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Seite:Die Gartenlaube (1886) 491.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Lebens, und läge die Schädlichkeit derselben noch so klar vor Augen und könne noch so deutlich nachgewiesen werden, im Sinne des Vorredners zur Ursache oder auch nur einer der Ursachen der augenblicklichen Kalamität zu machen; ja, daß man von einer solchen im eigentlichen Verstande gar nicht sprechen könne, nicht, weil ihre Existenz fraglich, sondern deßhalb, weil sie keine augenblickliche, vorübergehende, vielmehr eine bleibende sei, die genau so lange dauern werde wie die Gesammtheit der Zustände, aus denen sie mit der Nothwendigkeit der Folge zur Ursache hervorgehe. Sich an die besondere Erscheinungsform des Allgemeinübels, wie Ueberproduktion, Strikes oder dergleichen halten und vermeinen, durch die Abmilderung derselben etwas gewonnen zu haben, heiße den ärztlichen Pfuschern gleichen, welche der Krankheit beikommen zu können wähnen, wenn sie den Symptomen nur kräftig zu Leibe gehen. So verhalte es sich zum Beispiele mit dem modernen Militarismus.

Hier erhob sich der beaufsichtigende Beamte und verlangte, daß dem Redner das Wort entzogen werde, der nicht zur Sache spreche. Er werde keine Abweichung von der Tagesordnung dulden, am wenigsten Angriffe auf die Armee. Wenn Redner in der angefangenen Weise fortfahre, werde er die Versammlung auflösen.

Durch die Menge ging ein Brausen, wie von einem heranziehenden Sturme, das aber sofort wieder tiefer Stille wich beim ersten Tone der hellen stählernen Stimme von dem Rednertische.

„Wie?“ rief die Stimme, „habe ich denn gesagt, daß ich mit der bestehenden Staatsform nicht einverstanden bin? Will man mich hindern, die Großthaten unserer Armee zu feiern durch Aufzählen der Opfer, welche die nothwendige Bedingung und Voraussetzung jener Großthaten sind? Entferne ich mich von der Tagesordnung, wenn ich nachzuweisen suche und nachweisen werde, daß man die Ursachen unserer heutigen Geschäftskrise freilich zum Theil in jenen nothwendigen Opfern zu suchen hat, eben darum aber auch diese Geschäftskrise ein Nothwendiges ist, das man wie andere Nothwendigkeiten ertragen muß, so lange man den modernen Staat will, den nicht zu wollen ich noch mit keiner einzigen Silbe erklärt habe?“

Es war der grausamste Hohn – jedes Wort, das da ohne den leisesten Anflug von Ironie in dem ruhigsten, sachgemäßesten Tone gesprochen wurde. Der Beamte wußte das zweifellos so gut wie die Versammlung, durch die ein Rauschen des Einverständnisses ging; aber es mochte ihm die Geistesgegenwart und die Gewandtheit fehlen, um die geschickte Parade des Gegners auf der Stelle zu durchkreuzen, oder er wartete auf eine ihm passendere Gelegenheit, die schwerlich ausbleiben konnte – jedenfalls setzte er sich wieder, dem Redner die Freiheit lassend, bis auf Weiteres seine Gedanken zu entwickeln.

Und nun eine Verherrlichung der Thaten der Armee im Kriege, ihres wohlthätigen Wirkens im Frieden, indem sie das Reich, welches nur durch sie zu einem einigen geworden sei, durch ihr bloßes Dasein nach außen schütze, ihm die Möglichkeit gewähre, sich innerlich zu entfalten, zu kräftigen – eine Verherrlichung, so schwunghaft, so scheinbar jeden Widerspruch von vorn herein entkräftend, so ganz aus dem Pathos eines echten Soldatenherzens heraus, daß die Versammlung denn doch in ihrer Mehrzahl offenbar stutzig wurde und es der ganzen Autorität Derer, welche ihren Mann kannten, bedurfte, das wachsende Mißvergnügen der Kurzsichtigen nicht zum lärmenden Ausbruche kommen zu lassen.

Und nun im Handumdrehen die andere Seite der Medaille. Zuerst in einzelnen Blitzen, wie von einem Metallschild, der hin– und herbewegt wird: die paar Dutzend Opfer, welche die Uebungs– und Manövermärsche gerade diesen Sommer erfordert hätten! – ob man denn glaube, daß man eine leistungsfähige Truppe sich von dem Tanzboden holen könne? – die berüchtigten Säbelaffairen zwischen harmlosen, unbewaffneten Civilisten und ebenso harmlosen, allerdings bewaffneten Soldaten! – ob man denn die Stirn habe, dem Soldaten zuzumuthen, daß er seine Waffe, seinen Stolz und seine Zier, zu Hause lasse, wenn er zu Biere gehe? – Und so vom Kleinen zum Großen, bis aus dem Metallspiegel Zug um Zug ein entsetzliches, schlangenumringeltes Gorgohaupt herauswuchs zum Entzücken der Hörer, durch deren athemlose Massen nur von Zeit zu Zeit frenetischer Beifall fieberhaft zuckte, zur Verzweiflung des Beamten, der gegen eine – scheinbar streng sachgemäße, in jedem Punkte sich auf officielle Zahlen und Daten stützende Darstellung keinen begründeten Widerspruch fand, bis er endlich bei einer Wendung, die harmloser war, als hundert vorhergegangene, zu der längst beschlossenen Auflösung schritt.

Und nun die herkömmlichen wüsten Scenen, das Schreien und Toben, das Drängen und Schieben, Gedrängt– und Geschobenwerden einer hundertköpfigen, fanatisirten Menge, die widerwillig ein Lokal verläßt; dazu schließlich von den aufs Aeußerste gereizten Beamten mit Gewalt gezwungen wird – wüste Scenen drinnen, denen andere noch wüstere auf der Gasse folgen, wo sich beim Flackerschein der Laternen Weiber und Buben in den Haufen der Tumultuanten mischen, Schutzleute ihre Rosse in die dunklen Massen spornen, irgend Einen herauszugreifen, der vielleicht nicht der schlimmste, vielleicht nur widerwillig in die Masse gerathen ist, bis ihn, der sich aus dem Chaos gerettet hat, in den vom Schauplatz entfernteren Straßen wieder das hergebrachte allabendliche Treiben der Großstadt empfängt.


5.

Ich aber eilte durch diese Straßen in einer Aufregung, die wohl erklärlich ist, wenn man bedenkt, in welcher Weltabgeschiedenheit, meiner selbst vergessend, einzig der nächsten Aufgabe lebend, ich alle diese Wochen verbracht hatte, um mich auf einmal in die große Arena geschleudert zu sehen, in welcher die Massenkämpfe der Menschheit ausgefochten werden. Denn dies war es, was sich mir zuerst unabweisbar aufdrängte: daß ich, jedem sonstigen Wunsch meines Herzens, jeder noch so tief gewurzelten Neigung meines Geistes, jedem liebsten Spiel meiner Phantasie schroff entsagend, hierher gekommen war, mich, wie Professor von Hunnius es gewollt, als Soldat in diesen Kampf zu stürzen, und – die große Sache doch wieder klein aufgefaßt hatte, als Privatmensch, der, mag der Donner der nahen Schlacht noch so laut grollen, Zeit und Muße findet, seines Gärtchens zu warten. Was war ich neben Adalbert! Ich hatte ihm ja das Uebergewicht des kräftigeren, umfassenderen Geistes, der glänzenderen Begabung von jeher neidlos zugestanden. Diese Vorzüge fielen ja zweifellos bei seiner Leistung heute Abend schwer ins Gewicht; aber sie erklärten doch keineswegs völlig die gewaltige Wirkung seiner Rede; vor Allem nicht den treuherzigen Glauben, den seine Zuhörer ihm entgegenbrachten und der sie selbst dann nicht völlig verließ, wenn sie ihn, wie es heute mehr als einmal der Fall gewesen, ganz offenbar nicht verstanden. Sie glaubten eben an ihn und durften, mußten an ihn glauben, weil er an sich – nein! nicht an sich, weil er an seine Sache, an die Möglichkeit glaubte der endlichen Befreiung des Menschengeschlechtes aus den Banden knechtischer Gesinnung, in die – es sich selber schlägt. Das war das Zeichen, unter dem er stritt und siegte. Das war die Quelle, aus der er die Hammerkraft schöpfte, mit der jedes seiner Worte diese Bande traf, und von denen mir noch so viele im Ohre klangen. Großer Gott, was war ich neben Diesem! Ein Knabe neben einem Manne! Einer, der nie den Muth haben würde, auf seine Ziele loszuschreiten, ohne nach rechts oder links zu blicken; der immer ängstlich erwägen würde, ob die Mittel zum Zweck auch zweifellos loyal seien, nicht das eine oder das andere irgend eine zarte Seele beleidigen dürfte! Himmel, mit welchen Trugschlüssen, mit welchen Sophismen hatte der Mann heute operirt, wenn er sah – und sein Falkenauge irrte sich nie – daß er so schneller und sicherer seine Hörer dahin bringen könnte, wohin er sie haben wollte!

Ein geborner Heerführer, zu dessen Fahne sie in hellen Haufen strömen, und der es versteht, aus Gesindel Soldaten zu machen. Er brauchte die Kunst! Was für Menschen waren es gewesen, die meisten seiner Zuhörer! Ich wollte sie nicht schelten; ich wußte, daß sie nicht anders sein konnten, aufgewachsen, wie sie es waren, in materiellem Elend, ohne geistige und sittliche Pflege, von früher Jugend an keuchend unter dem Joch einer unerbittlichen seelenlosen, seelenmörderischen Arbeit – aber würden sie jemals anders werden? er und seines Gleichen je das Joch brechen, die Sklaven der Arbeit zu freien Menschen machen? Oder sah die Einfalt des braven Droschkenkutschers doch weiter als die Genialität des kühnen Demagogen? Würde je für ihn

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_491.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2024)