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Seite:Die Gartenlaube (1889) 380.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

verschleiert sie sich nur noch vor dem älteren Bruder ihres Gatten, vor niemand weiter, vor jenem auch nur deshalb, weil sie von ihm geehelicht werden müßte, wenn ihr Gatte sterben sollte.

Die Kinder werden von den Eltern stets mit der größten Zärtlichkeit behandelt und nie geschlagen, Das jeweilige Alter des Kindes bezeichnet man mit dem Namen eines Thieres; das Kind kann also „eine Maus, ein Murmelthier, ein Schaf, ein Pferd alt“ sein. Hat der Knabe das Alter von vier Jahren erreicht, so setzt man ihn zum ersten Male auf den Rücken eines ungefähr gleich alten Pferdes, welches reich geschirrt und mit einem in den Familien fortvererbten Kindersattel belegt wurde. Die beglückten Eltern versprechen dem zum erstenmal den schützenden Armen der Mutter entrinnenden, selbständig auftretenden kleinen Reiter allerlei schöne Dinge, rufen hierauf einen Diener oder willigen Freund herbei, übergeben ihm Roß und Reiterlein und beauftragen ihn, von einer befreundeten Jurte zur andern zu ziehen, um das frohe Ereigniß zur Kunde der Sippe und Freunde zu bringen. Wo das Knäblein erscheint, wird es freundlich begrüßt, mit Lob überhäuft und mit Leckereien beschenkt. Ein Fest in der Väterlichen Jurte verherrlicht den großen, wichtigen Tag.

Mit dem siebenten Jahre ungefähr beginnt der Unterricht des Kindes in allem, was ihm zu wissen noth thut. Der Knabe, welcher inzwischen ein tüchtiger Reiter geworden ist, lernt mit den weidenden Herdenthieren umgehen, das Mädchen sie melken und alle übrigen Geschäfte der Hausfrau verrichten; der Sohn reicher Eltern wird von einem Mollah oder doch einem des Lesens und Schreibens kundigen Manne in die Schule genommen und später in den Gesetzen des Glaubens unterwiesen. Noch vor Ablauf des zwölften Jahres ist sein Unterricht zu Ende und er selbst reif für das Leben.

Mehr noch als die Lebenden ehrt der Kirgise die Todten und deren Gedenken. Jede Familie ist zu den größten Opfern bereit, um für ein durch den Tod ihr entrissenes Familienglied eine großartige Leichen- und Erinnerungsfeier auszurichten; jeder, auch der ärmste, sucht das Grab eines von ihm geschiedenen Lieben zu schmücken, so gut er es vermag.

Wenn ein Kirgise die Sterbestunde herannahen fühlt, läßt er seine Freunde um sich versammeln, damit diese dafür sorgen, daß seine Seele ins Paradies gelange. Fromme Kirgisen, welche den Tod erwarten, lassen sich schon vor jener Stunde aus dem Koran vorlesen, ob auch der Sinn der ihnen ins Ohr klingenden Worte für sie unverständlich sein möge. Nach Gebrauch der Gläubigen versammeln sich die Freunde um das Sterbelager eines der Ihrigen und rufen ihm den ersten Satz des Glaubensbekenntnisses aller Anhänger des Propheten: „Nur einen Gott giebt es,“ so lange zu, bis er mit dem zweiten antwortet: „und Mohammed ist sein Prophet.“ Sobald diese Worte den Lippen eines Sterbenden entfließen, öffnet Munkir, der prüfende Engel, die Pforten des Paradieses, und deshalb rufen alle, welche sie vernahmen, die Worte aus: „El hamdi lillahi,“ – dem Herrn sei Dank!

Sobald ein Jurtenbesitzer für immer seine Augen geschlossen hat, sendet man zunächst nach allen Seiten Boten aus, um allen Verwandten und Freunden Kunde zu gehen, und diese Boten reiten, je nach Ansehen und Rang des Todten, zwanzig bis hundert Werst weit in die Steppe hinaus, von Aul zu Aul. Während die Trauerboten reiten, wird die Leiche gewaschen und in das Lailach gehüllt, welches letztere jeder Kirgise schon bei Lebzeiten sich erworben und unter seinen Werthgegenständen bewahrt hat. Nachdem man diese Pflicht erfüllt hat, trägt man den Leichnam aus der Jurte hinaus und legt ihn einstweilen auf einem halb gespreizten Jurtengitter nieder. Der herbeigerufene Mollah erscheint und spricht den Segen über den Todten; sodann erhebt man die Leiche mit dem Gitter, befestigt letzteres auf dem Sattel eines Kameles und setzt sich unter Begleitung der inzwischen bereits herangeströmten nächstwohnenden Verwandten in Bewegung, um den oft weit entfernten Friedhof rechtzeitig zu erreichen.

Unmittelbar nach Eintritt des Todes beginnen die Frauen die Todtenklage. Die nächste Verwandte hebt den Trauergesang an und läßt ihres Herzens Kummer in mehr oder minder tief empfundenen Worten ausströmen; die übrigen fallen am Ende jedes Satzes oder Verses gleichzeitig ein, und eine nach der anderen kleidet ihre Gedanken in Worte, so gut sie es vermag. Mehr und mehr steigert, sich die Klage bis zu dem Augenblicke, in welchem das Kamel mit seiner Last sich erhebt, und wie die Worte und Laute drückt auch das Gebühren der Frauen immer mehr sich steigernden Schmerz aus, bis sie schließlich sich das Haar zerraufen und das Gesicht blutig kratzen. Erst wenn der Leichenzug, an welchem die Frauen nicht teilnehmen, dem Auge entschwindet, verstummen allgemach Worte und Thränen.

Dem Leichenzuge voraus sind auf raschen Pferden einige Männer geritten, um das Grab zu bereiten. Dieses ist eine höchstens bis zur Brusthöhe eines Mannes reichende Vertiefung, welche auf einer Seite, in der Richtung nach Mekka hin, in ein Gewölbe übergeht, dazu bestimmt das Haupt und den Oberleib des Todten aufzunehmen. Nach geschehener Beerdigung wird das Grab mit Blöcken, Brettern, Rohrbündeln oder Steinen bedeckt, jedoch nicht mit Erde ausgefüllt, sondern solche höchstens als Hügel über die Decke geschichtet, dieser mit Fahnen und dergleichen verziert, falls man nicht einen kuppelartigen Bau aus Holz oder Lehmsteinen über dem Grabe errichtet. Auf das Grab eines Kindes legt man seine Wiege. Vor dem Grabe segnet der Mollah die Leiche zum letztenmal ein; an der Aufschichtung des Hügels nehmen alle Antheil.

Aber noch ist die Leichenfeier nicht beendet. In dem Augenblicke, in welchem ein Jurtenherr seinen letzten Seufzer verhaucht hat, stellt man neben der Jurte eine weiße Fahne auf und beläßt sie ein ganzes Jahr lang an derselben Stelle. An jedem Tage des Jahres versammeln sich hier die Frauen, um die Klage zu erneuern. Gleichzeitig mit dem Aufrichten der Fahne bringt man auch das Lieblingspferd des Verstorbenen herbei und schneidet ihm seinen langen Haarschweif zur Hälfte ab. Von diesem Augenblicke an wird das Roß von niemand mehr geritten; es heißt „verwitwet“. Sieben Tage nach dem Tode finden alle Verwandten und Freunde, auch die, welche ferne weiden und wohnen, in der Jurte sich ein, halten gemeinschaftlich ein Leichenmahl, vertheilen einige Kleider des Todten an die Armen und berathen über das fernere Geschick der Nachgelassenen wie über Verwaltung des Nachlasses. Dann überläßt man die Hinterbliebenen wiederum sich selbst und ihrem Leide.

Stirbt eine Frau, so werden fast dieselben Gebräuche beobachtet wie bei dem Tode des Mannes, nur daß selbstverständlich Frauen die Leiche waschen und bekleiden. Aber auch in diesem Falle bleiben sie während der Beerdigung im Aul, um hier die Todtenklage zu erheben. Das Reitpferd der Geschiedenen wird ebenfalls seiner Schweifzier beraubt, eine Trauerfahne aber nicht aufgepflanzt.

Wenn der Aul verlegt wird, bringt ein zu solchem Ehrendienste erwählter Jüngling das verwitwete Pferd herbei, legt ihm den Sattel seines gewesenen Gebieters in verkehrter Richtung auf den Rücken, belastet es mit den Kleidern des Verstorbenen und führt es am Zügel dem Ziele zu, in der Rechten die Lanze mit der Trauerfahne tragend. Sobald die Jurte wieder errichtet ist, entsattelt er das Pferd und bringt die Lanze an ihre alte Stelle.

Am Jahrestage des Todes aber erscheinen wiederum alle geladenen Verwandten und Freunde in der verwaisten Jurte Nachdem man die noch immer in Trauerkleider gehüllten Frauen begrüßt und nochmals zu trösten versucht hat, bringt man das verwitwete Pferd herbei, sattelt und belastet es wie beim Umzuge des Auls und führt es sodann dem Mollah vor, damit er es segne. Dies geschieht; zwei Männer nähern sich ihm, fassen es am Zügel, entsatteln es, werfen es zu Boden und stoßen ihm den Stahl in das Herz. Sein Fleisch dient den armen Festgenossen zum Mahle, seine Haut wird dem Mollah zum Lohne. Unmittelbar nach dem Tode des Pferdes übergiebt man die Lanze dem würdigsten Verwandten; er nimmt sie, spricht einige Worte, bricht ihren Schaft in Stücke und wirft diese in das Feuer.

Jetzt brausen die Pferde heran, um im Wettlaufe ihre Schnelligkeit zu beweisen; die jungen Reiter, welche sie leiten und zügeln, stürmen auf das gegebene Zeichen mit ihnen davon und verschwinden in der Steppe. An die Stelle des Mollah tritt der Sänger, um noch einmal des Todten zu gedenken, aber auch die Lebenden zu feiern und ihr Herz zu erfreuen. Vom Haupte der Frauen verschwindet der eigenthümliche Kopfputz, welcher als Zeichen der Trauer diente, und sie schmücken sich mit festlichen Gewändern. Nach dem reichen Mahle kreist die Schale mit dem berauschenden Milchwein, mit den Klängen der Zither vereint sich das Jauchzen der Freude. Die Trauer ist zu Ende, das Leben tritt wieder ein in seine Rechte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 380. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_380.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)