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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

tritt der Geistliche des Ortes in die erste Reihe. Aus seinen Aufzeichnungen und Briefen geht mit Sicherheit hervor, daß er von den ersten Anfängen das Ungewöhnliche der Erkrankungsvorgänge erkannte, daß er die wachsende Sterblichkeit mit ängstlicher Spannung verfolgte, daß er bemüht war, das Nothsignal für die russische Regierung zu geben, als von Seiten der zuständigen Verwaltung noch die beklagenswertheste Indolenz an den Tag gelegt wurde.

Es verlohnt sich wohl der Mühe, uns einen Augenblick an die Stelle dieses gebildeten, feinfühlenden Mannes zu versetzen. In der ersten Octoberwoche stirbt ein Individuum nach kurzer Krankheit unter auffälligen, ungewöhnlichen Krankheitssymptomen. Die nächste Woche bringt ihre ein bis zwei regulären Todesfälle aus bekannten Ursachen – nichts Ungewöhnliches; in der dritten Woche dieses Monats sterben wieder zwei, in der vierten drei Personen unter jenen räthselhaften Erscheinungen. So hat die Zahl der Todten in einem Monat, statt wie sonst regelrecht etwa vier bis sechs, die Höhe von zwölf Fällen erreicht. Die erste Novemberwoche beruhigt die gespannte Aufmerksamkeit wieder – aber in der zweiten regt sich der unheimliche Feind von Neuem, es werden drei dem noch immer räthselhaften Uebel Erlegene zu Grabe gebracht; die dritte Novemberwoche fordert sieben, die folgende acht Opfer.

„Was ist das?“ fragt in einem nach Zarizin gerichteten Briefe der geängstigte Seelsorger; „wir dachten nach der guten Heu-Ernte einen glücklichen, behäbigen Winter zu verleben. Nun sterben aber unsere jüngsten und kräftigsten Leute an einer schrecklichen Seuche dahin. Die Aerzte reden von den Malariafiebern, die an unseren Ufern heimisch sind, aber wir kennen, weiß Gott, unsere Fieber zur Genüge, und das, was hier jetzt herrscht, hat damit nichts zu schaffen.“

Er sucht überall beizustehen und zu helfen; er hält es für nöthig, die weitläufigen Begräbnißceremonien, welche die griechisch-katholische Kirche vorschreibt, abzukürzen; er sieht seinen eigenen baldigen Tod vor Augen und begiebt sich zu dem Amtsgenossen in dem benachbarten Przizib, um dort zu beichten. Denn schon die erste Decemberwoche verläuft mit gegen zwanzig Sterbefällen; in der zweiten vermag er sie kaum noch zu übersehen, denn 56 seiner jetzt schon nicht mehr 1700 Dorfeingesessenen sind es, die als Verstorbene gemeldet werden, aber sie Alle finden sich doch noch mit Namen, Alter, Familienbezeichnungen im Kirchenbuche notirt. Als aber die Woche vom 9. bis 16. December 169 Todesfälle bringt, da hören die schriftlichen Aufzeichnungen plötzlich auf, denn unter den 41 Todten des 14. December befand sich der treue Gewährsmann selbst. Er war aber mehr gewesen; mit seinem Tode lösten sich alle Grundlagen des Gemeinwesens auf. Einige flüchteten in die endlose Steppe, andere nach der großen Wolgainsel, die sich vor dem Orte lang hinstreckt; noch andere trugen die Pest, den Schrecken und die Verwirrung in die Nachbardörfer. Durch die eigenen Hände seiner Mutter und Schwester fand unser Geistlicher ein ruhiges Grab; viele von denen, die nach ihm starben, blieben unbegraben liegen an der Stelle, wo der Tod sie überfiel. Denn war auch die größte Wuth der Seuche mit dem eben genannten Datum erschöpft, so waren es doch noch 54 Opfer, welche ihr im letzten Abschnitte des December, und über 30, welche in den ersten beiden Wochen des Januar erlagen. Der Vorhang war über dem eigentlichen Schauplatze der Epidemie bereits gefallen, als in widersprechenden Zeitungsnotizen zu uns davon die Kunde drang; die Ausläufer der Krankheit, die 3, 5, 8 Pesttodesfälle in Przizib, Staritzkoje, Udatschnoje, Nikolskoje und besonders 32 in Selitrennoje waren es, die als frische das gespannte Interesse der Zeitungsleser erregten und es fast in den Hintergrund stellten, daß in Wetljanka über 26 Procent der ganzen Bevölkerung erkrankt und von diesen Erkrankten über 80 Procent gestorben waren.

Welche Umstände erklären uns dieses selbst in der Geschichte der Pest ganz unerhörte Factum? Mit anderen Worten: wie kam die Pest in diesen isolirten Bezirk, und wie konnte die Sterblichkeit, da besonders begünstigende Momente uns bis jetzt nirgend begegnet sind, diese kolossale Höhe erlangen? – Wir haben in unserem ersten Artikel (Nr. 9 dieses Jahrgangs) zwar einige Andeutungen über die Pestausbrüche in Persien und Mesopotamien gemacht, uns jedoch wohl gehütet, eine bestimmte Hypothese über den Weg der Pest nach Wetljanka auszusprechen. Nicht als ob wir die Vermuthungen, welche von anderen Seite laut wurden, damit ohne Weiteres hätten verurtheilen wollen. Die gangbarsten derselben waren durchaus nicht ohne Werth und Wahrscheinlichkeit. Man wußte sicher, daß die Pest einerseits im Jahre 1876 in Bagdad, andererseits 1877 in Rescht geherrscht hatte – und man vermuthete, daß im Sommer des Jahres 1877 auch in Astrachan ein Ausbruch erfolgt wäre, der eben nur der Anerkennung durch die russischen Behörden entbehrte und für’s Erste todtgeschwiegen worden war. Eine klare Vorstellung, auf welchen Schleichwegen die Seuche von den erstgenannten Orten, von Bagdad oder von Rescht aus, nach Wetljanka gelangt sein sollte, ließ sich nicht gewinnen. Man beklagte den dichten Schleier, der überhaupt die sanitären Zustände an den Ufern des kaspischen Meeres bedeckt; man hielt es für denkbar, daß durch persische Handelsverbindungen Keime nach Norden verschleppt, oder auch, daß die Truppenbewegungen auf dem armenischen Kriegsschauplatze anzuklagen seien. Die letztere Vermuthung wurde von sachkundiger Seite am frühesten für unbegründet erklärt. „Die in einem Heere ausbrechende Pest läßt sich schlechterdings nicht verheimlichen – das ist die übereinstimmende Meinung aller russischen, türkischen, österreichischen und anderen Truppenärzte, welcher sich auch die Mitglieder der Untersuchungscommissionen angeschlossen haben.

Eine ganz heimliche Verbreitung der Krankheit in den Umgebungen des kaspischen Meeres, sodaß in keinem Orte eine Epidemie bemerkt worden wäre, mußte bei aller Berücksichtigung der primitiven Sanitätszustände dieser Gegenden als ebenso unwahrscheinlich zurückgewiesen werden. Es wurde also durch Hinwegräumung dieser beiden Hypothesen nun die Annahme einer verborgenen Pestepidemie in Astrachan in den Vordergrund gerückt; für eine Verbreitung derselben von hier nach Wetljanka bedurfte es bei dem ziemlich regen Verkehr beider Plätze weiterer Erklärungen dann nicht. War nun aber wirklich das, was in den Monaten Juli bis September 1877 – nicht, wie hin und wieder irrthümlich angegeben, 1878 – in Astrachan beobachtet wurde, eine Pestepidemie?

Dem Obmann der internationalen Commission, Professor A. Hirsch, haben die vollständigen Regierungsacten über die betreffenden Vorkommnisse vorgelegen, und derselbe erklärte, aus diesen circa 150 Krankheitsfällen (mit sehr geringem Fieber und Drüsenschwellungen, die sämmtlich im Herumgehen der Patienten behandelt wurden und von denen keiner mit dem Tode endete und keiner als ansteckend sich erwies) die Züge einer Pestepidemie nicht herausfinden zu können.

Als die internationale Commission nach Wetljanka kam, schien ein ganz directer Fingerzeig sich in der Erkrankung einer Frau darzubieten, die, nach Astrachan gereist, von dort krank zurückgekehrt und – bereits im October – an der Pest verstorben war. Bald aber ließ sich nachweisen, daß diesem Falle schon mehrere vorangegangen waren, daß die Frau schon krank von Wetljanka abgereist war und daß auch nicht der leiseste Verdacht auf Personen oder Gegenstände, durch die sie in Astrachan hätte angesteckt sein können, begründet werde konnte. – Es ist nicht schlechterdings zurückzuweisen, daß ein Zusammenhang zwischen den Erkrankungen in Astrachan und der vollkommenen Pestepidemie Wetljankas bestehen könne. Aber die Verschiedenartigkeit der beiden Erkrankungsreihen, die Thatsache einer längeren Pause zwischen beiden und das isolirte Befallenwerden Wetljankas mit Uebergehung so vieler Ortschaften, welche in noch viel lebhafterem Verkehre mit Astrachan stehen – alle diese Umstände widersprechen der Wahrscheinlichkeit jenes Zusammenhanges.

Auf die naheliegende Frage, „ob wir denn im Stande sind, einen besser begründeten Zusammenhang von Thatsachen aufzufinden?“ antworten wir ohne Vorbehalt bejahend. Es findet sich ein greifbares Etwas vor, Objecte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit als Pestträger zu bezeichnen sind und die genau unmittelbar vor und während des Ausbruches der Seuche nach Wetljanka gebracht wurden. Diese Gegenstände sind Beutestücke, welche durch die aus dem Bezirke recrutirten Kosaken nach ihrem Heimathsorte theils geschickt, theils gebracht worden sind. An der massenhaften Einführung von Kriegsbeute, aus Seidenrollen, Gewändern, Shawls und dergleichen bestehend, nach Wetljanka ist gar kein Zweifel möglich; die internationalen Commissarien haben solche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 522. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_522.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)