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Seite:Die Gartenlaube (1876) 226.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

momentanen Pause entschlossen, mit gewaltsam beherrschter Stimme; „er wird glücklich werden, und deshalb muß auch von unserer Seite Alles geschehen, daß die Zeit der Verirrung nie mehr berührt wird.“

Käthe sagte kein Wort mehr. Die Kranke erwartete mit kaum bezähmbarer Ungeduld den Moment, wo sie den Mann, den sie als ihren Arzt vergötterte, wieder glücklich sehen würde. Was sollte werden, wenn Flora nicht kam, wenn Henriette endlich doch erfahren mußte, daß die treulose Braut der langen Qual eigenmächtig ein rasches, gewaltsames Ende gemacht hatte? „Dann wirst Du unseren Namen nie mehr auf die Lippen nehmen,“ hatte Henriette gestern in ihren Fieberphantasien gegen Bruck geklagt. In Käthe’s Seele dauerte der chaotische Zustand fort, der sie schon gestern Abend betroffen gemacht. Die Gesetze der Moral hatten ein scharfes Gepräge für sie, und sie war noch unerfahren genug, Lohn und Strafe stets als gerechte Folgen vorausgegangener Handlungen zu denken – und nun in diesem wunderlichen Weltgetriebe wurde alles Ernstes gewünscht und gehofft, daß unerhörter Uebermuth und systematische Pflichtverletzung nicht nur straflos ausgehen, sondern auch noch eines seltenen Glückes theilhaftig werden sollten. Man bemühte sich, das Vergehen todtzuschweigen; man hätschelte die Sünderin und dankte ihr wo möglich auf den Knieen für ihre Umkehr, die, wenn sie wirklich erfolgte, nicht einmal wahre, innere Reue, sondern nur durch den Umschwung der äußeren Verhältnisse hervorgerufen worden war. Und er, den sie moralisch mit Füßen getreten, nahm er sie wirklich augenblicklich wieder an sein Herz, wenn sie sich herabließ, zu ihm zurückzukehren? Ganz sicher; hatte er sie doch nicht beigegeben, selbst nachdem sie ihm erklärt, daß sie ihn hasse. Jetzt fühlte Käthe einen mächtigen Zorn in sich aufglühen gegen die unselige Schwachheit, die einen Mann so erbärmlich, so unmännlich handeln ließ. Sie hätte so recht von Herzen ihren Groll ausweinen mögen über diese Erfahrung, die ihr das Leben und sogar die schöne, strahlende Welt für einen Augenblick verdunkelte, aber sie verbiß trotzig das wunderliche Schmerzgefühl und saß äußerlich fast noch „fischblütiger“ da, als vorher. Weinen? Was ging sie denn die ganze abstoßende Geschichte weiter an? Sie hatte nun nichts, gar nichts mehr dabei zu bedeuten, als das Hochzeitsgeschenk für die Schwester – etwa ein Teppich oder ein Sophakissen – das sie nunmehr schleunigst anfangen müsse, wenn wirklich die Hochzeit zu Pfingsten stattfinden sollte.

Die Tante kam herein, legte einen frischgebrochenen Syringenzweig voll junger Blätter auf die Bettdecke und brachte der Leidenden einen Gruß vom Frühling, der gar so golden, so helltönig und würzig draußen hinziehe und einen wahren Genesungsbalsam in seinem Athem trage. Sie bestand darauf, ihren Platz am Bett wieder einzunehmen, und erklärte Käthe’s Anwesenheit im Krankenzimmer für den Moment als vollkommen überflüssig; draußen im Garten möge sie sich ein wenig Bewegung machen und frische, sonnige Gottesluft athmen; das thue ihr sichtlich noth; die gestrige Alteration und Anstrengung sei noch auf ihrem Gesicht zu lesen.

Das junge Mädchen ging rasch hinaus. Ja, Luft und Sonnenschein, das waren zwei gute Freunde, die ihr stets das Gefühl innerer Kraft und des Jungseins wonnig zum Bewußtsein brachten, die den Blick klärten und alles angekränkelte Empfinden über den Haufen bliesen. Und die Tante hatte Recht, die Welt war so maienhaft, so blüthenverheißend, und die schwach wehende, sonnentrunkene Luft hauchte „Genesungsbalsam“ in Leib und Seele. Käthe trat hinaus auf die Freitreppe; ihr schöner Busen wogte in tiefen, zitternden Athemzügen. Sie hob und streckte unwillkürlich die Arme, die fest und doch mädchenhaft gerundeten mit den stählernen Muskeln. Und die Stufen hinabsteigend, ließ sie den Blick in die blaue Fremde hinein fliegen, über das niedere Staket hinweg, über die Wiesengründe draußen, über das sie durchschneidende, rasch strömende Gewässer mit den Dorfhäusern und Kirchthürmen an seinen fernen Ufern – wunderliches Menschenherz, das angesichts dieser Herrlichkeit doch so gepreßt blieb!

Und dort, vom Holzschuppen her, der am Gartenzaun stand, klang liebliches Gezwitscher, und blauschwarzes Gevögel mit metallisch funkelndem Rücken und rostbrauner Kehle tummelte sich um die offene Bodenluke – die ersten Schwalben waren da. Die Bodenluke war ihr alter Nistplatz. Käthe hatte schon als Kind, im Grase liegend, ihr Aus- und Einfliegen beobachtet, aber wie einsam und verloren hatte damals das Zwitschern geklungen in das eintönige Wellengemurmel und die um das verschlossene Haus webende athemlose Stille hinein, die hie und da das Fallen einer reifen Frucht von den Obstbäumen unterbrach! Jetzt schmetterten auch vornehme, verzogene Stubenvögel aus den offenen Fenstern; der Rauch des Heerdfeuers zog hoch droben als dünner, sonnenvergoldeter Schleier über den Rasenplatz hin; am Schuppen stand auch das Hundehaus, und der ungeberdige, struppige Köter riß an seiner Kette und schnappte nach einem schönen, lichtgelben Huhn, das sich dummdreist immer wieder in seine Nähe wagte, um einige versprengte Getreidekörner aufzulesen. Die Köchin hatte auf Wunsch der Tante Diakonus einen prächtigen Hahn und fünf Hennen aus ihrem Dorfe mitgebracht – es sollte Alles werden, wie im alten, lieben Pfarrhause. …

Käthe scheuchte die krakelnde Henne aus dem Bereiche des zornig knurrenden, gereizten Hundes und wandelte langsam unter den Obstbäumen hin. Der vorjährige, dürre Graswuchs zu ihren Füßen erschien da und dort gesprenkelt mit jener Bläue, die selbst das älteste, verdrossenste Menschenauge noch aufleuchten macht – die ersten Veilchen blühten, und das große stattliche Mädchen bückte sich so emsig danach, wie es einst kaum der kleine Rücken des Müllermäuschens gethan. … Fast verwundert dachte sie jetzt daran, daß sie ja eigentlich als einzige Erbin ihres Großvaters vor wenigen Wochen noch Herrin hier gewesen sei; das Capital, das der Doctor für die kleine Besitzung hingegeben, gehörte ihr – es lag wohl auch in dem bewußten eisernen Schranke, das mühsam ersparte, redlich erworbene Scherflein, vermischt mit dem Reichthume, den der Kornwucher aufgehäuft. Sie schrak zusammen und verschüttete unwillkürlich die gepflückten Veilchen auf den Rasen. Das schneidende Gefühl namenloser Demüthigung und erlebter Schande überkam sie, wie gestern inmitten der erbitterten Weiberschaar. Da hatte sie noch im ersten Aufschrecken gegen die entsetzliche Beschuldigung protestirt, aber nun, so oft das harte, mürrische, grobe Gesicht ihres Großvaters vor ihr auftauchte, mußte sie sich eingestehen, daß er recht wohl das grausame Wort von den „pfeifenden Mäusen“ gesagt haben konnte; sie ballte in stummer Qual krampfhaft die Hände. Daß sie mütterlicherseits aus den untersten Schichten der Gesellschaft stammte, wußte sie ja; nie war ihr auch nur der Wunsch gekommen, daß es anders sein möchte – sie leitete vielmehr ihre prächtige Mitgift, Kraft und tadellose Gesundheit, dankbar von „dem Großmütterlein“ her, das in frischer Waldluft mit kräftigem Arme die Holzaxt geschwungen, aber die Gemeinheit der Gesinnung, die Brutalität, mit welcher der ehemalige Müllerknecht einen erbarmungslosen Druck auf die Armuth ausgeübt, um zu einem großen Vermögen zu gelangen, erfüllten sie mit Ekel und Abneigung, und an den eisernen Spind mit seinen aufgespeicherten Schätzen mochte sie gar nicht mehr denken.

Ohne es zu wissen, war sie, am Flusse hingehend, in einen förmlichen Sturmschritt verfallen. Da, wo der Zaun das Grundstück begrenzte und mit seinem Weißdorngeflecht noch ein Stück des abschüssigen Ufers hinablief, blinkten weiße Glasscherben, die Splitter des kleinen Glases, aus welchem sie gestern Abend die nervenberuhigende Mischung getrunken. Die Köchin hatte die Trümmer, an welche sich eine beschämende Erinnerung für das junge Mädchen knüpfte, achtlos hingeworfen, damit das Wasser sie mit fortnehme. Ein schmerzender Stich durchfuhr Käthe’s Herz, und brennende Thränen traten ihr in die Augen, wie jedesmal, wenn sie an die gestrige Scene im Zimmer des Doctors dachte. Sie hatte sich mit ihrem „tollen Kopf“ entsetzlich blamirt. Und wenn der milddenkende, feinfühlende Mann auch sofort ein beschwichtigendes Wort, eine Entschuldigung für sie auf den Lippen gehabt, innerlich hatte er doch jedenfalls verwundert lächeln müssen über „die große, körperstarke Person“ mit den kindisch schwächlichen, sentimentalen Vorstellungen in ihrem Gehirn. Aber solch eine Uebereilung ihres bis zur Schwachheit mitleidigen Herzens passirte ihr auch gewiß nicht wieder! Lieber wollte sie für grausam, boshaft, ja, für eine böse Sieben gelten. Und der Doctor sollte gewiß nicht wieder über sie lächeln – ah, dazu fand er auch bald genug keine Veranlassung mehr. Wie lange noch, da wurde Henriette

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_226.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)