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Seite:Die Gartenlaube (1889) 546.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Unbesonnenheit getadelt, gestern, als sie ihm auf die Straße entgegengeeilt, war er nicht heute wieder ihrer naiven Zärtlichkeit entgegengetreten? Nein, sie liebte ihn – fort mit den Vergangenheitsschatten, fort mit der blonden Ophelia, fort mit allen Bedenken! Sein Blick flammte auf – und endlich, endlich machte Tante Karoline die Entdeckung, auf die sie bisher vergeblich gewartet hatte: daß der stattliche, vornehme Mann sterblich verliebt in das Trudchen sei.

Da erinnerte sie sich plötzlich, daß sie doch eigentlich in der Küche nachsehen wollte, aber so schnell konnte sie das einmal begonnene Gespräch nicht abbrechen, also erzählte sie weiter.

Sie war am Tage zuvor in einem Konzert gewesen, in dem es etwas Neues zu bewundern gegeben hatte, Señor Pablo, den berühmten Konzertmaler.

Gertrud äußerte sich wegwerfend über diese Entweihung der Kunst und wunderte sich, daß Tante Karoline Gefallen daran gefunden hätte.

„Ja, Kind,“ sagte die enthusiastische alte Dame, „die Sache liegt für mich anders als für Euch Kenner. Ich bin keine Kennerin, und es machte mir wirklich Spaß, unter den Klängen bekannter Musikstücke ein hübsches Bild, eine Waldlandschaft mit See bei Mondschein, entstehen zu sehen. Dann aber war auch der Maler eine interessante, vornehme Erscheinung. Man erzählte im Publikum, daß er ein sehr gefeierter Künstler gewesen sei, der Gott weiß wie auf diese Bahn gerathen.“

„Unmöglich!“ rief Gertrud, „ein wirklicher Künstler wird sich nie so weit herabwürdigen, eine Gaukelei aus seiner Kunst zu machen.“

„Das dürfen Sie nicht so schroff behaupten, wenn es auch eigentlich so sein sollte, wie Sie sagen,“ meinte Konrad. „Gerade bei genialen Naturen treten solch jähe Umschläge am leichtesten ein, wenn die sittliche Kraft der geistigen nicht das Gleichgewicht hält. Die Erfahrung lehrt das, und Sie werden täglich Beispiele dafür finden.“

„Hier ist das ganz sicher auch so, oder ähnlich,“ sagte Tante Karoline lebhaft. „Justizrath Berner hat den Maler erkannt und ihn auch darauf hin angesprochen, daß sie sich vor langen Jahren in Gastein getroffen hätten. Man hat damals das Höchste von ihm erwartet, und er soll dann auch ein Bild ‚Ophelia‘ gemalt haben, das geradezu Aufsehen erregt hat. Der Name, unter dem er hier auftritt, ist natürlich ein falscher, er ist auch gar kein Spanier, sondern ein guter Deutscher und heißt Lemberg –“

Konrad Herrendörfer wurde sehr blaß, erschreckend blaß sogar.

Gertrud sprang auf.

„Fehlt Ihnen etwas?“ rief sie besorgt. „Sie sehen plötzlich krank aus.“

Sie legte die Hand auf seine Schulter, und er, unbekümmert um Tante Karoline, lehnte sich an sie, als ob sie seine Stütze wäre und nicht das „Kind“, dem er den Halt für das Leben geben wollte.

Die Aufregungen, welche die letzten Tage ihm gebracht hatten, die Enttäuschung der Gegenwart, die Erinnerung an die Qualen der Vergangenheit überwältigten ihn; als er nun noch den Namen des Gehaßten unvorbereitet hören mußte, gab er sich – Stimmungsmensch, wie er war – einen Augenblick ganz dem trostlosen Gefühl hin, das ihm so oft in vergangenen Zeiten das Leben grau und trübe gemacht hatte.

Tante Karoline entfernte sich zartfühlend. Er stand auf und zog Gertrud an sich.

„Es ist, als ob ein Fluch auf meinem Aufenthalt hier ruhe,“ sagte er zu dem erschreckten Mädchen nach der Versicherung, daß er sich körperlich wohl fühle. „Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß im gewöhnlichen Leben eine solche Reihe von Zufälligkeiten zusammentreffen könnte, um die sonderbarsten Verkettungen zustande zu bringen. Du ahnst nicht, was alles auf mich einstürmt, welche Erinnerungen, welch peinvolle Begegnungen.“

Gertrud hielt seine Hand und sah ihm so theilnahmsvoll, so herzlich in die Augen, daß er vergaß, daß es seine Braut, ein junges liebendes Mädchen ohne Welterfahrung und Menschenkenntniß war, zu der er sprach – und er erzählte ihr von seiner Jugendliebe, in den warmen Worten, die ihm sein Empfinden in den Mund legte – er vergaß, daß es kein Selbstgespräch war, in dem er jetzt nach Jahren um die verlorene Geliebte klagte, seinem Haß gegen den plötzlich aufgetauchten Nebenbuhler in leidenschaftlichen Worten Ausdruck gab.

Er erzählte von dem Opheliabilde, von Miß Sikes, ihrer blonden Schülerin, von dem ungetreuen Freunde und dem Verrath, den man an ihm begangen, als ob er gestern das alles erlebt hätte, und erst das leidenschaftliche Schluchzen Gertruds ließ ihn wie aus einem Traume auffahren. –

Welche Unklugheit hatte er begangen, wie thöricht, wie taktlos war seine Aussprache gewesen! Nun er sich alles vom Herzen gesprochen hatte, gewann die Gegenwart ihr Recht – und es war ihm plötzlich, als sei alles, alles ein wüster Traum gewesen – und nun lockte ihn das Leben in der Gestalt des liebreizenden Geschöpfs, das sich von ihm losgemacht und schluchzend und zitternd in einen Lehnstuhl geworfen hatte.

„Gertrud, liebe Gertrud,“ sagte er zärtlich, „das ist nun alles vorbei, wir haben uns ja gefunden und –“

„Nein, nein,“ rief Gertrud da leidenschaftlich und entschieden, „Du hast Dich geirrt, Du sahst, daß ich Dich liebte, und da hast Du Dir eingeredet, daß auch Du mir gut wärest. Deine Liebe gehört der schönen Frau – ach, ich habe sie ja heute selbst gesehen, als ich zu Miß Sikes ging. Du kamst an mir vorüber, ohne mich zu sehen. Ich Aermste glaubte, Deine Gedanken wären bei mir, aber sie weilten bei der schönen Irrsinnigen oben, die Du nie vergessen wirst, wenn sie Dir auch das Herz gebrochen hat – Du hast jetzt nach vielen Jahren gesprochen, als ob Du das alles eben erlebt hättest, Deine Augen sahen träumerisch und unglücklich aus – Deine Worte kamen so aus tiefem Herzen, wie ich sie für mich noch nie von Dir gehört habe. Für mich hattest Du engherzige Schicklichkeitsbedenken, als ich Dir ohne Ziererei zeigte, wie es mir ums Herz war – natürlich, Du hast keins mehr für mich, nur Mitleid und ein wenig Zärtlichkeit, und ich will Dich ganz, mit ganzer Seele, mit ganzer Liebe, denn in mir ist nicht ein Gedanke, der nicht Dir gehörte – –“

Konrad stand stumm vor ihr. Er konnte ihre Worte nicht ernsthaft nehmen – er war auch nicht mehr verstimmt über seine begangene Thorheit – er war nur sehr glücklich, denn aus des Mädchens Erregung sprach die leidenschaftliche Liebe, an der er unter den Eindrücken des letzten Tages zu zweifeln begonnen hatte.

Und wie schön sie war, mit ihren stolzen, thränenfunkelnden Augen, dem zuckenden, kleinen Munde und der heißen Röthe auf den sonst nur leicht gefärbten Wangen!

„Ich habe Dich lieb, Gertrud,“ sagte er einfach, aber voll überzeugender Wahrheit, und wollte sie an sich ziehen.

Aber sie duldete es nicht. Die schlichten Worte verklangen gegen die von leidenschaftlicher Trauer durchbebten, in denen er von der Vergangenheit gesprochen hatte.

Sie trocknete ihre Thränen und richtete sich stolz auf.

„Ich will kein Almosen,“ sagte sie. „Mein Gefühl sagt mir das Richtige, und ich weiß nun auch, weshalb mein lieber Vater mich Ihnen nicht geben wollte. Er hat es auch gemerkt, daß Sie mich nicht liebten, wie es sein soll –“

Konrad wurde ungeduldig. „Aber Gertrud, das ist kindisch,“ sagte er. „Hast Du es denn vergessen, wie wir uns gefunden, wie ich um Dich geworben habe?“

„Du wußtest es vom ersten Augenblick an, daß ich Dir gut war, Du hast nicht einen Augenblick gezweifelt, daß ich Dir ‚Ja‘ sagen würde – so hast Du selbst mir erzählt,“ kam es hastig von Gertruds Lippen, und der trotzige Zug in ihrem Gesicht vertiefte sich.

„Das war gerade schön so,“ sagte er beruhigend, „und dieses unwillkürliche, unbegrenzte Vertrauen zu Deiner Liebe, das allerdings einen Augenblick schwankend wurde, als Du gestern früh dem Wunsche Deines Vaters so schnell nachgabst, – das hat mich jetzt thörichterweise veranlaßt, Dir Bekenntnisse zu machen, für die Du noch zu jung bist.“

Gertrud sah auf ihre krampfhaft ineinander geschlungenen Hände. „Du hättest Dich nicht so erregen können, wenn Dir die schöne Magdalene nicht noch lieb wäre – Du warst ein anderer, als Du mir von ihr erzähltest. – Und ach, warum mußte ich sie auch noch sehen in ihrer zauberhaften Schönheit: nur um wie ein armes Aschenbrödel mich zurückziehen und erst recht begreifen zu müssen, daß, wer eine solche Frau geliebt hat, sein Herz keiner andern mehr geben kann.“

In Konrad wurde die Ungeduld übermächtig. Er versuchte noch einmal, einen Kuß auf die zuckenden Lippen zu drücken, die Aufgeregte in seine Arme zu nehmen, – es gelang ihm nicht, – sie schluchzte und weinte schon wieder und hörte nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_546.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)