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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Das Weinen wurde heftiger.

„Sage mir Alles, Kind, was Dich so ungewöhnlich bewegt hat – gewiß wird Dir dann leichter werden.“

Irmgard schwieg beharrlich.

„Hast Du kein Vertrauen zu mir – Deiner Mutter?“

„Habe ich denn noch eine Mutter?“ fragte das Mädchen schluchzend und mit schmerzlichstem Ausdrucke.

„Weshalb zweifelst Du daran?“

Wieder blieb die Antwort aus.

„Wenn Du Dich verletzt glaubst, Kind – ist es nicht besser, sich offen auszusprechen, als sich so unvernünftig dem Kummer hinzugeben? Worüber hast Du Dich zu beschweren?“

„Ach! es läßt sich ja gar nicht sagen … nicht einmal zu Ende denken.“

Elise suchte sie aufzurichten. „Sieh’ mich an!“ sagte sie. „War ich Dir nicht immer eine gute und treue Mutter? Kannst Du das nun so plötzlich vergessen haben?“

Irmgard hielt die Hände auf die Augen gedrückt; zwischen den feinen Fingerchen quollen die Thränen hervor. „Ich kann Dich nicht ansehen,“ rief sie, „ich sehe immer Einen neben Dir …“ Sie schüttelte sich wie im Fieberfrost. Nicht ohne Widerstreben ließ sie den Kopf an die mütterliche Brust lehnen.

„Ich vermuthete das Richtige,“ nahm nach kurzem Schweigen die Mutter wieder das Wort. „Es hat Dich gestern erschreckt, mich und den Maler Werner – so nahe verbunden zu sehen. Ich bin meiner Tochter eine Erklärung schuldig. Freilich sollte sie kaum noch nöthig sein. Es war wenige Minuten vor Deinem Eintreten zu einer Aussprache zwischen uns gekommen – wir waren ein Verlöbniß eingegangen.“

„Und - was soll daraus werden?“

„Du fragst sonderbar, Kind.“

„Ich frage nur, damit Du siehst – daß es – ganz unmöglich ist.“

„Was wäre unmöglich?“

„Mutter! Und mein Vater?“

„Werner wird Dich lieben wie ein zweiter Vater.“

Irmgard machte sich mit einer leidenschaftlich heftigen Bewegung los und richtete sich auf. „Ich will aber keinen zweiten Vater haben,“ rief sie, „ich kann keinen zweiten Vater haben – er soll mich nicht lieben, denn ich – ich – ich hasse ihn. O mein Gott, mein Gott!“

„Du wirst ruhiger und verständiger darüber denken lernen.“

„Nie, nie, nie! Mutter – wenn das geschieht … ich hoffe, ich würde es nicht erleben. Aber wenn Gott nicht so barmherzig sein wollte, mir einen raschen Tod zu schenken – ich müßte mich von Dir trennen und ihn irgendwo in der Fremde erwarten. Ich – könnte Dich nicht mehr wie meine Mutter ehren und lieben.“

Frau von der Wehr sah finster vor sich hin. „Das sind recht unkluge Aeußerungen, Kind,“ sagte sie. „Mit Kummer bemerke ich, daß Du Deine Empfindungen überspannst und Dir dadurch die Versöhnung mit einem Ereignisse erschwerst, das Dir wohl in freundlicherem Lichte erscheinen könnte, wenn Du – nicht nur an Dich selbst denken möchtest. Deiner Mutter Glück –“

„Denke ich an mich selbst?“ fiel das Mädchen schluchzend ein. „Nein, nein, nein! Gott weiß es, der in unsere Herzen sieht und dem sich nichts verbirgt. An meinen Vater denke ich – an meinen Vater! Und an den solltest auch Du denken, Mutter. Dein Glück! – Kannst Du glücklich sein, wenn Du den Platz, den er in Deinem Herzen hat, einem anderen Manne einräumst? Kannst Du glücklich sein, wenn Du sein Andenken nicht treu bewahrst? Weißt Du denn nicht, daß der Tod die Menschen nicht scheidet – daß er im Himmel lebt und Deiner in Liebe harrt? Mutter – Mutter! Wie willst Du einmal ihm drüben begegnen?“

Elise lächelte. „Er ist ein seliger Geist und ganz in Gott, mein liebes, frommes Kind. Der Erde Freude und Leid kümmert ihn nicht mehr, und wenn wir zu ihm kommen werden, werden auch wir alles Irdischen ledig sein. Mann und Weib, Vater und Kind – das gilt drüben nicht. Geist im Geiste sein, Licht im Lichte – das ist unsere Hoffnung.“

Irmgard schüttelte ablehnend den Kopf. „Nein, so fasse ich’s nicht,“ antwortete sie. „Lebt er nicht in uns? Beglücken wir ihn nicht durch unsere Liebe? Betrüben wir ihn nicht durch jeden Gedanken, der unser Herz von ihm ablenkt? Kannst Du ihn in Dir sterben lassen, Mutter?“

Sie warf sich ungestüm an der Mutter Brust und hielt sie krampfhaft mit den Armen umschlungen, als könnte sie so ihre Flucht hindern. Frau von der Wehr erwiderte ihre Liebkosungen, aber nicht in derselben leidenschaftlichen Weise; sie wollte nur beschwichtigen, beruhigen. „Du weißt nicht Alles,“ sagte sie. „Max Werner war mir schon lange mehr, viel mehr, als Du ahnen konntest.“

Irmgard hob den Kopf und sah sie mit ganz verstörten Augen an. „Wie? Lange schon? Du hast ihn ja doch nicht gesehen seit meines Vaters Tode bis zu dem Tage, als ihn meine Unvorsichtigkeit hierher lockte. Wie kannst Du sagen –“

„Nicht seitdem, Kind, aber lange bevor ich Deinen Vater –“

„Wie? Du hättest diesen Mann, der Dein Lehrer war –“ Sie drückte die Hand auf die Stirn. „Ich verstehe Dich wohl nicht recht. Ich bin ganz verwirrt – o, mein armer Kopf! Du liebtest meinen Vater, deshalb wurdest Du seine Frau. Wie hat Dir ein Anderer vorher etwas sein können, was er Dir jetzt noch sein soll?“

„Und doch!“

„Aber dann wäre ja Alles Lüge, Mutter, dann … Nein, um Gotteswillen, nein! Laß Dich erbitten, Mutter – thu’s nicht!“

Elise preßte die Lippen gegen die Zähne. „Irmgard,“ begann sie nach einer Weile ernst, „ich hätte Dich gern bei dieser Angelegenheit mehr wie eine Freundin behandelt, der ich ein herzliches Vertrauen schenke, als wie ein Kind, dem ich meine Entschlüsse ankündige und von dem ich Gehorsam erwarte. Aber ich sehe ein, daß ich Dich für reifer und verständiger hielt, als Du bist. Aus Vernunftgrunde willst Du nicht hören; aus der Traumwelt hinauszutreten, in der Du befangen bist, und die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind, lehnst Du ab; mit maßloser Leidenschaftlichkeit ergiebst Du Dich Deinem Kummer – zum Richter über Deine Mutter wirfst Du Dich auf. Wie kannst Du erwarten, daß ich mich Deiner Unvernunft, Deinem kindischen Trotze füge? Was ich lange, lange gelitten habe, das weißt Du nicht. Und nun mein Schicksal sich freundlich wendet, willst Du Dich drohend mir in den Weg stellen und mich in’s Leid zurückscheuchen? Das wird Dir nicht gelingen. Ich habe nicht unbedacht gehandelt, und so nimm denn das Geschehene als etwas Unwiderrufliches! Sei mein gutes Kind – füge Dich mit mildem Sinne in das, was Dein trotziges Widerstreben vergebens zu wenden versuchen würde!“

Irmgard rang die Hände. „Wenn ich’s könnte, Mutter!“ rief sie, „aber ich weiß es: Dein Hochzeitstag wird mein Todestag sein.“

Frau von der Wehr stand auf und ging nach ihrem Zimmer zurück, sich noch einige Stunden Ruhe zu gönnen. Sie fühlte, daß die Fortsetzung des Gesprächs jetzt ganz nutzlos sein müßte, nur das Gemüth des armen Kindes noch mehr erbittern könne. Ihr Gram mußte sich erschöpfen; da er sich so heftig äußerte, war Hoffnung, daß er bald der ruhigeren Ueberlegung Raum lassen werde. Sie bereitete sich aus dem Sopha eine Lagerstätte und schlief ein, als sie Irmgard nicht mehr weinen hörte.

Sie wurde durch die Meldung geweckt, daß Herr Max Werner im Pavillon warte. Er schickte ihr einen Strauß frischer Feldblumen, die er am Morgen gepflückt hatte, nachdem er das Boot verlassen. Sie drückte das Gesicht tief hinein und labte sich an dem würzigen Geruche. Irmgard lag ganz still auf dem Bett. Sie trat zu ihr und beobachtete die Schlafende, die zum Erschrecken bleich war; die Augenlider schienen nur unvollkommen zu schließen und wie durchsichtig über den dunklen Sternen zu flimmern. Die Adern an den Schläfen pulsirten sichtbar; die Lippen und die Hände zuckten mitunter, als ob sie durch eine schmerzliche Berührung aufgeschreckt würde. Die Mutter nickte traurig: „Mein armes, armes Kind! Was mich so unnennbar glücklich macht, ist Dir das schwerste Leid.“

Wernner fand sie zu seiner Ueberraschung ernst und bekümmert. Er erfuhr, was vorgegangen war, und wurde nun selbst einen Augenblick nachdenklich, meinte dann aber, man müsse eine so innerliche Natur sich selbst überlassen, ruhig seinen Weg weitergehen und auf den Anschluß warten. „So eine junge Seele hat ihre Ideale,“ sagte er, „und meint, das Leben danach

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_042.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2017)