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Seite:Die Gartenlaube (1876) 372.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


den größten Schwierigkeiten verbunden. Unaufhörlich regnen auf die zwischen der Gürteleisenbahn und der inneren Boulevardslinie gelegenen Stadtquartiere die Granaten und Petrolbomben, welche die Batterien der Rothen von der Butte Chaumont in Belleville und vom Père Lachaise herab- und hereinschleudern. Diese Punkte, sowie der Faubourg du Temple und die Rue d’Angoulême sind die letzten Halte der Insurrektion, welche ihr gehärtetster Führer, Delescluze, schon am Tage vor dem Verluste des Stadthauses als eine Sache bezeichnet hatte, für die kein Sieg mehr zu hoffen, sondern nur noch der Tod zu suchen sei. …

Es dürfte ein eitles Mühen sein, von dem Paris, wie es vom Mittwoch den 24. bis zum Sonntag den 28. Mai sich darstellte, eine auch nur annähernd deutliche Vorstellung sich zu machen. War es doch wie das Hereinbrechen des Chaos. Nur etwa die giganteske Phantasie eines Dante vermöchte von dieser „città dolente“ der Wirklichkeit ein Bild zu geben. Was uns Augen- und Ohrenzeugen berichten, ist bloßes Stückwerk und kann nicht mehr sein. Sie vermochten nicht, alle die Schrecknisse, die sie mit allen Poren einathmeten, zu unterscheiden und festzuhalten, geschweige zu einem Gesammtgemälde zu gruppiren. Ein französischer Zeuge sagt aus: „Man muß vom 23. bis zum 28. Mai in Paris gewesen sein, um sich eine Vorstellung von dem entsetzlichen Anblick bilden zu können, welchen die große Stadt während der Feuersbrünste darbot, die nach der Meinung ihrer Urheber sie in Asche legen sollten. Die mörderischen Kämpfe, welche die Armee der Ordnung und die der Demagogie einander lieferten, die Hohlgeschosse, welche nach allen Richtungen platzten, die Gefahren jeder Art, von denen das Leben der Bewohnerschaft in jedem Augenblick bedroht war, – das alles war gewiß angethan, hochgradigen Schrecken zu erregen. Aber dennoch war nichts so erschütternd, so erstarrend, so verzweifelnd wie der Anblick von allen diesen den Flammen überlieferten Monumentalbauten, in welchen seit Jahrhunderten mit religiöser Sorgfalt so viele Schätze der Kunst und Wissenschaft angesammelt worden waren. Beobachter, welche von der Höhe von La Roquette“ – (wo unser Zeuge als Geisel gefangen saß) – „oder von der Hochebene von Chatillon diese Feuersbrünste betrachteten, sagten sich mit Entsetzen, daß die prächtige Hauptstadt der modernen Civilisation zu einem Trümmerhaufen werden müßte; denn sie glich ja einem ungeheuren Glühofen, einem kolossalen Feuerherd, von welchem Flammenströme aufschossen und riesige Rauchwolken emporwirbelten.“ Ein Augenzeuge von jenseits des Kanals brach beim Anblick der brennenden Tuilerien, des brennenden Louvre, des brennenden Palais Royal, der brennenden Rue Royale in die Worte aus: „Sie brennt wahrhaft königlich, die ganze Seite der Straße von dem Madeleineplatz bis zur Rue des Faubourg Saint-Honoré. In dieser letztgenannten Straße sind alle Gossen voll Blut. An jeder Straßenecke steigt eine Barrikade auf. Kanonendonner, Musketengeknatter, Mitrailleusengehuste bilden zusammen ein Orchester, das zu diesem Drama der Zerstörung die Musik macht. Angesichts dieser Schrecknisse faßt unbeschreibliche Wuth die Menge. Bislang hatte sie im Gefühl ihrer Befreiung nur Hoch und Hurrah geschrieen, jetzt aber wandelt sich ihre Freude in bestialischen Rachegrimm. Zitternd und keuchend vor Zorn erzählt man sich, daß das Petrolfeuer auch das Finanzministerium und alle öffentlichen Gebäude am Quai d’Orsay sowie in der Rue du Bac verzehre. Die das Sonnenlicht auslöschenden Flammengarben und Rauchmassen fachen in den Herzen der Pariser einen Brand an, nicht weniger wild, teuflisch und vernichtend. ‚Schießt alle Gefangenen nieder! Kein Erbarmen! Nieder mit den Petrolmännern und Petrolweibern!‘ schreien die Leute wie wahnwitzig den Soldaten zu. Und alsbald hebt eine wüthende, schauderhafte, haarsträubende Jagd auf die Verdächtigen an. Man sucht, faßt und füsilirt Männer und Weiber auf der Stelle. Und dieses Höllengeschäft treiben am eifrigsten die Frauen.“

Man hat es ein Wunder genannt, daß nicht die äußersten Befürchtungen sich verwirklicht, daß nicht die Flammen ganz Paris eingeäschert hätten. Das Wunder erklärt sich aber wie alle die sogenannten Wunder aus natürlichen Umständen. Zunächst aus der schon früher betonten Hauptursache, daß der unerwartet frühzeitige Einbruch der Blauen in die Stadt die Vernichtungspläne der Rothen nur theilweise zur Reife und zur Ausführung kommen ließ. Nebenursachen kamen hinzu: das energische Vorschreiten der Truppen warf Unordnung in die Reihen der Kommunestreiter, und diese störte dann auch vielfach die Arbeit der Zünder; Hauseigenthümer fanden in der äußersten Gefahr so viel Muth, den Brandlegungen mit Gewalt sich zu widersetzen; pfiffige Portiers führten die anlangenden Brandmänner in die Keller und füllten sie mit Wein bis zur Besinnungslosigkeit; endlich darf als sicher angenommen werden, daß vielen Brennern im letzten Augenblicke Herz und Hand versagten, ihre höllischen Aufträge zu vollziehen. …

Und immer noch flatterte die rothe Fahne und fuhren die Batterien der Butte Chaumont und des Père Lachaise auf die Stadt zu feuern fort. Nur kurze Pausen des Aufathmens gönnte sich der Verzweiflungskampf. In der Nacht vom Freitag auf den Sonnabend ras’te er mit unsäglicher Wuth um Belleville her, dessen gehügelte Quartiere und winkelige Gassen von Barrikaden starrten. Das ganze Nest schwimmt in einem grellen Roth, denn die ungeheuren Speicher („Docks“) brennen lichterloh. Die „strategische“ Brandfackel hat auch hier ihr Werk gethan. Wie zwei riesige Ausrufungszeichen ragen die spitzen Thürme der Kirche von Belleville aus dem Feuerschein empor. Vom Montmartre herüber schlagen die Bomben der Blauen fort und fort in das Häusergewirre. Immer neue Brände springen auf. Doch mit unbeugsamem Fanatismus halten die Belleviller an der verlorenen Sache.

Noch einen ganzen Tag, den 27. Mai. Denn nachdem das schreckliche Getöse gegen Tagesanbruch eine Weile verstummt gewesen, hebt es von neuem an, und wieder beginnt das Streiten und Morden. Die Sonne, müde der Gräuel, die sie seit drei Tagen gesehen, hatte einen dichten Wolkenschleier vor ihr Antlitz gezogen, aber der Widerschein der Feuersbrünste färbte das Grau dieses Schleiers kupferroth. Mithandelnde in dem furchtbaren Trauerspiel haben nachmals ausgesagt, daß der Anblick von Paris an jenem trüben Maimorgen von einer wahrhaft gespenstigen Unheimlichkeit gewesen sei.

Man mußte ein Ende machen. Die Blauen holten aus zum letzten Schlag. Sie waren zur Stunde damit fertig geworden, die Insurrektion einzukreisen, sie in einen Cirkel von Eisen, Blut und Feuer einschließen, welcher von Belleville und vom Pére Lachaise bis ungefähr zum Boulevard Beaumarchais, zum Bastilleplatz, zur Rue de Charonne und zur Rue du Temple reichte. Aber auch aus diesem Kreise heraus setzten die Rothen den blauen Angreifern einen so energischen Widerstand entgegen, daß gegen Mittag zu unter den Generalen der Regierung die Rede ging, es werde nichts übrig bleiben, als Geschütze allerschwersten Kalibers herbeizuschaffen, um damit die zur Zeit noch hartnäckig behaupteten Quartiere in einen ungeheuren Trümmerhaufen zu verwandeln. Erst der Abend brachte, ohne daß zu diesem Aeußersten geschritten werden mußte, die Entscheidung. Die Generale Ladmirault und Vinoy führten sie herbei. Jener faßt, nachdem er sich der Vorstadt Villette bemächtigt hat, die Butte Chaumont von hinten und erstürmt sie; diesem gelingt der Sturmlauf auf den Père Lachaise, von wo aus er noch am späten Abend bis zur La Roquette hereindringt. So war Belleville gebändigt, und die Rachefurie ging in seinen halbzerstörten Gassen bis weit in die Nacht hinein würgend um. Scharen von rothen Flüchtlingen suchten in der Richtung von Vincennes, welches Fort bis zum 29. Mai sich hielt, Rettung und Zuflucht, wurden aber auf diesem Fluchtweg scharenweise von ihren blauen Verfolgern niedergemacht.

Nun ist, was noch von der Kommune und den Kommunarden übrig, im Faubourg du Temple und in der Rue d’Angoulême eingekeilt. Noch halten sie aus, die Nacht über und den Morgen vom Pfingstsonntag, obzwar das Stummbleiben der Kanonen auf der Butte Chaumont und dem Père Lachaise ihnen verkündigt, daß alles aus und vorbei und die Todesstunde gekommen. Gegen Mittag sind sie in die Rue d’Angoulême eingeschnürt. Sie haben keine Geschütze mehr und nur noch eine Barrikade. Diese behaupten sie, bis die vom Faubourg du Temple her die Straße heraufsausenden Kanonenkugeln die letzte Schutzwehr niederwerfen und die letzten Vertheidiger den Chassepotschüssen und Bajonnettstößen der heranstürmenden Soldaten erliegen.

Auf den Trümmern dieser letzten Barrikade lag barhaupt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_372.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)