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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


„Wie ist das aber möglich?“ fragte Th’res mißtrauisch. „Wenn ich auch dem Brunngraber-Sepp nicht trauen will, kann ich doch nit glauben, daß er Alles, was er von Euch erzählt hat, nur so aus den Fingern gesaugt haben soll.“

„Das that er auch nicht,“ entgegnete die Fremde traurig; „von mir hat er die Wahrheit gesagt – ich bin ein unglückliches und verlassenes Geschöpf! Ich habe alles Das ausgestanden und erlitten, was er erzählte; aber der Wolf hat keinen Theil an meinem Unglück. Der Mann, mit dem ich sprach und der Euch erzählte, hat immer von Wolf gered’t und hat gemeint, ich rede auch von ihm, und ich fand es für gut, ihn auf dem Glauben zu lassen …“

„So wär’ er wirklich unschuldig?“ rief Th’res, aufathmend mit dem Gefühle des scheintodt Begrabenen, der, gerettet, Sonne und Leben wieder grüßt. „Gott sei Dank und Dank auch Euch! Kommt doch herein! Bleibt bei uns! Ihr werdet müd’ und vielleicht auch hungrig sein …“

„Nein, nein,“ sagte das Mädchen ängstlich abwehrend; „ich hab’ keine Zeit und hab’ noch einen weiten Weg vor mir.“

„Aber ich kann Euch doch nicht so fortlassen,“ rief Th’res herzlich, „es thät’ mir ja für ewige Zeiten auf dem Gewissen liegen. Wie kommt Ihr denn dazu, mich aufzusuchen?“

„Errathet Ihr das nicht?“ entgegnete die Fremde nach einigem Zögern. „Wenn ich’s denn sagen soll – und warum sollt’ ich nicht? ich habe mich Dessen ja nicht zu schämen –: ich komme, weil – der Wolf mein ganzes Herz eingenommen hatte, weil ich ihn nicht vergessen kann, so lange ich noch etwas zu denken vermag, und weil es mir wohl thut, wenn ich ihm vielleicht etwas Gutes erweisen kann. … Ich war überglücklich, als er mit uns ging – ein paar Tage lang bildete ich mir auch ein, er könnte ein Auge haben für mich, aber er hatte einen guten Schutzengel in seiner Heimath, und jetzt, wo ich den Schutzengel kenne, wundere ich mich nicht, daß er ihm so standhaft treu ’blieben ist. Ich mußte es verschmerzen, als er fortging – ich wäre doch nimmer seiner werth gewesen; so habe ich mir ihn aus dem Sinn geschlagen und das lustige Leben fortgemacht, so lange – so lange, bis ein trauriges Leben daraus geworden ist. Ich will’s nur gestehen, wie ich in diese Gegend kam, wollt’ ich ihn aufsuchen und ihm nachfragen, da begegnete mir der Brunngraber und stiftete mich an, Euch die Lügen zu erzählen … Neid und Eifersucht stachelten mich an, es zu thun – ich dachte, Ihr solltet auch einen Tropfen von dem Elend kosten, das ich habe austrinken müssen, aber ich bin heut’ Abend dazu gekommen, wie Ihr mit dem Brunngraber spracht, da vergingen mir die argen Gedanken, und ich kam hierher, um Euch Alles zu sagen – durch mich und wegen mir soll der wackere Mann keinen Augenblick im schlechten Lichte stehen; durch mich und wegen mir soll er keine traurige Minute haben …“

„O – wenn ich nur wüßte, wie ich Euch danken sollte! Danken für mich und seinen alten Vater,“ rief Th’res und streckte ihre Hand durch’s Gitter der Tänzerin entgegen, die dieselbe gierig ergriff und an die Lippen drückte – vergebens versuchte Th’res, sie zurückzuziehen.

„Laßt mir die Hand,“ sagte die Tänzerin herzlich bittend; „Ihr wißt nicht, was Ihr mir damit thut. Laßt mir die Hand! Vielleicht begreift Ihr, warum ich sie behalten will, wenn Ihr hört, daß das noch nicht Alles ist, was ich Euch zu sagen habe. Ich muß Euch auch noch erzählen,“ setzte sie mit schwankender Stimme hinzu, „daß ich Eure Mutter kenne …“

„Meine Mutter?“ schrie Th’res auf.

„Und Eure Schwester …“

„Meine Schwester auch? O redet! Erzählt, sagt, wo sie sind! Wie geht’s ihnen? Ich habe erst in diesen Tagen von ihnen erfahren und habe seitdem tausendmal bereut, daß ich nicht eher um sie gefragt – daß ich mir’s so gut hab’ gehen lassen, während sie vielleicht Noth und Elend ausgestanden haben …“

„Laßt Euch das nicht kränken,“ entgegnete die Fremde mit zärtlichem Händedruck. „Es ist so besser. Der Himmel hat’s gut mit Euch gemeint, daß er Euch von Eurer Mutter getrennt hat … Ich habe sie gut gekannt; und Eure Schwester, die von gleichem Alter mit mir ist, die – die,“ setzte sie mit einem Seufzer hinzu, „war eine gute Freundin von mir …“

„Aber wo sind sie? Wo, wo ist meine Mutter?“ drängte Th’res.

„Wo ihr recht gut ist,“ war die ernste Antwort. „Sie liegt in der geweihten Erde – vor ein paar Wochen hat man sie eingegraben. Sie hat nach dem Tode ihres ersten Mannes einen Herumtreiber geheirathet, einen Taschenspieler, der Werg gegessen und Feuer gespieen hat, und ist lang’ mit ihrer Tochter herumgezogen. – Vor ein paar Jahren wurde sie krank und siech in ihre Heimath nach Tyrol zurückgeschafft; ihre Tochter Nanna aber zog mit Andern noch in der Welt umher, bis sie vor einigen Wochen erfuhr, daß die Mutter auf den Tod darniederliege und sich nach ihr sehne. Da ist die Nanna heim – ich hab’ sie dort getroffen – ist bei der Mutter geblieben, hat ihr die Augen zugedrückt und sich vorgenommen, nimmer in die Welt zu gehen. Sie wollte einen Dienst suchen, aber weil ihre Gesundheit nicht fest und sie auch der Arbeit weder kundig noch gewohnt ist, haben die Klosterfrauen vom heiligen Wasser zu Absam versprochen, sie bei sich aufzunehmen …“

„Arme, arme Schwester!“

„Zuvor nahm sie sich vor, eine Wallfahrt an den Ort zu machen, wo ihr Vater begraben liegt und in dem Brunnen verschüttet wurde – sie dachte auch ihre Schwester aufzusuchen, die in der Gegend in Pflege sein soll – wo und bei wem, das wußte sie nicht; die Mutter, die in der letzten Zeit völlig verwirrt und blöde geworden, hatte die Aufschreibung darüber verloren …“

Th’res weinte still auf die Gitterstäbe – die Fremde aber fuhr immer weicheren Tones fort: „Sie ist mit mir heraus aus den Bergen und hat mir Alles erzählt – die Mutter hatte ihr einen Ring gegeben, ein schlechtes, silbernes Reifchen, und ihr aufgetragen, es ihrer Schwester, dem Reserl zu geben, wenn sie sie wiederfände.“

„Aber wo, wo ist sie?“ schluchzte Th’res. „Wenn Ihr mit ihr gegangen seid, kann sie doch nicht weit sein, dann muß man sie doch erfragen können. Wo ist sie denn hin?“

„Ich glaube kaum, daß Ihr sie erfragen könnt,“ sagte tief aufathmend die Fremde. „Sie hat keinen Ort gewußt, wo sie hin will; sie ist eben wieder heimgegangen nach Tyrol –“

„Dann will ich sie dort aufsuchen!“ rief Th’res. „Der Vater hat das Aufschreiben, in dem der Ort angegeben ist. – Ich muß sie finden, muß meine liebe, arme Schwester sehen, muß ihr helfen und sie trösten, wenn ich ihr nicht helfen kann …“

„Ich will’s ihr ausrichten,“ sagte ergriffen die Fremde. „Ich sehe sie doch wohl eher, als Ihr … Ich will es ihr sagen, daß Ihr’s so gut meint und sie so gern sehen möchtet; aber sie meint es auch mit Euch gut, o gewiß, von Herzen gut – sie hat mir’s gesagt, sie wünscht Euch alles Gute, keine einzige traurige Stunde, und zum Andenken an sie und an die jetzige Stunde sollt Ihr den Ring da nehmen.“

Die Tänzerin hatte mit rascher Bewegung einen Ring an Th’resens Finger gesteckt, und war, ihre Hand loslassend, rasch zurückgetreten.

„Was ist das?“ rief Th’res – „wie kommt Ihr auf einmal zu einem Ring von der Schwester?“

„Frage nicht!“ rief die Fremde, „und behalte ihn nur! Sei glücklich und werde glücklich! Den Ring habe ich von der Mutter selber. Ich bin ja Deine Schwester, die arme unglückliche Nanna. Leb’ wohl, Schwester! Ich sage es Dir noch einmal, sei glücklich, aber frage mir nicht nach! Tausendmal, tausendmal leb’ wohl! …“

„Schwester! Nanna! Bleib’,“ rief Th’res, die sich vor Verwunderung und Ueberraschung kaum zu fassen wußte, aber sie rief vergebens: draußen war schweigende Nacht, und als sie hinauseilte, schlug der Haushund an, und in der Ferne rauschten die Blätter unter den Füßen der Fliehenden. Vom Hügel starrte Th’res lange in die Nacht hinaus, in der eine schwache Helle den Ort bezeichnete, wo der Mondnachen inzwischen hinabgesteuert war. Gegenüber aber über den Bergen zog lichtkündend ein grauer Streifen hin als Vorbote des Tages, eines Tages voll so unsäglichen Glückes, daß ihr die Seele schauerte, wenn sie des Uebermaßes seiner Wonne gedachte.

Zurückgekommen, wachte sie dem Morgen entgegen, dessen erster Strahl sie in der großen Wohnstube traf, eifrig beschäftigt, den Tisch zum Frühmahl für die Gäste zu schmücken und zu bereiten. Ein schönes Tuch war über die breite Ahornplatte gedeckt, und in einem Henkelkruge prangte gesammelt, was an

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 496. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_496.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)