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Seite:Die Gartenlaube (1896) 0256.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Murad, bleich von Angesicht, das Haupt gesenkt, wanderte wie ein unsteter Geist durch die langen Gänge des Palastes und die Wege des Parkes. Als er an den Richtplatz kam, auf dem die Knechte Chosrefs mit den unheimlichen Vorbereitungen zur Vollziehung der Strafe an Sadyk beschäftigt waren, durchrieselte ihn ein Grausen, das ihn erzittern machte. Es war bekannt geworden, Sadyk solle bestraft werden, weil er in leichtfertiger Weise, entgegen einer ernsten Mahnung des Bey, die Heilung Murads unternommen habe, und dieser wußte, daß Scheriffeh um seinetwegen zu leiden haben werde.

Die arme Scheriffeh saß inzwischen in ihrem Zimmer und weinte und weinte. Aber nicht Furcht vor der Züchtigung war es, die ihre Thränen rinnen machte. Daß Murad sie zurückgewiesen, sich von ihr abgewandt hatte – betrübte sie zum Tode. – Vor der Folter, die ihr bevorstand, hätte sie sich leicht retten können. Ein Wort an Ali Bey, der in der Nähe von Karaman ihrer Befehle harrte – und er würde zur Hilfe herbeigeeilt sein! – Aber Scheriffeh hatte nur den einen Gedanken: sie wollte nicht von Murad scheiden; um aber in seiner Nähe bleiben zu können, so lange er ihr nicht verziehen hatte, durfte sie sich nicht zu erkennen geben und mußte im Dienste des Bey verweilen. Im Innersten ihres Herzens war noch ein Hoffnungsschimmer: vielleicht rührten die Schmerzen, die sie nur Murads willen erdulden wollte, sein stolzes Herz! Willkommen war ihr um diesen Preis jede Pein. Der Hoffnungsschimmer war schwach, aber er erleuchtete den Pfad zum Richtplatz und unverzagt, wennschon ein Bild des Jammers, trat sie den schweren Gang dorthin an.

Der Hof war bereits in einem großen Kreise versammelt, als Scheriffeh zwischen zwei Wächtern auf dem Platze erschien, wo sie gezüchtigt werden sollte. Der Bey saß auf einem erhöhten Sessel, ihm zur Rechten und zur Linken standen die hohen Beamten seines Hofstaates; dem stummen Murad war ein Platz dem Bey gegenüber angewiesen worden. Das hatte der Fürst angeordnet, weil er Murad während des erwarteten Vorganges beobachten wollte. Murad war so bleich wie Scheriffeh und hielt die Zähne zusammengepreßt und die Augen zu Boden geschlagen.

Die Verurteilte stand jetzt in der Mitte des Richtplatzes, von vielen mitleidigen Blicken beobachtet. Ihre nackten Füßchen steckten in weiten Schuhen, die leicht abgeworfen werden konnten. Diese Füße waren schön und zierlich und glänzten, als wären sie aus blau geädertem, fein geschliffenem Marmor. Und die Peitsche des Henkers sollte sie zerfleischen!

Chosref trat vor den Bey, verbeugte sich bis zur Erde, hob dann das Haupt und blickte seinen Herrn fragend an.

„Walte Deines Amtes!“ sagte der Fürst mit fester Stimme.

Darauf wandte sich Chosref zu Scheriffeh und legte seine Hand gewaltig auf deren zarte Schulter und drückte sie zu Boden. Scheriffeh knickte zusammen wie eine von schwerem Fuß zertretene Blume. Und in demselben Augenblick drang ein jammervoller Klageschrei über ihre bleichen Lippen.

Er schnitt Murad ins Herz und machte es sterbenswund. Das war derselbe Schrei, der ihn aus Stambul vertrieben hatte. Sein trotziger Stolz schmolz unter dem kläglichen Hauch wie Wachs unter einer spitzen Flamme. – Mit einem Satz war er neben dem Nachrichter und schleuderte ihn beiseite. „Dies ist der Arm einer Sultana!“ rief er. „Hüte Dich, Deine rauhe Hand daran zu legen!“ – Scheriffeh vernahm die Worte, die sie selbst an ihrem Hochzeitsabend gesprochen und seitdem so bitter bereut hatte; nun wußte sie, daß sie ihr endlich verziehen waren! Murad umfaßte ihren zarten Leib mit der Sorgfalt einer ängstlichen Mutter, die das kranke Kind einbetten will, hob die leichte Last auf seinen Arm und trat vor den Bey.

„Dies ist meine Gemahlin,“ sagte er. „Gewährt ihr gastfreundliche Aufnahme in Eurem Harem. Sie ist dessen würdig, wie Ihr erfahren werdet, wenn Ihr mir kurzes Gehör schenken wollt.“

Scheriffeh hatte ihr Antlitz, das nunmehr, außer ihrem Gemahl und ihrem Vater, kein Mann unverschleiert wieder erblicken würde, an Murads Schulter verborgen und weinte leise vor Aufregung und Glück.

Dem Bey war es bei den Worten Murads „Dies ist der Arm einer Sultana“ wie Schuppen von den Augen gefallen. – Wie hatte ihn die Verkleidung, unter der die Prinzessin bei ihm erschienen war, nur einen Augenblick täuschen können? Er war bestürzt.

„Glaubt mir, Effendim,“ sagte er, „daß es nie in meiner Absicht lag, der erlauchten Frau schimpfliche Schmerzen zuzufügen. Auch ohne Euer Dazwischentreten war ihr jede Folter erspart. So hatte ich angeordnet, und es würde dem Nachrichter das Leben gekostet haben, hätte er meinen Befehlen nicht gehorcht. – Ich bin stolz, meinen Harem zur Verfügung Eurer erlauchten Gemahlin stellen zu dürfen. Geruht, mich zu begleiten.“ – Er raunte einem Diener, der hinter seinem Sessel stand, einen kurzen Befehl zu, worauf sich dieser schnellen Laufes entfernte. Sodann wandte sich der Bey wieder zu Murad und sagte mit höflichem Gruß: „Ich stehe zu Euren Diensten, Effendi.“ – Darauf schlugen die beiden den Weg zum Palast ein, von dem erstaunten Hofstaat in ehrerbietiger Entfernung gefolgt. Nach einigen Minuten erblickten sie eine von zwei laufenden Schwarzen getragene Sänfte, die vor ihnen Halt machte und in die Scheriffeh von Murad niedergesetzt wurde. Dann kehrte die Sänfte nach dem Harem des Bey zurück, während dieser und Murad sich gemessenen Schrittes nach dem Palast begaben. Unterwegs erzählte Murad, ohne auf Einzelheiten einzugehen, dem aufmerksam lauschenden Bey, er habe Stambul bald nach seiner Vermählung mit Scheriffeh, der Tochter des Großherrn, verlassen und es für gut befunden, sich Schweigen aufzuerlegen, um müßige Fragen über seine Vergangenheit leichter unbeantwortet lassen zu können. Er werde nun demnächst seine Gemahlin nach ihrer Heimat zurückführen.

Scheriffeh wurde im Harem des Bey mit der einer Prinzessin zukommenden Ehrerbietung aufgenommen, zahlreiche Sklavinnen und kostbare Gewande wurden zu ihrer Verfügung gestellt, und als sie Murad wenige Stunden später empfing, da war sie die Sultanstochter, die glückliche, von ihrem Auserwählten geliebte Gemahlin.

Ali Bey wurde am nächsten Morgen in den Palast gerufen und empfing dort von Murad, der ihn aufs herzlichste bewillkommnete, eine kurze Mitteilung von den letzten Vorgängen am Hofe des Bey. Die Augen des guten Ali strahlten vor Freude, als er von der Wiedervereinigung des jungen Paares hörte, an dessen Schicksalen er mit väterlicher Zuneigung Anteil genommen hatte. Er entsandte sogleich einen Eilboten nach Konstantinopel, um dem Großherrn zu melden, Scheriffeh Sultana und Murad würden sich ohne weitern Verzug auf den Weg nach Stambul machen. Wenige Tage später erfolgte die angekündigte Abreise, und zwar auf Scheriffehs ausdrücklichen Wunsch, ohne jede Aufsehen erregende Feierlichkeit und ohne das stattliche Gefolge, das der Bey zu ihrer Verfügung gestellt hatte und das den Zug durch Anatolien verlangsamt haben würde.

Das Wiedersehen der glücklichen Tochter erfreute den Großherrn so innig, daß er darüber den Groll, den er eine Zeit lang gegen Murad gehegt hatte, vergaß. Ja, im Innersten seines Herzens regte sich Bewunderung für den Jüngling, der sich so entschlossen gezeigt hatte, seinem Stolz und seiner Würde alles zu opfern, was Menschen glücklich zu machen pflegt. Nach einer Unterredung mit Murad, in der dieser den Wunsch zu erkennen gegeben hatte, in den Kriegsdienst zu treten, ernannte er ihn zum Offizier. Murad zeigte in seiner neuen Stellung so viel Eifer und Tüchtigkeit, daß er, als einige Zeit darauf der Krieg an der Grenze von neuem entbrannte, mit der Führung einer größeren Heeresabteilung betraut werden konnte. In der ersten Schlacht, an der er teilnahm, gab er Beweise unerschütterlicher Kaltblütigkeit und verwegenen Mutes und trug durch sein persönliches Eingreifen in den Kampf wesentlich zu dem für die Türkei glücklichen Ausgang des Tages bei. Er wurde noch während des Feldzuges zum Pascha ernannt, zu einer der höchsten Stellungen in der Armee befördert und kehrte nach Beendigung des Krieges, der mit einem ehrenvollen Frieden für die Türkei schloß, ruhmbedeckt nach Stambul zurück. Dort wurde er unter dem Namen Gurdschi Murad Pascha (Murad Pascha der Georgier) eine berühmte Persönlichkeit, deren Namen noch heute in der Kriegsgeschichte des osmanischen Reiches glänzt. Die eiserne Strenge, mit der er die Mannszucht unter seinen Truppen aufrecht erhielt, hatte ihm aber viele Feinde gemacht, und nachdem sein mächtiger Beschützer, der Vater Scheriffehs, gestorben war, gelang es jenen, den Georgier aus der Gunst des jungen Sultans zu verdrängen. Darauf legte Murad Pascha sein Amt nieder und zog sich mit seiner Gemahlin, die ihn bis zu ihrem Tode abgöttisch verehrte, nach Karaman zurück, wo er, auf einer großen Meierei, die er erworben hatte, fern von dem Treiben der Hauptstadt hochbetagt starb. Scheriffeh Sultana war ihm um mehrere Jahre im Tode vorangegangen.




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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0256.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)