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Seite:Die Gartenlaube (1870) 024.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Ecke am Fenster. Oder nein, gehen Sie nicht hin. Es drängt sich da immer ein solcher Schwarm von Menschen um ihn herum, daß man gar nicht an ihn kommen kann. So wissenschaftliches Kleinzeug, das gerne einen Kratzfuß anbringen möchte. Es ist besser, wenn Sie sich nicht darunter mischen. Wenn Sie ihm etwas Wichtiges zu sagen haben, so schreiben Sie ihm – er wird Sie dann im Laufe des Nachmittags in das Cabinet von G. Mignet in der Bibliotheque Richelieu bestellen. Da Mignet nie arbeitet, Humboldt aber viel, so tritt ihm Ersterer sein Cabinet während seines Hierseins ab. Er hat dort Bibliothek und Diener zu seiner Verfügung. Unangemeldet kommen indessen nur Akademiker hinein – sonst nur Solche, die bestellt sind.“

„Ich habe aber nur einen Gruß von Agassiz auszurichten und finde, es hieße dem Manne die Zeit stehlen, wenn ich ihn damit behelligen wollte während seiner Arbeitsstunden.“

„Sie haben Recht, wenn es auch mit der Arbeit nicht allzu genau zu nehmen ist. Denn oft sitzt das ganze Stübchen voll von Mitgliedern aller fünf Akademien, und man spricht nicht immer von Wissenschaft und Kunst. Aber das hängt sehr vom Zufall ab, und da die Herren dann meist nur von ihren Sachen und den im Schoße der Akademie vorgehenden Scandalen reden, so kommt man in eine solche Gesellschaft wie der Hund in das Kegelspiel. Ist aber Niemand da, so stören Sie ihn jedenfalls in der Arbeit. Dann bleibt Ihnen nichts übrig, als ihn Abends in irgend einem Salon zu haschen. Wo sind Sie eingeführt?“

Ich nannte einige Kreise.

„Gut – ich werde mich erkundigen. Aber ich sage Ihnen, auch da werden Sie nicht lange mit ihm sprechen können.“

„Warum nicht?“

„Weil er die Zeit nicht hat. Er speist täglich wo anders, immer bei Freunden, niemals in einem Hôtel oder einem Restaurant. Unter uns gesagt, er plaudert außerordentlich gern. Wenn er einmal den Spucknapf gefaßt hat, läßt er ihn nicht wieder los. Niemand anders kann zum Worte kommen. Da er aber geistreich, witzig und schön erzählt, so hört man ihm gern zu.“

„Sie übertreiben wohl!“

„Nein, wahrhaftig nicht – er ist boshaft wie ein Affe, und Niemand ist vor seinen Malicen sicher. Kein Franzose hat mehr Esprit als er. Darüber sind Alle einig. Da er aber ein seltener Gast hier geworden ist, so hält es schwer, mit ihm bei einem Diner zusammenzukommen. Sind Sie irgendwo für die nächste Zeit zu einem großen Essen eingeladen?“

„Nicht, daß ich wüßte.“

„Dann ist das auch Nichts. Nun, ich werde sehen. – Aber halt! Empfängt Brongniart nicht nächsten Montag?“

„Das ist sein Tag.“

„Gehen Sie hin?“

„Fast regelmäßig –“

„Nun, dann ist die Sache im Blei. Ich will wetten, Humboldt speist mit dem neuen Akademiker nächsten Montag bei Brongniart. Gehen Sie aber ja sehr früh hin, denn er bleibt nicht lange nach dem Essen. Eine halbe Stunde höchstens – dann geht er fort!“

„Wohin denn?“

„O heilige Einfalt,“ spottete mein Freund, „naive Pflanze des helvetischen Urwaldes! Wissen Sie denn noch nicht, Sie Beduine der Gletscherwüsten, daß Humboldt jeden Abend wenigstens fünf Salons besucht und in jedem dieselbe Geschichte mit Varianten erzählt? Sobald er die Dame des Hauses begrüßt und seinen Platz am Kamin eingenommen hat, entsteht ehrfurchtsvolle Stille. Die Dame des Hauses fragt unabänderlich: ‚Nun, Excellenz (oder Herr von Humboldt oder lieber Herr von Humboldt, lieber Herr oder lieber Freund! je nach dem Grade der Bekanntschaft), was bringen Sie uns Neues?‘ Und dann zieht er die Schleußen seiner Beredsamkeit auf und läßt die Wasser fließen. Hat er eine halbe Stunde lang gesprochen, so steht er auf, macht eine Verbeugung, zieht allenfalls noch Einen oder den Andern in eine Fensterbrüstung, um ihm etwas in’s Ohr zu plauschen, und huscht dann geräuschlos aus der Thür. Unten erwartet ihn sein Wagen, der ihn in einen andern Salon bringt, wo sich dieselbe Scene wiederholt, und so fort mit Grazie in infinitum! bis er nach Mitternacht nach Hause fährt. Also gehen Sie früh, wenn Sie ihn noch bei Brongniart treffen wollen!“

Ich ging sehr früh. Die Damen im Hause hatten sich kaum im Salon installiert mit einigen Getreuen und einigen Frühgästen, die offenbar in gleicher Absicht gekommen waren wie ich. Mein einziger Bekannter, der Physiker Babinet, schlief in einer Fensterecke. Das war seine Specialität. Wenn er in der Akademie sein ungeheures Cachenez abgewickelt hatte, struwwelte er sich mit beiden Händen das Haar unter einander, legte sich auf beide Ellenbogen und schlief, zuweilen mit lautem Schnarchen.

„Ich würde Ihnen gern den Inhalt dieses Briefes mittheilen,“ sagte einmal Arago, als er die Correspondenz vorlegte, „wenn nicht Herr Babinet ...“

Der Nachbar gab diesem einen Rippenstoß, der ein Rhinoceros in den Abgrund hätte schleudern können.

„Was ist?“ fuhr Babinet auf.

„Sie sind doch einverstanden?“ sagte Arago lächelnd.

„Ja wohl, ja wohl,“ sagte dieser.

Die ganze Akademie brach in homerisches Lachen aus.

Babinet schlief in einer Fensterecke. In einer geschlossenen Nebenstube hörte man eine halblaute Stimme, dann ein allgemeines Gelächter. Nach einiger Zeit ging die Thür auf und ein Strom von Naturforschern und Akademikern quoll heraus, in ihrer Mitte zwei kleine Männer mit weißen Haaren, Brongniart, einer der zierlichsten Gestalten, die man sehen konnte, lebendig wie Quecksilber bis in sein höchstes Alter, neben ihm Humboldt, von weit massiverem Typus, in gebeugter Haltung. Ehe ich Diesen und Jenen begrüßt und dem Hausherrn auf einige freundliche Worte geantwortet hatte, war Humboldt an das Kamin geglitten, nicht ohne im Vorbeigehen Babinet auf die Schulter geklopft zu haben, und der Kreis war geschlossen. Humboldt erzählte, ich weiß nicht mehr was, irgend eine Tagesgeschichte, eine Stadtneuigkeit. Der Salon füllte sich unterdessen mit Menschheit. Ich manövrirte, wenn auch mit einiger Mühe, gegen die Thür hin. Nach Beendigung seiner Erzählung machte Humboldt eine nach der Seite etwas überkippende Verbeugung. Es öffnete sich eine Gasse. Ich stellte mich ihm breit in den Weg.

„Excellenz,“ sagte ich, „ich habe Ihnen einen Gruß von Agassiz zu bringen.“

„Wie heißen Sie? Wo wohnen Sie?“

Ich gab meine Karte.

„Es soll mich sehr freuen, etwas Näheres von meinem Freunde zu hören. Ich werde Ihnen schreiben. Auf Wiedersehen!“

Damit glitt er hinaus. Im Salon wogte es wie in einem Bienenschwarm. Babinet erhob sich.

„Ist er fort?“ sagte er umschauend. „Er ist immer derselbe Farceur!“

Als ich in das Vorzimmer trat, um nach Hause zu gehen, gab mir der Diener meine Karte.

„Sie haben sie wohl verloren?“ sagte er; „ich fand sie vorhin am Boden.“

Das Kabel war abgeschnitten.




Ein deutscher Prinz in Amerika.

Nr. 1.

Europamüde und Europascheue. – Deutsche Officiere. – General Blenker. – Prinz Salm und seine Jugendgeschichte. – Die Prinzessin und ihr Portrait. – Prinzessin Salm auf der Reise.

Als ich Jahre 1861 als Specialcorrespondent der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ und der „London Times“ nach Amerika kam, setzte mich nichts so sehr in Erstaunen als die Menge von Bekannten, die ich dort antraf. Nicht nur in den großen Städten, sondern häufig in abgelegenen Gegenden ferner Staaten begegnete es mir, daß ich ganz unerwartet mit meinem Namen und einem „Ei, kennen Sie mich denn nicht mehr?“ von irgend einem Menschen angeredet wurde, der mit mir während der Revolutionszeit in Deutschland zusammengetroffen war. Die Zahl der Einwanderer, welche Amerika den Revolutionen in Europa verdankt, muß ganz außerordentlich groß sein; allein ohne allen Zweifel lieferte Deutschland den größten Theil derselben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_024.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)