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Seite:Die Gartenlaube (1896) 0135.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

erhebt seine Stimme, um die heilige Nacht zu grüßen, und aus den Tiefen des finsteren verschneiten Waldes, da taucht er wieder auf, der Weihnachtszauber, der uns in unserer Kindheit umspann mit seinen Märchen und Sagen – das muß man erlebt haben, um es zu lieben!“

Zenaides Augen hingen an seinen Lippen, diese halb phantastische, halb leidenschaftliche Sprache fand einen Wiederhall in ihrem Innern. Lord Marwood mußte wieder einmal die Erfahrung machen, daß er gar nicht da zu sein schien für die junge Dame, sobald jener andere in ihrer Nähe war. Trotzdem wich und wankte er nicht von seinem Platze; glücklicherweise that der Professor jetzt eine Frage an Ehrwald, die diesen nötigte, wieder zu den Herren zu treten, und Francis behauptete das Feld. Da kam die kleine Elsa gelaufen, mit einem kleinen Tannenzweig, den ihr Sonneck vom Christbaum gebrochen hatte, und rief fröhlich: „Schau, Tante Zenaide, was ich habe! Ich will in den Garten gehen und es Hassan zeigen. Darf ich?“

„Ja, Elsa, ich gehe mit Dir – komm, mein Kind,“ sagte die junge Dame, indem sie sich rasch erhob. Sie nahm die Hand des Kindes, neigte leicht das Haupt gegen Marwood und schritt über die Terrasse in den Garten. Francis biß sich auf die Lippen, und in seinen matten Augen lag ein beinahe drohender Ausdruck, als er ihr nachblickte. Es war gut, daß dieser Mensch nun endlich ging, sonst ließ man sich doch noch einmal hinreißen ihm gegenüber!

Am Ende des Gartens, weit entfernt von dem Hause, breitete eine mächtige Sykomore ihre dunklen Aeste über einen Ruhesitz. Hier saß Zenaide, sie hatte beide Arme um ihren kleinen Liebling gelegt und das lange zurückgehaltene Weh machte sich jetzt in Thränen Luft. Sie hatte alles gehofft von diesem Aufenthalte in Luksor, wo man sich öfter und zwangloser sehen konnte als in der Stadt, und nun war ihr Reinhart hier so fern gewesen wie nie zuvor. Er war kaum dreimal gekommen in der ganzen Zeit. Wagte er es wirklich nicht, um die reiche, gefeierte Erbin zu werben, oder hatte sie sich getäuscht damals, als er so weich und bittend fragte: darf ich kommen? Jetzt stand die Trennung unmittelbar bevor und er hatte nicht gesprochen!

Das Kind versuchte vergebens, seine junge Beschützerin zu trösten, an der es mit großer Zärtlichkeit hing; es schmeichelte, bat und fragte immer wieder, warum denn die Tante so weine. Da preßte Zenaide die Kleine an sich und flüsterte in ausbrechendem Schmerz und völliger Selbstvergessenheit: „Weißt Du es denn nicht, Elsa? Er geht ja fort und kommt vielleicht niemals wieder!“

Klein-Elsa war ein kluges Kind, sie wußte ganz genau, wer in den nächsten Tagen fortging, und wußte auch, daß mit dem „er“ nicht der Onkel Sonneck gemeint sei. Aber der kurze Waffenstillstand, den sie in jener seltsamen Mittagsstunde mit ihrem alten Gegner geschlossen hatte, war längst schon wieder vorüber. Sie warf daher trotzig das Köpfchen zurück und sagte mit großer Entschiedenheit: „Laß ihn gehen, Tante Zenaide! Du sollst nicht um ihn weinen, ich mag ihn gar nicht!“

Da ertönten Schritte in unmittelbarer Nähe, Zenaide schreckte empor, aber sie hatte keine Zeit mehr, ihre Thränen zu trocknen, denn Ehrwald stand bereits vor ihr. Er wollte rasch näher treten, da warf er einen Blick auf ihr Gesicht und hielt bestürzt inne.

„Mein gnädiges Fräulein – ich bitte um Verzeihung – ich störe wohl?“

Die junge Dame hatte sich rasch gefaßt, sie erhob sich, die Arme noch um die Schultern des Kindes gelegt, und versuchte zu lächeln.

„Nicht doch, ich ich weinte nur, weil ich nun meinen kleinen Liebling verlieren soll, und ich hätte ihn doch so gern behalten. Er soll ja fort, schon in den nächsten Tagen!“

Reinhart sah sie an, er wußte es besser, welcher Trennung diese Thränen galten, aber er gab sich natürlich den Anschein, dem Vorwande zu glauben, und begann ein Gespräch. Sie fanden aber beide den gewohnten Ton nicht, sie hatten etwas ganz anderes auf dem Herzen als die gleichgültigen Worte, die von ihren Lippen fielen, und es traten immer wieder längere oder kürzere Pausen ein.

Die Farbenglut des Sonnenunterganges war verblaßt, nur am westlichen Horizont schimmerte noch tiefer Purpur, und sein letzter Wiederschein glänzte in den Fluten des Nils. Drüben am jenseitigen Ufer schritt langsam ein Zug von Kamelen dahin, auf dem ersten ein Beduine, in weißem wallenden Gewande, die anderen trugen hochgetürmte Lasten. Sie hoben sich scharf und dunkel wie Silhouetten ab von dem lichten Abendhimmel. Auf dem Nil schwamm eine Dahabiye vorüber, das Segel leicht geschwellt vom Abendwinde, während die Ruder sich taktmäßig hoben und senkten. Der Gesang der Schiffer klang herüber durch die Stille, eine einförmige, schwermütige Weise, die vielleicht schon vor mehr als tausend Jahren erklungen war auf den Wogen des alten heiligen Stromes.

„Ich komme auch, um Lebewohl zu sagen!“ hob Reinhart nach einem längeren Stillschweigen wieder an.

Zenaide erbleichte. „Schon jetzt?“

„Ich werde morgen mit Herrn Sonneck den förmlichen Abschiedsbesuch machen, aber da sehe ich Sie nur in Gegenwart Ihres Vaters und des Lord Marwood, und ich wollte Sie vorher noch einmal allein sehen und sprechen.“

Das junge Mädchen antwortete nicht, aber alles Blut drängte stürmisch nach ihrem Herzen. Wollte er jetzt endlich das entscheidende Wort sprechen – endlich?

„Ich bin in der letzten Zeit Ihrem Hause größtenteils ferngeblieben,“ fuhr Reinhart fort. „Sie haben mir einen Vorwurf daraus gemacht, ich weiß es.“

„Wenigstens habe ich es mir nicht erklären können. Warum kamen Sie nicht?“

„Weil ich es nicht ertragen kann, ein unwillkommener Gast zu sein.“

„Unwillkommen – bei mir?“

„Nicht bei Ihnen, aber bei Ihrem Vater!“

„Er hat Sie doch nicht beleidigt?“ Es klang eine geheime Angst in der Frage.

„Nein, dann wäre ich nicht hier. Der Herr Konsul behandelt mich sehr höflich – sonst jedoch war er gütig gegen mich.“

Zenaide schwieg, sie hatte ja auch die wortlose, aber unzweideutige Abwehr ihres Vaters bemerkt und kannte längst seine Pläne hinsichtlich Lord Marwoods, aber sie hatte seinem voraussichtlichen Widerstande nie größeres Gewicht beigelegt, wenn sie auch darauf gefaßt war, für ihre Liebe kämpfen zu müssen. Der Vater liebte seine einzige Tochter über alles, er würde schließlich doch nachgeben.

Die kleine Elsa schien dies Gespräch mit den langen Pausen sehr langweilig zu finden. Ueberdies sah sie, daß Tante Zenaide jetzt vollständig getröstet war, sie ergriff daher ihren Tannenzweig und rief: „Nun will ich gehen und Hassan suchen!“

„Ja, geh, Elsa, wir können Dich jetzt ohnehin nicht brauchen,“ sagte Reinhart und griff scherzend nach dem Blondhaar, das offen über die Schulter des Kindes fiel. Das nahm die Kleine aber gewaltig übel, sie wich zurück und rief zornig: „Laß mich! Du bist schuld daran, daß Tante Zenaide geweint hat. Du bist immer schuld, wenn sie weint!“

„Elsa!“ rief die junge Dame bestürzt, aber die Kleine sprach unerbittlich weiter: „Warum gehst Du fort? Tante Zenaide mag das nicht. Sie will, Du sollst hier bleiben, dann weint sie nicht mehr!“

Sie blitzte ihn noch einmal zornig an mit ihren großen Augen und lief dann fort. Zenaide war in tödlicher Scham und Verlegenheit auf den Sitz niedergesunken und verbarg das Gesicht in den Händen. Reinhart beugte sich tief zu ihr hinab und sagte leise: „Zenaide!“

Sie regte sich nicht, aber er hörte einen Laut, der wie unterdrücktes Schluchzen klang.

„Zenaide – hat das Kind recht?“

Sie ließ langsam die Hände sinken und hob die Augen zu ihm empor, die Antwort stand so deutlich darin, daß wohl jeder andere ohne weitere Erklärung die Geliebte an sein Herz gezogen hätte; der sonst so stürmische Ehrwald that das nicht. Er ließ sich nur an ihrer Seite nieder, aber seine Stimme hatte wieder jenen weichen, verschleierten Ton, den sie nur einmal von seinen Lippen gehört hatte, damals in Kairo, als sie allein waren auf der dunklen Terrasse, unter dem sternfunkelnden Himmel. Jetzt vernahm sie ihn wieder und in die Worte hinein klang jener Gesang vom Nil her, die uralte schwermütige Weise, aber sie tönte leiser und ferner, wie das Schiff immer weiter und weiter dahinzog.

„Zürnen Sie mir, daß ich bisher noch nicht gesprochen habe? Ich sah Sie ja niemals allein hier, aber jetzt, wo die Trennung unmittelbar bevorsteht, habe ich noch eine Frage, eine Bitte auf dem Herzen und ich möchte die Antwort mit mir hinausnehmen in die Ferne. Sie wissen es ja, ich muß fort –“

„Warum müssen Sie? Es zwingt Sie ja niemand dazu!“ unterbrach ihn die junge Dame unbedacht.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0135.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)