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Seite:Die Gartenlaube (1896) 0110.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Hohe Politik.

mit Jubel begrüßt, ein Civilist auf der Bildfläche, „Serschantenkarl“, der Omnibusschaffner, der heute seinen freien Nachmittag und ein paar Nickel übrig hat. Rasch wird er hereingeholt, aber zum tiefen Schmerz seiner Freunde kennt er die Geheimnisse der vier Wenzel nicht. „Na, Karel, ’n ‚Schafskopp‘ werst De doch spilln kenn’n?“ fragt Onkel Pietsch mit vergnügtem Schmunzeln, und richtig, Sergeantenkarl kennt das Spiel mit dem „Alten“ und der „Baste“, das der Skat fast ganz verdrängt hat. „Awer nich jut!“ meint er; doch der „Baron“ tröstet ihn und verspricht zu helfen. Bald ist das Spiel in vollem Gange, Strich reiht sich an Strich, der Civilist verliert seine Nickel, aber zum Glück nicht den Humor. Unter Lachen und Scherzen verrinnt die Zeit, aber da, gerade als Karl zum erstenmal „61“ gezählt hat, ertönt ein Pfiff, der „Baron“ springt mit einem Satz aus dem Wagen und eilt zu seinem Pferd – er ist inzwischen Erster geworden und muß nun, nach der strengen Vorschrift der Polizei, auf dem Bock bleiben. Endlich winkt ihm die Erlösung, ein Fahrgast naht. Die anderen stehen unterdessen noch immer an der Ecke und warten und warten. Längst brach die Dämmerung an, auf den Straßen und in den Häusern flammen Lichter auf, auch August und Pietsch zünden ihre blauen Laternen an, die von fern schon die Droschke zweiter Güte verraten. Als auch die letzten des lustigen Kleeblattes ihren ersten Verdienst einstrichen, war es bereits Nacht geworden; sie fuhren drum nicht mehr nach ihrer Haltestelle zurück, sondern vor eines der vielen Theater und Konzerthäuser, um neue Fahrgäste zu suchen …

Mitternacht ist längst vorüber, einsam liegen die breiten Straßen, nur der niederrauschende Regen unterbricht die tiefe Stille. Und jetzt noch ein andrer Ton; aus den hellerleuchteten Fenstern eines hohen Hauses klingen gedämpfte Walzerklänge. Bei Geheimrats wird getanzt und die junge Welt dort oben hört unmutig die Aelteren zum Aufbruch mahnen. Ein blondes Köpfchen erscheint am Fenster, sieht erschreckt zum regenspendenden Himmel auf, dann mit ängstlich forschendem Blick auf die Straße hinab, und tritt nun beruhigt in den Kreis der Tanzenden zurück. Mag’s regnen oder schneien, mag der Frost die Glieder krümmen, sie sind auf ihrem Posten, die Kutscher „zweiter Jüte“. Längst haben sie die erleuchteten Fenster bemerkt, die bekannten Melodieen erlauscht, und sie warten nun, und sei es bis zum lichten Morgen, auf die müden Opfer des Vergnügens. Einer hält Wache, die andern legen sich in ihren Droschken zum Schlummer oder strecken sich auf dem Bock aus, schieben den Hut zum Schutz auf die Wange und schlafen in dieser unbequemen Lage so fest wie Murmeltiere.

So vergeht die Nacht, der Morgen dämmert, den Himmel überflutet fahlrotes Licht, es tagt. Pfeifend schlürfen die Bäckerjungen durch die öden Straßen, aus den Druckereien eilen geschäftige Leute nach allen Richtungen der Windrose, treppauf, treppab, damit der erwachende Großstädter auf dem Frühstückstisch pünktlich seine tägliche Ration „öffentliche Meinung“ vorfinde. Ein fliegender Händler besucht die Standplätze der Kutscher und verkauft für einen kleinen Nickel das billige Lokalblatt, dessen Inhalt sie mit Muße genießen, während das müde Roß neugierig nach der frischbeklebten Litfaßsäule blinzelt, an der bunte Plakate zum großen Wettrennen in Carlshorst laden; und ein tiefes Wiehern entringt sich der gequälten Pferdebrust …

Familienmittag am Sonntag.

Die Großstadt ist erwacht, lärmend jagen zahllose Gefährte aller Art durch die Straßen, doch die vom Nachtdienst ermüdeten Droschkengäule müssen noch zu früher Stunde Reisende mit schweren Koffern nach den fernen Bahnhöfen schleppen. Dann erst, oft kaum vor der Mittagszeit, geht’s heimwärts, dem Stalle zu und danach, wenn das Pferd besorgt ist, zu Weib und Kindern. Oft ist der Verdienst sehr gut (bis zu zehn Mark), oft kaum genügend für die tägliche Nahrung von Mensch und Tier.

Sonntag! Heute fährt der Kutscher bei Tage aus, am frühen Morgen; er weiß, daß halb Berlin am Ruhetag aus den dumpfen Mauern flieht, hinaus in den Grunewald, dessen fichtenbestandenen Sandboden an solchen Tagen oft mehr Stullenpapier als Gras deckt, hinaus zu den sogenannten „Gärten“, in denen „Familien Kaffee kochen“ können. In Kremsern und Droschken flüchtet, wer flüchten kann, um am späten Abend zögernd in die schwüle Luft der Millionenstadt zurückzukehren. Das sind gute Tage für unseren Freund „zweiter Jüte“; zum Mittag hat er Frau und Töchterchen nach seinem Standplatz bestellt; dort harren die beiden mit dem wohlgefüllten Korbe manche Viertelstunde auf das Haupt der Familie. Aber das Warten verdrießt sie nicht; bleibt Vater lange, so hat er eine „gute Tour“ und bringt Geld mit. In der Ferne knallt eine Peitsche, der Wagen biegt in die stille Straße ein und bald sitzen Mutter und Tochter auf den roten Plüschpolstern und reichen Vatern das frugale Mittagsmahl, dem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0110.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)