Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1896) 0559.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

„Fräulein Nunnemann!“ rief ich in demselben Augenblick. Es wäre mir unmöglich gewesen, sie mit einem anderen Namen zu nennen, selbst wenn ich mich seiner entsonnen hätte.

Das junge Mädchen stand eine Minute und sah uns verwundert an, wie wir jetzt auf einander zueilten, um uns zu begrüßen, dann setzte sie leise ihren Spitzenkasten in einen Schrank und verließ geräuschlos das Zimmer.

„Aber ich kann’s noch gar nicht glauben, daß Sie es wirklich sind,“ sagte ich, als ich glücklich auf einem Stuhle saß und Fräulein Nunnemann meine beiden Hände in den ihren hielt. „Ich kam hierher, um eine Frau aufzusuchen, von der ich mich frisieren lassen wollte –“

„Die Frau bin ich, Kindting, und das Mädchen, das eben hinausging, ist meine Dora, meine Aelteste, ein liebes Ding und mir eine große Stütze.“

„Aber Fräulein Nunnemann – doch verzeihen Sie, ich sollte wohl sagen Frau – Frau –“

„Laß nur, Kindting,“ wehrte Fräulein Nunnemann ab, „der alte Name ist mir gerade so lieb. Er ist –“ sie senkte die Stimme und sah sich ein wenig ängstlich um, „im Vertrauen gesagt, Kindting, er ist der ehrlichere von den beiden. Nicht daß ich den neuen für gewöhnlich nicht benutzte – das muß ich ja schon der Mädchen wegen – aber ich höre den alten ganz gern von Dir. Laß es nur dabei bewenden.“

Es entstand eine kleine Pause. Ich wußte nicht recht, ob ich es wagen dürfte, nach Fräulein Nunnemanns Verhältnissen zu forschen, aber es war auch gar nicht nötig, sie sagte ganz von selbst: „Du wunderst Dich vielleicht, Kindting, daß Du mich hier so findest, aber siehst Du – ich habe keinen Mann mehr.“

„O,“ sagte ich bedauernd, „Sie sind Witwe?“

„Das nicht gerade, Kindting, oder wenigstens weiß ich nichts davon, obschon es wohl möglich ist. Nein, er verließ mich, Kindting, wirklich, buchstäblich, er verließ mich. – Ich liebte ihn,“ sagte das arme Fräulein Nunnemann betrübt, „und er liebte mich ja anfangs auch, aber ich fürchte, er war kein guter Mensch. Ich habe mich später oft gewundert, daß ein so schönes Gesicht der Spiegel einer so unschönen Seele sein kann, und es ist mir sogar in trüben Stunden zuweilen der Gedanke gekommen, er könnte mich vielleicht nur meines Geldes wegen geheiratet haben!“

Ich wagte nicht, zu sagen, daß ich dies für nicht ganz unmöglich hielte, und Fräulein Nunnemann fuhr fort: „Nach einem halben Jahre schon behandelte er mich sehr wenig gut. Ich darf wirklich wohl sagen, er behandelte mich schlecht.“ Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern: „Im Vertrauen gesagt, Kindting – ich möchte nicht, daß die Mädchen mich hören – er schlug mich. Und ehe ein Jahr um war, entfernte er sich eines Tages und kehrte nicht zurück. Was er von meinem Gelde nicht schon durchgebracht hatte, das hatte er mitgenommen, und nun saß ich da mit den vier armen Würmern, und wir hatten alle fünf nichts, wovon wir leben konnten.“

Ich sprang von meinem Sitze empor. „Aber das ist ja – das ist ja geradezu – und haben Sie nicht nach ihm forschen lassen?“ rief ich.

Fräulein Nunnemann drückte mich sachte wieder auf meinen Stuhl nieder. „Das habe ich wohl,“ sagte sie, „aber siehst Du, Kindting, er hatte einen Vorsprung und wird wohl schon drüben in Amerika gewesen sein – oder anderswo. Jedenfalls war er nicht zu finden, und wenn er wieder gekommen wäre, so wäre es am Ende auch kein Glück gewesen.“

„Aber die Kinder,“ sagte ich, „was machten Sie mit denen?“

„Nu, siehst Du, Kindting – die mußte ich natürlich behalten. Es sagten mir damals Leute, ich könnte sie loswerden, wenn ich wollte, sie gehörten ja nicht mir und ich hätte keine Verpflichtungen, aber – na, ich hatte sie doch nun einmal als meine übernommen, Kindting, und lieb hatte ich sie doch auch gewonnen. Sie konnten ja doch auch nicht dafür, daß ihr Vater kein guter Mensch war. Und so dachte ich denn, ich will sie behalten in Gottes Namen, und es ist ja auch gegangen.“ Fräulein Nunnemann schwieg und strich an ihrer weißen Schürze herunter.

„Mit dem Unterrichten wollte es sich nicht wieder machen,“ sagte sie mit einem gutmütigen Lächeln, „und leben mußten wir doch nun einmal. Da habe ich meine alten Künste wieder hervorgeholt, die ich früher bei meinem Onkel gelernt hatte. Er war Friseur, Kindting, und ein recht guter, denn er hat sich ein hübsches Stück Geld damit verdient. Ich hatte früher gemeint, anderen Leuten Locken brennen, wäre nicht gut genug für mich. Na etwas sehr Vornehmes ist es ja nicht, aber die vier Mädchen waren hungrig und ich auch. Da habe ich denn, was an Scheren und Brenneisen aus Onkels Nachlaß noch da war, wieder in Gebrauch gesetzt, und wenn es auch zuerst ein bißchen ungeschickt ging, so habe ich mich doch bald wieder auf die alten Kunstgriffe besonnen. Zuerst ging es knapp her bei uns. Ich wurde mager und die Mädels wurden nicht fett – übrigens, das sind sie noch nicht, es liegt nicht in ihnen – und Ersparnisse haben wir auch nachher nicht gemacht. Du weißt, Kindting, rechnen kann ich nicht. Aber es wurde doch nach und nach immer besser, und seit meine Aelteste, die Dora. aus der Schule ist, den Haushalt besorgt und Spitzen klöppelt, und seit Paula, die zweite – die hat Verstand, sage ich Dir, Kindting! – unser Rechenmeister ist und Buch führt, fangen wir sogar an, ein bißchen zurückzulegen. Denn Haushaltung und Rechnen, das sind nun einmal Dinge, für die ich kein Talent habe.“

Trotz dieses Maugcls sah ich Fräulein Nunnemann zum erstenmal im Leben mit einem ihr gegenüber ganz neuen Gefühl an: mit Respekt. Ich hatte nie anders an sie gedacht als halb belustigt, halb verächtlich, nie war es mir in den Sinn gekommen, sie könnte auch solche Eigenschaften besitzen, welche der ehrlichsten Hochachtung wert wären. Oder hatte der Ernst des Lebens etwa diese Eigenschaften erst in ihr wach gerufen? Ich weiß es nicht.

„Meine Töchter sind alle vier liebe Mädchen, auch die beiden jüngsten,“ sagte Fräulein Nunnemann stolz. „Sie arten wohl nach ihrer ersten Mutter – aber so schön wie ihr Vater wird keine. Ach, Kindting, er war ja wohl ein Taugenichts, aber wenn Sie ihn gesehen hätten! Er war –,“ sie seufzte, „wirklich, buchstäblich, er war ein schöner Mann, schön und liebenswürdig, wenn er nur wollte.“ Und Fräulein Nunnemann schüttelte betrübt den Kopf, ganz bereit, in alte Erinnerungen zu versinken. Ich aber fühlte mich diesmal nicht versucht, über sie zu lächeln.

Plötzlich jedoch fiel ihr ein, daß sie noch nichts über mich und meine Schicksale gehört hätte, und als dies geschehen war, erinnerte sie sich, weshalb ich eigentlich gekommen war, und bestand darauf, daß ich mich im Nebengemache, „im Salon“, wie sie sagte, nach allen Regeln der Kunst von ihr frisieren ließe. Ich stelle Fräulein Nunnemann mit Vergnügen das Zeugnis aus, daß sie vortrefflich frisierte. Als ich bezahlen wollte, war sie nicht zu bewegen, eine Vergütung in irgend einer Form dafür anzunehmen.

Dann traten andere Damen ein, welche ihre Dienste in Anspruch nehmen wollten, und ich verabschiedete mich von ihr, diesmal wirklich zum letztenmal im Leben. Am nächsten Morgen reisten wir ab. Ich habe Fräulein Nunnemann – möge sie bis zuletzt so heißen – nicht wieder gesehen.

Freilich, ganz verschollen ist sie trotzdem nicht für mich geblieben. Es sind erst wenige Wochen vergangen, seit ich nach einem Zwischenraum von einem halben Dutzend Jahren noch einmal von Fräulein Nunnemann hörte. Eine liebe Freundin vom Lande besuchte uns mit ihrem Töchterchen in der Stadt. Sie hatte gebeten, auch die sehr tüchtige Erzieherin des kleinen Mädchens mitbringen zu dürfen, da dieselbe es besonders gut verstände, das etwas eigenwillige Kind artig und gehorsam zu erhalten, und ich fand in Fräulein Paula Reiche, einem schlanken, blonden Mädchen mit klugen Augen und einem sanften Gesichte, einen lieben, in keiner Weise störenden Gast.

Eines Nachmittags blätterte Fräulein Reiche in einem alten Album von mir. Plötzlich sah ich sie über das ganze Gesicht lächeln und erröten. Und als ich mich über ihre Schulter beugte, um zu sehen, was ihre Aufmerksamkeit in so heiterer Weise erregt haben könnte, was sah ich? Die vier Bilder, welche mir Fräulein Nunnemann einst gesendet und die ich immer noch treulich aufbewahrt hatte.

„Sie lächeln, liebes Fräulein, als wenn Sie diese Leute kennten? Die Dame ist eine ehemalige Lehrerin von mir, damals hieß sie Fräulein Nunnemann. Ihr späterer Name ist mir leider entfallen. Der Herr ist ihr Mann, die vier kleinen Mädchen sind ihre Stiefkinder. Sie dürften sie kaum kennen.“

„Ein wenig doch,“ sagte Fräulein Paula lachend, „das sind meine drei Schwestern und ich; die Dame ist –“

„Ihre Mama? – wirklich?“

„Freilich, meine liebe, gute, alte Mama. Aber sie hat sich verändert seitdem. Sie ist jetzt ganz grau.“

„O,“ rief ich teilnehmend, „und wie geht es Ihrer Mama und den Schwestern? Das ist wirklich ein hübscher Zufall, der Sie

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0559.jpg&oldid=- (Version vom 20.10.2022)