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Seite:Die Gartenlaube (1881) 419.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Wasserversorgung schon von Alters her gewesen war, so ergossen sich zur Zeit der ersten Kaiser die jungfräulichen Quellen des Gebirges, meilenweit in unterirdischen Röhren oder auf gewaltigen Bogenreihen in die Stadt geleitet, sogar in wahren Strömen aus kunstvoll gewölbten Grotten; sie breiteten sich wie Deiche in reichverzierten Marmorbehältern aus oder stiegen plätschernd in den Strahlen prächtiger Springbrunnen auf, deren kühler Hauch die Sommerluft erfrischte und reinigte. Und nicht dieses Rom, „die Stadt“ allein oder nur einige besonders reiche Provinzialstädte waren es, die von dem Geschick der Römer zu Verkehrsanlagen und Wasserbauten Nutzen zogen: noch in unseren Tagen stoßen wir allenthalben aus Aquäducte, Brücken und Durchlässe, Dämme, Trockengräben etc. – Beweise des Fleißes römischer Legionen und des hygienischen Tactes ihrer Führer.

Dabei sprachen aber die Anlage der Gassen und das Innere der gemeinen Wohnhäuser selbst in der Hauptstadt des Weltreiches allen Gesundheitsvorschriften Hohn. Die Häuser wurden übermäßig erhöht und waren trotzdem übervölkert; Brände und Epidemien fanden schnell und leicht Verbreitung. Wenn die Gluth des Sommers die erste Feige reifte, wenn der Leichenbesorger mit seinen schwarzen Trabanten immer häufiger auf den Straßen gesehen wurde, und Väter und Mütter für ihre Kinder zitterten, dann entfloh, wer es nur irgend ermöglichen konnte, der von mörderischen Fiebern geplagten Stadt und suchte höher und gesünder gelegene Orte auf; denn allen Kunstbauten zum Trotz wußte man sich machtlos gegenüber den bösen Ausdünstungen der nahen Sümpfe und den Folgen der häufigen Ueberschwemmung des Tiberflusses. Man gab die aus Municipien und Colonien, ja dem ganzen Erdkreise zusammengeströmten, heimath- und besitzlosen Volksmassen den stets wiederkehrenden Fiebern ohne Widerstandsversuch preis.

Als dann noch später das Kaiserthum durch Aufruhr der Feldherren, Sturz der Kaiser, durch ihre eigenen und ihrer Verwandten elende und absurde Leidenschaften zerrissen war, da half es wenig, dem Fieber, dem Getreidebrand und der Pest Altäre zu errichten: das stolze Rom entvölkerte sich durch Hungersnöthe und Volkskrankheiten, es sank zu einem elenden Nest herab und galt selbst den herandrängenden Barbaren als Ort des Schreckens, als Herd schnelltödtender Seuchen.

Alles, was im Alterthum für die Volkshygiene geschehen war, kam ohne directe Mitwirkung der Heilwissenschaft zu Stande. Obwohl Hippokrates in seinem merkwürdigen Buche „über die Luft, das Wasser und die locale Vertheilung der Krankheiten“ manchen beachtungswerthen Wink gegeben hatte, waren seine kaum verstandenen Lehren selbst dem Gedächtniß der Nachfolger schnell entschwunden. Die gesellschaftliche Stellung der Aerzte in Rom war aber eine so klägliche, daß wohl schwerlich jemals einer der stolzen Aedilen und Censoren daran dachte, ein ärztliches Gutachten über Gesundheitsanlagen einzuholen.

Und noch bis in das spätere Mittelalter hat die Heilkunde kein Bewußtsein ihrer höheren Aufgaben erlangt, geschweige einen Einfluß auf die Gestaltung der öffentlichen Wohlfahrt ausgeübt. Zunächst erleidet vielmehr der uns beschäftigende Gedanke eine eigentümliche Gestaltung durch das Christenthum; dann drängen Nothstände aller Art Kaiser, Könige und Großstädte dazu, Sanitätsgesetze zu erlassen; es vereinigen sich die kleinen Gemeinwesen, besonders auch die Zünfte, um auf volkstümlicher Grundlage Einzelnes zu bessern, besonders auch um die Verfälschung der Lebensmittel zu bekämpfen.

Die Geringschätzung des menschlichen Einzeldaseins, wie sie das Evangelium als eine seiner Hauptlehren aufstellt, schien der ursprünglichen kirchlichen Auffassung mit einer zur Schau getragenen Verachtung irdischen Wohlbehagens gleichbedeutend. Wo es als höchstes Verdienst galt, allein in niedrigen Höhlen zu vegetiren, den Leib durch Fasten und Kasteiungen zu peinigen, das Glied auszureißen und fortzuwerfen, welches Aergerniß erregte – da blieb für Lehren leiblicher Wohlfahrt kein Raum. Nach jener Mißauffassung erklärte aber die Lehre Christi nicht blos der Pflege der eigenen Gemächlichkeit den Krieg, sondern sie brandmarkte auch das von den Heiden und Juden so geliebte lange Leben als eine schwer erträgliche Bürde; sie verwarf die Ausnützung des Einzeldaseins durch den Staat als Schädigung des besseren Theiles im Menschen; sie schien überall die Keime staatsfeindlicher Grundsätze zu enthaltene denn Tausende lernten das Leben verachten und wegwerfen um ihrer Ueberzeugung willen; der Elitestand des Mittelalters – als welchen der Clerus sich gern betrachtet sah – zog sich von der Eheschließung und Familiengründung gänzlich zurück, ganze Volksclassen wurden systematisch dazu erzogen, das Beten und Faullenzen über das Arbeiten zu stelle und dem Gemeinwesen ihre Kräfte zu entziehen.

Die Humanität ging rein in Werken des Mitleids auf; der dem Menschen unentreißbare Trieb, zu bessern, klammerte sich peinlich und buchstäblich an das Wort „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern nur die Kranken“; Tröstung und Bekehrung der letzteren waren des höchsten Himmelslohnes gewiß. Und während man das Kranksein als die bequemste Brücke zum heißersehnten Jenseits pries, die Leidenden, welche bereits auf diesem Wege waren, hätschelte und beneidete, stieß man oft die, deren letztes Stündlein Voraussichtlich noch fern war, hartherzig in immer tieferes Elend hinein und kümmerte sich am wenigsten um die Verhütung der Krankheiten. So gründete die Kirche zwar jene zahlreichen Gertraudten- und St. Georgs-Hospitäler für die Aussätzigen – aber jede Maßregel zur Bekämpfung des Aussatzes verwirft sie schon deshalb, weil derselbe als eine um der Sünde willen von Gott eingesetzte Strafe galt.

Es ist aber hundertfach erwiesen, daß der kirchlichen Auffassung nichts armseliger und unseliger erschien, als Jemanden mit der Kunst und Pflicht, ein gesundheitsgemäßes Leben zu führen, bekannt zu machen. Dafür, daß die von geistlicher Oberhoheit abhängigen Staaten des Mittelalters und der Neuzeit mit dem, was wir als öffentliche Wohlfahrt und Gesundheitspflege bezeichnen, Fühlung weder fanden noch suchten, bedarf es der Aufzählung von Beispielen nicht. Auch würde es zu tief in Einzelheiten führen, die stückweisen Bestrebungen Karls des Großen, Kaiser Friedrichs des Zweiten und Anderer, oder die Gesundheitsordnungen aufzuzählen, durch welche sich Paris, Venedig, Wien und andere größere und kleinere städtische Gemeinwesen vor den schlimmsten Uebelständen zu schützen suchten.

Erst der grause Schrecken der mittelalterlichen Pest, besonders des schwarzen Todes ruft vom Jahre an die ärztliche Wissenschaft und Kunst zur Theilnahme an der Volksgesundheitspflege wach. Wie kindlich und platt uns auch heute die Verordnungen der damaligen medicinischen Facultäten erscheinen, wie komisch wichtigthuend sich auch der vornehme hochstudirte Arzt noch lange von der persönlichen Berührung mit ansteckenden Kranken fernhielt, so leuchtete doch einsichtigen Staatslenkern der Gedanke, daß rechtzeitig vorzusorgen vielleicht der bessere Theil des ärztlichen Wissens sei, schon frühe ein und fand in den zahlreichen unter Beihülfe der Heilkünstler verfaßten Medicinaledicten des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts seinen Ausdruck.

Während die Menge der Gesundheitsfragen sich von Tag zu Tag vermehrte, verflochten sich die hier angedeuteten Wurzeln der heutigen Volkshygiene und fanden in der Eigenart der einzelnen europäischen Staaten einen verschieden günstigen Boden. Die Kirche hält noch heute in Italien die bedeutendsten Mittel der Armen- und Krankenpflege in Händen; sie verfolgt noch immer confessionelle Zwecke und identificirte besonders vor den neueste Anstrengungen der Staatsregierung viele Zweige der Gesundheitspflege mit der Wohlthätigkeit. – Das Beispiel der Hauptstadt nachahmend, setzte man in Frankreich in einigen großen Städten Gesundheitsräthe ein; die große Mehrzahl der Städte und das flache Land blieben dabei vollkommen außer Betracht, sodaß gerade hier unser Jahrhundert enorm viel nachzuholen hatte. – In England allein entwickelte sich die Gesundheitspflege auf der breiteste und sicherste Grundlage, auf dem Boden des allgemeinen Verständnisses für das Praktische und der communalen Selbstregierung. – Die in Deutschland durchgeführten Einrichtungen medicinpolizeilichen Inhalts konnten als ernstlich gemeinter Ersatz einer staatlichen Gesundheitspflege nicht mehr gelten, als die Anschauungen über das Verhältniß zwischen dem Einzelnen und der staatlichen Gemeinschaft sich unter den Folgen der französischen Revolution gänzlich umzugestalten begannen.

Der moderne Staat beansprucht freilich noch heute die besten Kräfte Aller für sich, aber er muß gleichzeitig zur Erhaltung seiner Leistungsfähigkeit das Wohlsein aller Staatsbürger wollen. Es ist seine Aufgabe, dasselbe zu erhalten und zu vermehren durch die Gewährung der einzigen mögliche Mittel, das heißt die Bildung zu fördern durch öffentlichen Unterricht und die Gesundheit durch die öffentliche Gesundheitspflege.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 419. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_419.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)