Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1883) 579.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

„Du willst nicht auf mich hören?“

„Nein. Ich folg’ meinem Gewissen und meinem eigenen Kopfe, die zeigen mir schon den rechten Weg. Aber Eins will ich Dir gestehen. Wenn ich mich schuldig fühlt’, so würde ich doch nicht ein solcher Thor sein und Dir Alles erzählen, damit Du es dem Richter warm hinterbrächtest und Dich noch obenein rühmen könnest, Du habest mich überführt!“

Aergerlich verließ der Diener den Raum, und Hansel erhielt am folgenden Tage eine geringere Portion Essen.

Er lachte darüber, denn er war nicht verwöhnt und konnte sich mit wenig begnügen, da er seine Kräfte nicht anzustrengen brauchte.

Die Nachforschungen nach dem Unterburgsteiner waren fast unablässig fortgesetzt, die Gensd’armen hatten den ganzen Berg und Wald durchsucht, ohne eine Spur gefunden zu haben. Es blieb nur eine Annahme, daß Hansel den Leichnam des Erschlagenen fortgetragen und an einem entfernten Orte verscharrt habe. Er hatte die ganze Nacht über Zeit gehabt, denn wann er heimgekehrt war, wußte Niemand. –

So waren Wochen vergangen.

Moidl war langsam genesen, aber Mancher, der sie früher gesehen, würde sie nicht wieder erkannt haben. Ihre Wangen waren bleich und eingefallen, ihre Augen blickten trübe und ausdruckslos.

„Das Fieber hat sie so arg mitgenommen,“ sprach der Arzt, aber nicht das Fieber hatte an ihr gezehrt, sondern die Angst um den Geliebten; in ihrem Innern keimte kaum noch eine Hoffnung für ihn und ihr Herz konnte doch nicht von ihm lassen.

Der Frühling brach außerordentlich früh herein, vielleicht war es nur ein Vorbote desselben. Wohl deckte noch Schnee die Berge, aber die Luft war lau und mild und die Sonne sandte erwärmende Strahlen.

Da verließ die Genesene zum ersten Male das Haus und schritt langsam nach der kleinen Capelle. Hastig schluchzend sank sie auf dem Betschemel nieder und legte mit zitternden Händen ihre braunen Flechten, die sie der Mutter Gottes gelobt, wenn sie den Geliebten errette, auf den kleinen Altar.

„O rette ihn – rette ihn!“ flehte sie auf’s Neue mit gefalteten Hänlden, und sie legte die Stirn an die kalte Kante des Altars. „Rette ihn – er kann ja nicht schuldig sein!“ wiederholte sie.

Regungslos knieete sie da.

Ihr Vater trat in die Capelle, er sah das braune Haar seiner Tochter auf dem Muttergottesbilde liegen.

„Moidl, was hast Du gethan?“ rief er unwillig. „Weshalb hast Du Dein Haar abgeschnitten?“

Die Betende zuckte erschreckt zusammen, flehend erhob sie den Blick zu dem Bilde der heiligen Jungfrau, als ob sie um Vergebung bitte, weil ihre Lippen die Wahrheit nicht sagen konnten.

„Ich hab’ es gelobt, als ich mich so elend fühlte,“ sprach sie.

Der Bauer erwiderte kein Wort. Trotz seines festen, harten Sinnes hatte er doch ein gläubiges Gemüth. Auch er legte die Hände in einander und sprach leise ein Vaterunser.

„Moidl,“ sprach er dann mit weicherer Stimme. „Wir sind schwer geprüft; wenn Deine Kräfte es aushalten, dann sollst Du am Sonntag zur Messe gehen. Die Magd kann Dich begleiten, wenn der Weg Dir schwer wird.“

„Ich werde es thun, Vater,“ gab das Mädchen ruhig, mit schwacher Stimme zur Antwort und kehrte in das Haus zurück.

Der Sonntag kam. Das Wetter war freundlich und milde. Langsam stieg Moidl in’s Thal hinab, die Begleitung der Magd hatte sie abgelehnt. Sie hielt sich für kräftig genug, allein zu gehen, allein mehr denn einmal mußte sie auf einem Steine ausruhen.

Der Morgen war so ruhig und friedlich. Langsam, feierlich klangen die Glockentöne, welche zur Messe riefen, zu ihr empor. An dem ihr gegenüber liegenden Berge stiegen Männer und Frauen nieder. Sie blickte hinüber nach dem Gehöft Haidacher’s, düster, wie verlassen lag dasselbe da. Ein lauter, lustiger Juchzer drang ihr in’s Ohr, aber er erhöhte nur ihre schmerzliche Stimmung. So hatte auch Hansel oft seine Jugendlust in den Morgen hinausgerufen, und nun saß er immer noch im Gefängnisse. Wer wußte, wie lange noch? Wer wußte, ob ihre Augen ihn je wiedersahen?

Langsam stieg sie abwärts. Als sie das Dorf erreichte, hatte die Messe bereits begonnen, denn die Straße war leer. Es war ihr lieb, daß sie allein gehen konnte. Ihr Herz war so schwer und bange. Sie mußte an dem Gerichtsgebäude vorüber, in welchem Hansel saß, und sie wußte, daß die Gefängniszelle nach der Straße hinaus lag. So nahe mußte sie an ihm vorüberschreiten, ohne ihn zu sehen.

Sie zitterte leise, als sie sich dem alten Gebäude näherte, die Augen hatte sie auf die Erde geheftet, ihre Hände hielten das Gebetbuch fest umfaßt.

„Moidl, Moidl!“ rief plötzlich eine Stimme über ihr.

Sie richtete das Auge empor, an dem kleinen Fenster der Gefängnißzelle, hinter den Eisenstäben entdeckte sie Hansel’s bleiches Gesicht.

Ein halb unterdrückter Aufschrei entrang sich ihren Lippen.

„Moidl, laß den Muth nicht sinken,“ rief Hansel. „Ich bin unschuldig, deshalb müssen sie mich frei geben!“

Noch einmal blickte das Mädchen auf zu dem bleichen Gesichte des Geliebten, dann eilte sie hastig weiter und es war ihr, als ob neue Kraft sie belebe.

„Er ist unschuldig!“ rief es freudig in ihr, sie hatte es von seinem eigenen Munde gehört und sie wußte, daß er ihr keine Unwahrheit sagen konnte. Nun fürchtete sie nichts mehr. Der Himmel erschien ihr höher und blauer. Sie langte in der Kirche an.

In ihrem Kirchstuhle sank sie auf die Kniee und betete so inbrünstig, wie sie seit langer Zeit nicht gebetet hatte.

„Er ist unschuldig!“ tönte es immer wieder in ihr, nun glaubte sie Alles, was auch kommen mochte, ertragen zu können.

„Geht Dir’s wieder besser?“ fragte eine Bekannte sie, als die Messe beendet war.

„Ja, es geht mir gut,“ entgegnete Moidl, und ihre Augen gewannen wieder Glanz. „Das Fieber ist gewichen, der Frühling kommt, nun wird es auch bei uns dort oben wieder freundlicher.“

„Du hast Schweres durchlebt,“ fuhr die Freundin fort.

„Ja, sehr Schweres, aber das ist nun vorüber und ich hab’ wieder frischen Muth,“ gab Moidl zur Antwort.

Selbst der Oberburgsteiner war erstaunt, als er seine Tochter sah. Auf den bleichen Wangen derselben schimmerte schon wieder ein leichtes Roth durch.




Zwei Tage später befand sich das ganze Dorf in größter Aufregung. Einige Knaben hatten in dem Schnee der niedergegangenen Lawine einen menschlichen Körper entdeckt – es war der Leichnam des Unterburgsteiners.

Der Bezirksrichter, der Arzt und zwei Gensd’armen waren zu der Stelle geeilt, damit unter ihrer Aufsicht der Todte aus dem Schnee gegraben werde, und fast das halbe Dorf war ihnen gefolgt. Nun mußte doch endlich Aufklärung über das Verschwinden Davids kommen, welches die Gemüther seit so langer Zeit in Aufregung gehalten hatte. Es mußte sich auch zeigen, wie er durch Hansel erschlagen war, denn der Schnee ließ keine Verwesung und Entstellung zu.

Der große Körper des Unterburgsteiners wurde mit größter Vorsicht ausgegraben – dicht neben ihm lag seine Büchse – derselbe war so wohl erhalten, als ob er nur zwei Tage in dem Schnee gelegen habe.

Die Dorfbewohner drängten in ihrer Neugier so ungestüm heran, daß die beiden Gensd’armen Mühe hatten, sie zurückzuhalten; jeder wollte die Verletzung sehen, die ihm durch Hansel’s Hand beigebracht war.

Der Bezirksrichter betrachtete den Todten aufmerksam, der Arzt untersuchte ihn, konnte aber nicht die geringste Verletzung an dem Körper entdecken. Der Todte wurde auf einer Bahre nach dem Gerichtsgebäude getragen, um dort noch einmal auf das Sorgfältigste untersucht zu werden.

Hansel wurde zu dem Todten geführt, er blieb vollständig ruhig.

„Wo ist er gefunden?“ fragte er.

„Das brauch’ ich Dir nicht zu sagen,“ entgegnete der Richter, der ihn prüfend beobachtete. „Du weißt es sehr genau.“

„Ich weiß es nicht,“ gab Hansel ruhig zur Antwort.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_579.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2024)