen, weshalb er verurteilt ist. Zweitens: Abschied zu nehmen von denen, die ihm am nächsten stehen. Drittens: auf ein Henkersmahl.

Ich will mein Recht.

Fanden Sie den Mut, mir diesen Brief zu schreiben, so müssen Sie auch den haben, mich noch einmal zu sehen. Ich will nichts als eine Auskunft, ein Lebewohl und – Ihnen die Hand küssen, die mich schlägt!       Der Ihrige  
Doktor Hartmann.“     

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 812. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0812.jpg&oldid=- (Version vom 28.4.2023)