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Seite:Die Gartenlaube (1879) 593.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


No. 36. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Veit bückte sich – ein Stückchen Holz, das vielleicht an einer Stiefelsohle hängen geblieben und zufällig hierher geschleppt worden war, hatte sich drunten in dem seltsamen Spalt des Heiligenbildes eingeklemmt und verhinderte den festen Schluß der Fuge. Da hatte ihm der Papa neulich etwas weismachen wollen, aber prosit – Veitchen war nicht so dumm. Er hatte es gleich nicht geglaubt, und wenn er auch nachher heimlich gesucht und die Lücke nicht wiedergefunden hatte, zusammengeleimt war sie doch nicht, denn kein Tischler war in’s Haus gekommen.

Er zwängte zwei Finger in die Spalte, um das Holzstückchen herauszunehmen, und da wichen die Holztafeln zu beiden Seiten geräuschlos und so willig zurück, als gingen sie auf fleißig geölten Rädern; bei einem weiteren Druck verschwanden auf der einen Seite der Rumpf des Heiligen, auf der andern der ausgestreckte Arm und das unter demselben knieende Weib hinter den erhabenen, mit Arabesken bedeckten Feldern, welche die Legendenbilder rahmenartig unterbrachen.

Mosje Veit war doch ein wenig erschrocken. Er kannte sonst keine Furcht – im ganzen Klosterhause gab es nicht einen entlegenen dunklen Winkel, den er nicht schon durchstöbert hatte; er kauerte oft stundenlang in den unheimlichsten Ecken, um, plötzlich hervorspringend, den ahnungslos Vorübergehenden einen Todesschrecken einzujagen. Aber die Wandöffnung da gähnte ihn an wie ein großer schwarzer Schlund, und eine häßliche, eingesperrte Luft quoll ihm entgegen.

Allein die Neugier überwog jede andere Empfindung. Er bog den Kopf vor und sah, daß dicht an der Oeffnung ein paar Stufen emporführten, Steinstufen, die sich schön glatt anfühlten und ganz hell aus der Finsterniß aufblinkten. Und der schwache Schein des Tageslichtes, der durch den Spalt eindrang, streifte seitwärts neue Bretter – das war die Wand des Schrankes, in welchem die Holzengel und die zinnernen Orgelpfeifen lagen. „Dummes Zeug! Da brauchte man sich doch nicht zu fürchten – das war ja Alles ganz neu. Was wohl der Papa für Sachen darin hat?“

Er hielt sich an der Bretterwand fest, kletterte die etwas steilen Stufen hinauf, ging beherzt zwei Schritte auf glattem Boden weiter und stieß plötzlich an etwas Elastisches, das sich anfühlte wie das Lederpolster an Papas altem Lehnstuhle. Es gab nach und wich weit zurück, wie eine geräuschlos gehende Thür und war weich und dick wie eine Matratze.

In dem Augenblicke, wo dieser seltsame Gegenstand aus dem Wege glitt, hörte der Knabe eine fremde Frauenstimme sprechen, klar und deutlich – sie klang wie eine tiefe Glocke und erzählte von brennenden Häusern und erschossenen Menschen, und von Einem, der sehr krank gewesen war und immer von seiner Mutter gesprochen hatte – es war gerade, als würde aus einem Buche vorgelesen.... Mosje Veit war aber kein Freund von rührenden Geschichten. Er schlug nach den Mägden, wenn sie sich in der Gesindestube Märchen von verlassenen und verirrten Kindern erzählten, oder von dem Opfermuth und Untergang irgend einer sagenhaften Spinnstuben-Gestalt sprachen. .... So riß ihm auch jetzt die Geduld, und dabei dachte er ganz geärgert, wie denn die Frau, die dort sprach, als sei sie zu Hause, auf das Klostergut komme, und er mußte sich besinnen, was das eigentlich für eine Stube sei, in der sie sitze....

Mit seinem verwogensten und boshaftesten Gesichte drang er vor – seine tastenden Hände stießen plötzlich an Holz, und das mußte eine Thür sein, denn er bekam gerade einen Riegel unter die Finger.... Jetzt wollte er aber auch der „dummen“ Frau da drin, die gar nicht aufhörte mit ihrer langweiligen Geschichte, einen solchen Schrecken einjagen, daß sie vom Stuhle fallen sollte.

Er riß den Riegel zurück und zog die Thür herein, und – da stand er hinter einem wunderlichen Gitter; es war gerade, als sei ein starkes, festes, aber durchsichtiges Spitzengewebe aus allerlei Ranken und Verschlingungen da ausgespannt, und dahinter that sich ein weiter, herrlicher Raum auf, flimmernd in farbiger Seide und glänzenden Geräthschaften. Das sah er aber nur, wie von einem jäh niederfahrenden Blitz erhellt –; es verschwand Alles vor der Gruppe, die inmitten des Zimmers ihm gegenüberstand – ein Mädchen, vorgestreckten Fußes, mit weit aufgerissenen Augen ihn glühend anstarrend, und neben ihr ein Hund, gewaltigen Leibes wie ein Tigerthier, zähnefletschend, knurrend und bereit, sich bei der geringsten Bewegung des Eindringlings auf ihn zu stürzen.

Mosje Veit versuchte zu retiriren – aber jetzt rang sich ein furchtbarer Schrei von den Lippen des Mädchens, und mit einem riesigen Satze sprang der Hund gegen das Gitter. Es zerkrachte unter der Wucht seines Körpers, als sei es in der That ein zartes Spitzengeflecht, in zahllose, weithin fliegende Splitter. Der Knabe floh in sprachlosem Entsetzen, aber er stieß an die den Weg halb versperrende Matratzenthür; er strauchelte,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 593. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_593.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)