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Seite:Die Gartenlaube (1870) 883.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


umgeben zu sein; ich –“ sie wollte die Hand heben, und legte sie plötzlich, statt in die des Pfarrers, wie von einem plötzlichen Schmerz durchzuckt, auf die Brust.

„Fehlt Ihnen etwas?“ fragte er besorgt.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „O nein, es ist Nichts. Ich wollte Sie bitten, mir eine kurze Bedenkzeit zu gewähren. In wenig Stunden sollen Sie meine Antwort haben.“

Der Pfarrer mochte wohl kaum eine so günstige Aufnahme seines Antrages erwartet haben. Eine kurze Bedenkzeit ist ja meistentheils nur die Form des Anstandes, hinter der sich das Ja verbirgt. Er ergriff mit froher Herzlichkeit ihre beiden Hände.

„Wie Sie wollen, liebes Fräulein, so lange Sie wollen. Ich will Ihr Ja keiner Uebereilung verdanken. Gehen Sie ungestört mit sich zu Rathe, und dann sagen Sie mir aufrichtig Ihren Entschluß.“ – – –

Eine Stunde war vergangen, Gertrud saß in ihrem im oberen Stock gelegenen Zimmer, in tiefes Nachdenken verloren. Wie vorhin preßte sie unwillkürlich die Hand gegen die Brust. Da drinnen war etwas, was sich noch immer nicht der starren eisigen Ruhe gefangen geben wollte! Hatte es sich nicht vorhin wieder aufgebäumt in heißem zuckendem Weh, als sie im Begriff stand, ihre Einwilligung auszusprechen? Hatte es sie nicht in ahnender Angst wie von einem Abgrund zurückgerissen, und das Ja, das bereits auf ihren Lippen schwebte, mit einem lauten Nein, Nein erstickt? Und es mußte doch jetzt ein Ende gemacht werden mit der Schwäche! Sie war, wenn auch noch nicht vergessen, doch völlig aufgegeben und hätte es nicht nöthig gehabt, sich so ängstlich vor etwaigen Nachforschungen zu verbergen. Hermann hatte keinen Versuch gemacht, sie aufzufinden, oder wenigstens ein letztes Abschiedswort an sie gelangen zu lassen. Er hatte den Ernst ihres Entschlusses, die Wahrheit ihrer Worte erkannt, und fügte sich fest und stark in das Unvermeidliche, aber es zerriß doch das Herz des Mädchens, daß er so fest und stark zu sein vermochte. Freilich, ihm blieb ja noch seine Zukunft, um derenwillen er sie aufgegeben, und ihr?

Sie war entschlossen, die Hand des Pfarrers anzunehmen. Was konnte sie, die Einsame, Heimathlose, Besseres verlangen, als einen eigenen Heerd, die Zuneigung eines geachteten Mannes und die vielleicht schweren, aber doch lohnenden Pflichten in der Erziehung seiner Kinder. Freilich, er hatte recht gesehen, es war ein Element in dem Mädchen, das sich energisch sträubte gegen diese Zukunft, die er ihr bot, in der Abgeschiedenheit des kleinen Dörfchens, in dem immer gleichen Kreislauf von häuslichen Verrichtungen, fern von der Welt und all ihren Berührungspunkten – aber Gertrud war es müde, noch ferner ziellos und planlos von einer Abhängigkeit in die andere zu gehen, sie sehnte sich nach dem Hafen, wußte sie gleich, daß er das Grab alles dessen werden würde, was sie Leben nannte.

Das Schneetreiben hatte wieder begonnen; Gertrud öffnete das Fenster und blickte hinaus, ohne der Winterkälte zu achten, es war ja die letzte freie Stunde ihres Lebens, in der nächsten hatte sie sich gebunden für immer. Drüben von der fernen Landstraße her tönte der Klang eines Posthorns durch den fallenden Schnee. Lautlos und dicht sanken die Flocken vom grauen Winterhimmel, lautlos und dicht legten sie sich auf die erstarrte Erde. Die Felder und Wiesen ringsum, die Zweige der Bäume und die Dächer der Häuser, Alles trug das kalte formlose Schneegewand, und still und einsam lag das Dorf, wie eingesargt unter der weißen Leichendecke.

Plötzlich aber wurde diese Ruhe durch ein ungewöhnliches Ereigniß gestört, der Klang des Posthorns erstarb nicht wie sonst in der Ferne, er schmetterte nah und näher, laut und lustig, und jetzt gesellte sich dazu auch das Knarren und Aechzen der Räder. Von vier dampfenden Pferden gezogen arbeitete sich eine Postchaise mühsam durch den fußtiefen Schnee, bis sie vor der Thür des Pfarrhauses Halt machte. Der Schlag ward aufgerissen, ein Herr im Pelze sprang heraus, und mit einem Schrei des Entsetzens, des Entzückens flog Gertrud vom Fenster zurück.

„Hermann !“

Drunten hatte indessen das unerhörte Ereigniß, die Ankunft eines Gastes in vierspänniger Extrapost, das ganze Pfarrhaus in Alarm gebracht. Die gesammte Kinderschaar stürzte auf den Hausflur, die Thür der Studirstube ward eilig aufgerissen, Hin- und Herreden wurde laut, bis endlich eine fremde feste Stimme sich, den ganzen Tumult beherrschend, erhob.

„Bemühen Sie sich nicht, Herr Pfarrer. Fräulein Walter wird mich entschuldigen, wenn ich ohne besondere Anmeldung bei ihr eintrete. Ich habe ihr wichtige Nachrichten zu überbringen.“

Eiligen Schrittes kam Jemand die Treppe herauf, die Thür flog auf, Graf Arnau stand auf der Schwelle.

Gertrud war keiner Begrüßung, keines Lautes fähig, an allen Gliedern bebend stand sie noch an derselben Stelle wie vorhin, er schloß die Thür und näherte sich ihr.

„Also bis in dies ferne abgelegene Dorf sind Sie vor mir geflohen? Gertrud, glaubten Sie denn in der That, ich würde Sie nicht finden?“ Seine Augen ruhten ernst und vorwurfsvoll auf ihrem Gesicht.

Sie machte einen Versuch, ihre Fassung wiederzugewinnen. „Herr Graf, ich weiß in der That nicht, wie ich Ihr plötzliches Erscheinen deuten soll, nachdem –“

„Nachdem ich so lange geschwiegen? Wie, Gertrud, auch Sie haben mich verkannt? Sie haben mich für schwach und feig genug gehalten, Ihr großherziges Opfer unbedingt anzunehmen?“

Sie senkte das Auge, ein Nein auf diese Frage wäre – Lüge gewesen. Er trat ganz nahe und ergriff ihre Hand.

„Ich kannte Sie genug, um zu wissen, daß Ihre Erklärung die Bedeutung eines Schwures hatte, und daß jedem Versuche, Sie umzustimmen, nur ein erneutes Nein! gefolgt wäre, und es liegt nun einmal nicht in meiner Natur, mich in nutzlosen Klagen und Betheuerungen zu ergehen. Ich zog es vor zu schweigen – bis ich handeln durfte.“

„Handeln?“ Sie sah ihn ungewiß, zweifelnd an.

„Ja. Du hattest Recht mit Deinen Abschiedsworten, das wußte Niemand besser als ich selbst. In unserer kleinen Residenz, wo jede Skandalgeschichte unvergessen schläft, bis die Klatschsucht sie zum Verderben einer Familie wieder aufweckt, in unserem Fürstenthum, wo jede bedeutende Stellung lediglich von der Hofgunst abhängt, inmitten eines Adels, dessen Vorurtheile noch nicht von dem leisesten Hauch der Neuzeit angeweht sind, wäre meine Laufbahn in der That verschüttet gewesen, hätte ich Gertrud Brand mein Weib genannt. Eine Verbindung zwischen uns unter diesen Verhältnissen war eine Unmöglichkeit.“

„Nun, also –?“

„Also mußten diese Verhältnisse gelöst werden. Ich bin frei.“

„Hermann! Was hast Du gethan!“

Sein Antlitz leuchtete wieder auf, in jenem Ausdruck, den bisher nur sie noch gesehen, und unter dem die herben harten Züge so eigenthümlich mild erschienen. Trotz des Schreckens lag in ihren Worten doch ein unendliches Zugeständniß, das er bisher noch nicht vermocht hatte ihr zu entreißen: das erste „Du“ aus ihrem Munde.

„Ich habe meinen Abschied genommen. Erschrick nicht, es gilt darum noch nicht die ganze Zukunft. Ich bin nun einmal keine von den Naturen, die es vermögen, jahraus, jahrein ruhig auf ihren Gütern zu sitzen und die Welt draußen gehen zu lassen, wie es ihr gefällt, und auch Du bist nicht geschaffen für einen so eng begrenzten Lebenskreis. Schon vor Jahresfrist machte man mir Anträge, in ***sche Staatsdienste zu treten, ich lehnte damals ab, weil mir bei meinen Verbindungen und Aussichten die erste Stelle in unserem Fürstenthume gewiß schien. Unmittelbar nach Deiner Abreise wurden jene Verhandlungen wieder aufgenommen. Es galt freiwillig einige Stufen herabzusteigen, um dort, etwas mühevoller vielleicht als bisher, wieder emporzusteigen. Und ich werde emporsteigen, verlaß Dich darauf.“

Er sagte das einfach und ruhig; aber Gertrud fühlte dennoch tief, welch ein Opfer ihr der ehrgeizige Mann gebracht; ihre Brust hob sich in freudigem Stolze, sie wußte jetzt, was sie ihm werth war.

„Jetzt ist Alles geordnet,“ fuhr er nach einer augenblicklichen Pause fort. „Ich trete im nächsten Monate meine neue Stellung in B. an; ich werde aber nicht dorthin gehen, ohne mein Weib mit mir zu nehmen. Gertrud, wirst Du mir folgen?“

Sein Arm umschlang fest und leidenschaftlich das nicht mehr widerstrebende Mädchen; sie lehnte den Kopf an seine Schulter.

„Hermann, glaubst Du denn, daß wir dort –“

„In B. sind wir fremd, dort kennt Niemand das Verbrechen und die unseligen Erinnerungen, die sich daran knüpfen, und sollte auch in späteren Tagen etwas davon verlauten – in dem Wogen und Treiben der großen Hauptstadt ist keine bleibende

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 883. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_883.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2021)