Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1881) 327.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

alten Hellenenzeit lauter baumbedeckte grüne Paradiese waren, jetzt in der Mehrzahl so baum- und wasserarm geworden sind. Diese Inseln sind, obgleich sie teilweise noch unter türkischer Herrschaft stehen, doch beinahe ausschließlich von griechischer Einwohnerschaft bevölkert – soweit ich Sie kennen gelernt, eine höchst freundliche, liebenswürdige, einfache und ehrliche Bevölkerung; ich fand hier meine schon öfter gemachte Erfahrung bestätigt, daß Insulaner gewöhnlich eine liebenswürdigere Menschenrasse sind, als die Bewohner das nächstliegenden Festlandes von gleicher Volksrasse. In Folge seiner Weltabgeschlossenheit und des darauf hervorgehenden Bedürfnisses, einmal etwas Neues zu hören, pflegt der Insulaner namentlich gegen den Fremden mehr gastfrei, offener und entgegenkommender zu sein, als der von Touristen und Geschäftsreisenden so viel mehr überlaufene Festländer. Auch das Familienleben ist aus gleichen Gründen auf Inseln im Durchschnitte wohl inniger und gemütlicher, als auf dem Continente. Mir für meine Person ist das Leben auf Inseln immer unendlich sympathisch erschienen, namentlich in solchen Inselparadiesen wie Madeira, Zante, Chios, und ich begreife vollständig den gleichen Naturhang des feinfühlenden Bernardin de Saint Pierre, wenn derselbe in seinem unsterblichen „Paul und Virginia“ einen lebensmüden Greis dem wüsten und sinnverwirrenden Taumel der Welt entfliehen läßt, damit er seinen Lebensabend in stiller Zurückgezogenheit auf einem solchen abgelegenen schönen Eilande verbringe. Freilich: keine Regel ohne Ausnahme; so ist es z. B. bekannt, daß die größten Spitzbuben Constantinopel’s meist von den Inseln Tinos, Corfu, Cephalonia, Malta und einigem anderen in dieser Hinsicht speciell berüchtigter Eilanden gebürtig sind. Die moralische Verderbtheit dieser Leute dürfte aber leicht daraus sich erklären, daß die genannten Inseln zu dicht übervölkert sind und ein großer Theil ihres überflüssigen Bevölkerungszuwachses zu stetiger Auswanderung gezwungen ist; natürlich werden nun die mit Dampfschiffen so leicht und rasch zu erreichenden, nahe gelegenen Großstädte: Constantinopel, Smyrna und Alexandria mit solchen Proletariern unaufhörlich massenhaft überschwemmt; arme Teufel aber sind selbstverständlich in allen Großstädten der Welt der Demoralisation viel leichter abgesetzt als bemittelte Leute.

Nachdem wir die Inseln Skarpanto, Kos, Leros, Patmos, Rikaria und in einiger Distanz Samos, die Residenz des Fürsten von Samos, passirt hatten, hielt unser Dampfer zwei Stunden lang bei der Insel Chios an. Hier war es, wo mir bei einem halbstündigen Anslandgehen die edelste Frauengestalt begegnete, welche ich je in der Welt gesehen – eine von jenen beinahe überirdischen Schönheiten, deren erster Anblick das Herz wie mit einem elektrischen Schlage durchzuckt und uns in der Brust den Athem versetzt, indem er uns nur den einen Wunsch in der Seele erregt: vor einer solchen Himmelserscheinung niederzuknieen und in ihr das Spiegelbild des Urquells aller Schönheit und Vollkommenheit anzubeten. Es war eine junge Dame von sechszehn bis achtzehn Jahren, in welcher mir die herrliche Vestalis Tuscia der Dresdener Antikensammlung lebendig geworden erschien – ein treues Bild des uns durch zahlreiche Statuen überlieferten althellenischen Typus, mit dem Ausdrucke einer holden kindlichen Unschuld und eines klaren, himmlisch reinen Seelenspiegels.

Es war schon Abend geworden, als unser Dampfer sich wieder in Bewegung setzte. Die vielen allmählich aufblitzenden Lichter der Stadt, namentlich aber die vielfarbigen Lichtpunkte an den Leuchttürmen und an den Masten der Schiffe, die sich zitternd im Meere wiederspiegelten, gaben dem letzten Theile der Aus- und Einschiffungsscene, die unter einem großen Lärm vor sich ging, einen höchst malerischen Hintergrund. Verkäufer der berühmten chiotischen Süßigkeiten (Fruchtgelees in Gläsern und Rochatlikum, die beliebte Leckerei der Haremsdamen, ein auf der Zunge allmählich zerfließender sehr süßer Teig von geronnenen Fruchtsäften) boten schreiend ihre Waare aus und setzten viel davon an unsere zahlreichen Passagiere ab. Gespenstisch standen überall auf den Hügeln und Höhen zahlreiche kleine steinerne Windmühlen mit kurzen radartig ausstrahlenden und rasch sich drehenden Segelflügeln, deren pittoreske Silhouetten allen Landschaften dieses Archipels ein charakteristisches Gepräge verleihen.

Am nächsten Morgen dampften wir in den schönen, breiten Meerbusen von Smyrna ein, der mir ein alter Bekannter war. Wir passirten die „Brüder“, zwei gleich hoch neben einander aufragende sehr malerische Bergspitzen, und warfen gegen acht Uhr im Hafen von Smyrna Anker. Wie war ich aber erstaunt, als ich meinen Fuß an’s Land setzte! War das die engwinklige, luft- und lichtlose Stadt, in der ich nach noch im Jahre 1868 so beengt und bedrückt gefühlt hatte? Die zahlreichen, auf Palissaden im Wasser stehenden Kaffeehäuser, wo waren sie hin mit ihren luftigen und aussichtsreichen Verandas, mit ihren wehenden bunten Flaggen, ihren über den Wasserspiegel herübertönenden Guitarren- und Fiedeltönen und ihrem allabendlichen reichen Lichtergeflimmer? An die Stecke dieser malerischen Uferscenerien war ein breiter und vornehmer steinerner Quai getreten, der das früher ganz verdeckte Gesammtbild der Stadt für den ankommenden Reisenden offen gestellt hatte.

Die Bevölkerung von Smyrna zählt 150,000 Seelen, hauptsächlich Griechen und Türken, nebst einem Bruchtheil von Armeniern und Juden. Die griechische Bewohnerschaft zerfällt in zwei Classen, die einander grimmig hassen und niemals sich durch Heiraten mit einander vermischen, nämlich in die römisch-katholischen Griechen, die für sich die Bezeichnung „Smyrnioten“ besonders in Anspruch nehmen, und die orthodoxen Griechen. Diese beiden Classen wohnen getrennt von einander in verschiedenen Stadttheilen

Die deutschen Diakonissinnen der vom Pastor Fliedner errichteten Anstalt haben inmitten der Stadt eine große und vortreffliche und weithin in der ganzen Türkei berühmte Mädchenlehranstalt (nebst Hospital), deren helle weiße Säle sehr sauber, geräumig und luftig sind und wo Hunderte von jungen Mädchen aus den besten griechischen, armenischen, levantinischen (das ist im Oriente ansässigen europäischen) und selbst einige aus türkischen Familien eine vorzügliche Erziehung erhalten. Die Culturmission der deutschen Nation macht sich also hier in Smyrna in einer sehr rühmenswerten Richtung: in der Erziehung der Jugend geltend. Außerdem muß ich noch bemerken, daß das comfortabelste Hotel in Smyrna (die Pension Müller), der beste und gesuchteste Clavierlehrer (Herr Unger) und die geübteste Feuerwehrcompagnie deutsch sind: diese vier Richtungen des deutschen Culturelements repräsentiren also unsere Nation in der kleinasiatischen Metropole in durchaus würdiger Weise.

Die Bevölkerung von Smyrna ist eine äußerst vielsprachige. Ich fand, daß die Töchter der sämmtlichen Familien, in denen ich eingeführt wurde, regelmäßig in fünf Sprachen sich geläufig ausdrücken konnten: im Griechischen, Französischen, Italienischen, Englischen und Deutschen, viele außerdem auch noch im Türkischen und Armenischen. Wie oft passirte es mir, wenn ich entlegene unbelebte Straßen durchwanderte, daß schmucke kleine Mädchen, die plaudernd vor den Hausthüren saßen, mir freundlich ein deutsches „Guten Tag“ zuriefen! Hätte ich ein englisches, französisches oder italienisches Aussehen gehabt, so würden sie mir mit gleicher Liebenswürdigkeit ein „Good morning“, „Bon jour“ oder ,„Bon giorno“ zugerufen haben.

Die Frauen und Mädchen von Smyrna sind schon von Alters her wegen ihrer Schönheit berühmt gewesen und sind es noch jetzt. Trotzdem dürfte die Stadt sich nur zum Wallfahrtsorte für solche heirathslustige Garcons eignen, die keinen Anspruch auf Zubringung einer Mitgift erheben; denn allen jenen reizenden „blumenbedeckten Abgründen“, wie einer unserer neueren Romandichter so ungalant die heiratsfähigen Mädchen zu bezeichnen beliebt, fehlt es hier in Smyrna in der Regel an dem nervum rerum, an einem gleich mitgegebenen oder doch wenigstens später mit Sicherheit zu erwartenden baaren Vermögen.

Die Umgebungen von Smyrna sind ganz reizend und namentlich die benachbarten Villendörfer Budschah und Burnabat reich an den geschmackvollsten Gartenhäusern mit schönen Gärten und Fernblicken. Das Leben auf dem Lande ist hier noch überraschend billig; in den netten Hotels von Budschah wird dem Fremden eine tägliche Pension von vier Mark achtzig Pfennig abverlangt.

Eisenbahnen verbinden die Stadt Smyrna einerseits mit Aya Solúk, den Ruinen von Ephesus, und Aidin (Güssel-Hissar), andererseits mit Magnesia. Die Ruinen von Ephesus zeigen dem Auge ein weit ausgedehntes prächtiges und das Gemüth tief ergreifendes Trümmerfelde sie sind reich an umgestürzten und zerbrochenen Marmorsäulen von mitunter riesenhaftem Umfange. Schwermütig weiden jetzt einzelne Schäfer ihre Heerden zwischen den einsamen gras- und buschumwachsenen Trümmern, und die ganze Gegend ist durch Moräste und Sümpfe äußerst ungesund

geworden.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_327.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)