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Seite:Die Gartenlaube (1881) 348.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Straßen die öffentliche Ordnung stört. Damit ist aber einerseits außerordentlich wenig erreicht, und andererseits eine große sociale Ungerechtigkeit heraufbeschworen. Eine solche Strafbestimmung fällt fast nur auf die unteren Schichten des Volkes: sie reicht nicht in die „Region des silbernen Pfropfens“, um ein treffendes Wort aus der neulichen Reichstagsrede Albert Traeger’s zu gebrauchen; die Trinker aus den höheren Ständen können sich mit leichter Mühe der Gefahr entziehen, öffentlich in ärgernißerregendem Zustande betroffen zu werden. Hierdurch geräth aber die strafende Wirkung in ein umgekehrtes Verhältniß zur sittlichen Verschuldung; denn ein betrunkener Proletarier wird zwar gemeiniglich einen viel widerlicheren Anblick gewähren, als ein betrunkener Aristokrat, aber thatsächlich ist er doch nur einer viel gefährlicheren Versuchung bei viel geringerer Widerstandsfähigkeit unterlegen, als jener. Eine solche Schärfung der socialen Grundsätze ist gegenwärtig wenig angezeigt, am wenigsten, wenn die Wirkung des ganzen Vorgehens schon an und für sich so außerordentlich zweifelhaft ist.

Eher zu erwägen sind zwei andere Maßregeln gegen den Trinker: Es besteht offenbar ein gewisser Widerspruch zwischen dem geschriebenen Rechte und dem Rechtsbewußtsein des Volkes, wenn ein Verbrecher straflos bleibt, weil er die verbrecherische That in der völligen Bewußtlosigkeit des Trunkes gethan hat. Nach juridischer Logik mag die Sache unanfechtbar sein, aber für das natürliche Gefühl jedes gesitteten Menschen liegt hier zweifellos einer der Fälle vor, in denen „das höchste Recht das höchste Unrecht“ wird. Glücklicher Weise besteht der Widerspruch mehr auf dem Papier, als in der Wirklichkeit. Unsere Richter sind immer außerordentlich behutsam und vorsichtig in der Anwendung jener strafrechtlichen Bestimmung gewesen; trotz allen Spürens und Suchens hat man nur einen unzweifelhaften und etwa ein halbes Dutzend zweifelhafter Fälle entdeckt, in denen unsere Rechtsprechung nach dieser Richtung gefehlt hat. Immerhin bleibt eine gesetzgeberische Vorsorge zu wünschen, daß Verbrechen, die selbst in einer jede Verstandes- und Willenskraft des Urhebers ausschließenden Trunkenheit begangen werden, sich auch nicht einmal auf dem Papier jeglicher strafrechtlichen Ahndung entziehen können.

Die andere, erwägenswerthe Maßregel gegen den Trinker ist die Einrichtung von Trinkerasylen, in denen notorische Trunkenbolde zeitweise unter gewissen Freiheits- und Willensbeschränkungen untergebracht werden können. Bessernd auf den Trinker selbst werden solche Anstalten schwerlich wirken, schon deshalb nicht, weil die Behörden sich so starke Eingriffe in die persönliche Selbstbestimmung nur in solchen Fällen gestatten können und werden, in denen das Laster viel zu weit vorgeschritten ist, um noch heilbar sein zu können. Aber der eingesperrte Trinker ist wenigstens verhindert, die Seinen und damit auch das Gemeinwesen zu schädigen, und hierdurch ist schon viel erreicht. Solche Trinkerasyle sind seit zwei Jahren in England eingerichtet, und ihre Einführung auch in Deutschland ist von der hervorragenden Autorität Virchow’s angeregt worden.

In mancher Beziehung viel aussichtsreicher und wirkungsvoller, als Maßregeln gegen den Trinker, sind Maßregeln gegen das Getränk. Zwar der kürzeste Weg, das Verbot des Brennens und Verkaufens von Branntwein, ist auch hier der schlechteste; sieht man selbst von den mehr oder minder berechtigten Interessen der Landwirthschaft ab, so ist ein Verbot des Branntweinbrennens schon deshalb unausführbar, weil der Alkohol auch massenhaft für arzneiliche und gewerbliche Zwecke gebraucht wird. Wird er aber einmal producirt, so sind auch Beschränkungen in seinem Vertriebe schwer durchzuführen. Einzelne nordamerikanische Staaten haben namentlich den Kleinhandel mit Branntwein verboten, aber damit in keiner Weise die Trunksucht vermindert, sondern nur noch obendrein die entsittlichenden und verwildernden Folgen eines großartigen Schmuggels über die Bevölkerung gebracht.

Wohl aber ist eine hohe Besteuerung der Branntweinproduction, welche namentlich die kleinen, in jedem Betrachte schädlichen und überflüssigen Brennereien beseitigen würde, sehr möglich und sehr nützlich. Wie beschämend weit wir in dieser Beziehung hinter anderen Culturvölkern und selbst hinter dem halbbarbarischen Rußland zurückstehen, beweist die einfache Thatsache, daß die Branntweinsteuer in England über vierzehn, in Holland über sechs, in Rußland fünf, in Schweden vier mal so hoch ist, als bei uns. Hier ist zweifellos ein sehr hoher Sprung angezeigt, ohne daß schon die Gefahr eintritt, in den entgegengesetzten Fehler zu verfallen. Denn eine übertrieben hohe Branntweinsteuer ist allerdings auch zu vermeiden, nicht nur aus Rücksicht auf unsere Landwirthschaft, sondern auch, weil sie unfehlbar eine starke betrügerische Hinterziehung der Steuern hervorruft.

Daneben sind noch wirksame Maßregeln gegen den Schankbetrieb möglich, ohne die gesunden Grundsätze der Gewerbefreiheit zu verletzen. Nur nicht in der Form, daß man die gesammte Gastwirthschaft noch mehr unter das Damoklesschwert der polizeilichen Willkür rückt, als bisher; damit würde nichts gebessert, sondern nur manches verschlimmert werden. Vielmehr sollten die anständigen und reinlichen Lonale etwas weniger geplagt, dagegen die Schnapsbuden etwas stärker unter die Scheere genommen werden. Dieselben werden zwar dem Gewohnheitstrinker, der immer Quellen finden wird, an denen er seine Unmäßigkeit befriedigen kann, nicht den Weg zur Hölle erst pflastern, aber sie wirken verderblich und verführend auf die Gelegenheitstrinker und die heranwachsende Jugend, deren gute Sitten durch böse Beispiele verdorben werden. Der Mittel und Wege, durch welche der Schankbetrieb besser geregelt werden kann, giebt es gar mancherlei; neben Concessionsbeschränkungen, Schanksteuern etc. kann ein Verbot erlassen werden, welches dem Wirth untersagt, an betrunkene und unmündige Personen spirituöse Getränke zu verabfolgen, können die Gewürz-, Specerei-, Vorkostwaarenhandlungen gehindert werden, einen Kleinhandel mit Branntwein zu treiben, kann auch erwogen werden, ob man den Trinkschulden nicht, ähnlich wie den Spielschulden, die Einklagbarkeit nehmen könne, und Aehnliches mehr.

Ungleich wirksamer aber als durch alle die verhindernden und verhütenden Maßregeln, welche betreffs des Getränks und des Trinkers ergriffen werden können, werden die kräftigsten und tiefsten Wurzeln der Trunksucht abgegraben durch die geistige, materielle und sittliche Hebung der arbeitenden Classen. In dieser Beziehung erstreckt sich die Frage der Trunksucht über das ganze große Gebiet der socialen Frage. Hier steckt der eigentliche Kern des Uebels, und einzig durch seine Beseitigung ist eine wirksame Heilung möglich. Die Unmäßigkeit als individuelles Laster kommt ebenso unter den höheren, wie unter den niederen Ständen vor; sie wird immer wieder auftauchen, so lange Menschen eben Menschen sind, aber sie wird in diesen Grenzen einem gesunden und kräftigen Volke nicht gerade viel schaden. Das eigentlich Beschämende an der gegenwärtigen Bearbeitung der Trunksucht unter den modernen Culturvölkern liegt darin, daß die untersten Volksschichten diesem Laster entgegengetrieben werden, nicht weil ihre einzelnen Glieder ungewöhnlich unmäßig sind, sondern weil ihre sociale Lage so hoffnungslos ist, daß sie nur in den dumpfen und wilden Träumen des Rausches einen flüchtigen Schimmer von Erdenglück erhaschen können oder zu erhaschen glauben. Weil sie arm und elend sind, berauschen sie sich, und weil sie sich berauschen, werden sie noch ärmer und elender. Diesen unheilvollen Kreislauf gilt es zu brechen, um die Trunksucht aus ihrer festesten Burg zu vertreiben.

Die Größe und Weite dieser Aufgabe verbietet von selbst, alle Möglichkeiten ihrer Lösung auf engen Raume aufzuzählen. Es kann eben nur gesagt werden, daß jede Maßregel, welche auf die Hebung der arbeitenden Classen abzielt, zugleich das Laster der Trunksucht in’s Herz trifft. Bessere Erziehung und Schulbildung, Fortbildungsschulen, Volksbibliotheken, in großen Städten auch leicht zugängliche Kunstsammlungen, billige Theater, Arbeitervereine und gesundere Wohnungen erobern Schritt für Schritt den weiten und wüsten Raum, den jetzt noch das zerstörende Scepter des Alkohols beherrscht. Natürlich findet auch hier die Selbfthülfe der Gesellschaft ein weites Feld segensreicher Wirksamkeit, wobei namentlich auf Fabrik- und Gutsbesitzer, Aerzte und Lehrer, wie auch auf gemeinnützige Vereine aller Art gerechnet werden muß; eine offene Frage bleibt es, ob die Wiederbelebung der besonderen Mäßigkeitsgesellschaften angezeigt und nützlich ist. Die frömmelnde und muckerische Richtung, welche diese Vereine annahmen, hat sie den gebildeten Classen mehr entfremdet und ihren Namen verrufener gemacht, als ihre theilweise sehr fruchtbare und glänzende Wirksamkeit verdiente. In erster Reihe aber wird der Staat dafür zu sorgen haben, daß gesunde und kräftige Nahrung den arbeitenden Classen so zugänglich wie möglich gemacht wird. Der Geheime Rath Finkelnburg, ein hochstehender Reichs-Medicinalbeamter, sagt in einem Vortrage über die Trunksucht: „Sowohl jede directe Besteuerung wie indirecte Vertheuerung unserer naturgemäßen Lebensmittel, namentlich auch die Vertheuerung des Fleisches

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_348.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)