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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Hände in unbeschreiblicher Aufregung gegen den flimmernden Himmel – dort, über dem Hüttenwerk funkelte der Sirius in feinem weißen Licht, der bleiche Liebling des alten Sternkundigen. Sein finsterer Blick haftete an dem Stern. „Ja, ja, da steht der alte Knabe und denkt wunder wie fest!“ lachte er ingrimmig. „Und ist doch auch nicht mehr roth, wie ihn die Alten gesehen haben! ‚Rrr, ein ander Bild!‘ heißt’s da droben eben so gut wie in der elenden, erbärmlichen Menschenseele! … Hei, fahre Du nur hin in’s Schloß! ‚Wohl bekomm’s!‘ sagt der alte Sievert – aber es müßte nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn’s Der da droben – gesegnen sollte!“ …


6.

Schloß Arnsberg lag nicht, wie die meisten alten Thüringer Schlösser, auf dem Berge. Irgend ein adeliger Nimrod des dreizehnten Jahrhunderts, dem am wohlsten unter Bären und Wölfen gewesen sein mochte, hatte inmitten der zu jenen Zeiten fast noch undurchdringlichen Thalwildniß den gewaltigen Steinhaufen aufgeschichtet. Rauh, ohne jedweden architektonischen Schmuck, stiegen damals die klafterdicken Mauern empor, nur hie und da ein schmächtiges, unsymmetrisch hingestreutes Fenster freilassend, durch das der Waldesodem und das grüngefärbte Licht des Dickichts einschlüpfen konnten. Aber es galt nicht allein, die andringenden Bestien des Waldes abzuwehren. Der Geist der Erfindung, der zu allen Zeiten gesonnen hat, wie die Frage über das Recht und Unrecht, über das Mein und Dein, über Herrschaft und Unterwerfung am blutigsten zu schlichten sei, und der in unserem waffengesegneten Jahrhundert im Zündnadelgewehr und Hinterlader gipfelt, er war auch damals zu fürchten in seinen Wurfgeschossen, seinen Steinkugeln und Bolzen, und deshalb umgürtete sich das Schloß im Thal mit hohen Ringmauern und breiten Wassergräben. Später, als die Civilisation ihren Fuß auch in diese Wildniß setzte, als die Pflugschaar den jungfräulichen Waldboden ausriß und das volle Sonnenlicht nun aus blaublühenden Flachsfeldern und wogenden Haferähren funkelte, da zogen sich die Raubthiere scheu zurück, so gut wie sich ihre bisherigen einzigen Verfolger, das alte, einer schrankenlose Jagdlust fröhnende Geschlecht, Stück um Stück des usurpirten Waldgebietes entreißen lassen mußten von den eindringenden Menschenkindern, die so anmaßend waren, auf Gottes schöner Erde auch existiren zu wollen. Und selbst über den Horst des alten Nimrod wehte der Hauch einer netten Zeit. Der Wassergraben versumpfte, die Steine, die sich allmählich von den Ringmauern losbröckelten, wurden nicht wieder eingesetzt, und die Ketten der Zugbrücke rosteten, denn es zog sie Niemand mehr auf.

Das Schloß im Walde ging durch verschiedene Hände, und jeder neue Besitzer flickte und veränderte den alte Bau im Stil seiner Zeit, bis er schließlich den romantischen Charakter der Ritterburg völlig verloren und dafür das Gepräge eines modern behäbigen, wenn auch immerhin stolzen Landedelsitzes eingetauscht hatte. Die geschwärzten Mauern, denen man unter unsäglichen Mühen lange Fensterreihen abgerungen, bedeckte ein heller, leuchtender Kalkbewurf, um deswillen Schloß Arnsberg in der Umgegend meist „das weiße Schloß“ genannt wurde. Sorgfältig gepflegter Sammetrasen, mit Blumengruppen bestickt, lag jetzt da, wo einst das fahle, trügerische Grün der Algen geschwommen, wo die modrige Ausdünstung des stagnirenden Grabenwassers das reine Waldaroma verpestet hatte, und von den ehemaligen Befestigungswerken stand nur noch hie und da ein halbeingestürzter Thurm, oder ein kohlschwarzes Mauerstück, unter dem Schatten einer uralte Rüster oder Eiche und überwuchert von Kletterpflanzen, als schmückende Ruine des Schloßgartens. Drinnen aber hatte das alte Gemäuer seine interessante, mittelalterliche Physiognomie siegreicher zu behaupten gewußt. War auch die Zeit der Renaissance, vor Allem aber der Rococostyl mit seinen vorherrschend krummen Linien ausschmückend thätig gewesen, – das Rauhe, Schlichte und Herbe des ersten Gedankens, infolge dessen das Bauwerk entstanden, hatten sie doch nicht ganz zu verwischen vermocht. Vielleicht war es dieser versteckte Zug des streng Einfachen, was auf die eigenthümlichen Neigungen der kleinen, Putz- und Prunksucht verachtenden Gisela einen unbewußten, geheimen Reiz ausübte – das Kind blieb sehr gern in Arnsberg und verlangte nicht nach der Stadt zurück, obgleich es wie eine kleine verwunschene Prinzessin droben in den einsamen, verschneiten Bergen saß, nie mehr Gelegenheit hatte, in ein anderes kindliches Antlitz zu sehen und lediglich auf den Umgang mit Frau von Herbeck und Jutta angewiesen war. Freilich kam auch, trotz der tiefverschneiten Wege, Baron Fleury fast allwöchentlich auf einen Tag nach dem weiße Schlosse, um das Kind zu sehen. Die Welt pries diese aufopfernde Zärtlichkeit und Hingabe, die Kleine selbst aber lächelte ihm nach der beschwerlichen Fahrt niemals entgegen. Und er widersprach ihr doch so selten, ja, es schien fast, als erfülle er ihre unvernünftigsten Wünsche am liebsten. Er brachte kostbare Spielereien und Toilettengegenstände mit; freilich confiscirte er dafür einen Theil der leidenschaftlich geliebten deutschen Lese- und Märchenbücher mit dem Bemerken, die Gräfin Sturm dürfe beileibe kein Bücherwurm werden. Auf die Mittheilung der Gouvernante hin verbot er sofort jedweden Verkehr mit dem Neuenfelder Pfarrhause; er hielt ferner unerbittlich streng darauf, daß das Kind nie auch nur einen Augenblick ohne standesgemäße Begleitung sei, und doch wäre es so unbeschreiblich gern einmal allein durch die entlegeneren Gänge des Schlosses, vor Allem aber nach dem niebenutzten alten Saal gelaufen, der direct an die Schloßkirche stieß – seine Wände waren bedeckt mit vortrefflichen, uralten Frescogemälden aus der biblischen Geschichte – „gräuliches Zeug, das sie nicht sehe könne, ohne Nachts schreckhaft davon zu träumen“ – meinte Frau von Herbeck stets sich schüttelnd, indem sie ihre Begleitung dahin consequent verweigerte. … Was aber den inneren Widerspruch der kleinen Gräfin am meisten herausforderte, das waren die ihr von dem Papa und der Gouvernante octroyirten Clavierstunden bei Fräulein von Zweiflingen.

Während ihres ganzen jungen Lebens war Jutta nur einem einzigen Menschen begegnet, der ihrem unwiderstehlichen Liebreiz zu allen Zeiten einen unbestechlichen Ernst entgegengehalten hatten – es war der alte Sievert; jetzt aber, im engeren Verkehr mit Gisela machte sie die Erfahrung zum zweiten Mal. Es war interessant zu sehen, wie dies häßliche, schwächliche Geschöpfchen der strahlend schönen jungen Dame im fortgesetzten, stillschweigenden Kampfe gegenüber stand. Der von Jutta’s Seite fast leidenschaftlich gezeigte Wunsch, die Zuneigung der kleinen Hochgeborenen zu gewinnen, scheiterte consequent an dem kalten, ungerührten Blick der klaren, rehbraunen Augen, und ließ sich das junge Mädchen ja einmal hinreißen, die zarte Hand liebkosend auf den Scheitel des Kindes zu legen, da wich der kleine Kopf entrüstet zurück und schüttelte das farblose Haar so energisch, als könne damit jede Spur der ungebetenen Berührung abgeworfen werden.

Frau von Herbeck ignorirte diese „Eigentümlichkeit“ des „Engelchens“ in ihrer lächelnden, das Unvermeidliche glatt übergehenden Weise, insgeheim aber versicherte sie Jutta, das sei der unausstehliche gräflich Völdern’sche „Dickkopf“, den leider auch die hochselige Großmama besessen und der sie innerlich manchmal bis zur Wuth bringe.

Jutta bewohnte zwei hübsch meublirte Räume am Ende der langen Zimmerreihe, welche die kleine Gräfin und ihre Gouvernante inne hatten. Wie eine Pflanze, die urplötzlich in’s rechte Licht versetzt wird, entfaltete sich die ganze Individualität der letzten stolzen Zweiflingen in der hocharistokratischen Atmosphäre des gräflichen Hauses. Der mit Silbergeschirr beladene Mittagstisch, die auf jede Wink herbeieilende Lakaien, die Ausfahrten auf den seidendamastenen Polstern des eleganten Wagens, das waren Dinge, die sie bisher hatte entbehren müssen und die sich doch ganz von selbst verstanden für den Abkömmling hochgebietender Vorfahren. Das Waldhaus lag drüben festverschlossen, wie begraben unter den eisstarren Wipfeln; hinter seinen Riegeln, im dumpfen, feuchten Thurmzimmer moderte das zurückgelassene alte, braune Wollenkleid und mit ihm alle unerquicklichen Reminiscenzen der letzten Jahre; die junge Dame wies sie zurück wie unverschämte Bettler, wenn sie sich ihr ja einmal im Contrast mit der Gegenwart aufdrängen wollten. Ebenso rasch war sie mit der Zurechtlegung des ihr ziemlich rätselhaft gebliebenen Auftrittes zwischen dem Minister und ihrer Mutter fertig geworden. Sie hatte ja schon an jenem Abend zur Seite des so leidenschaftlich angegriffenen Mannes gestanden und gelangte auch nachträglich sehr leicht zu der Ueberzeugung, daß ihre Mutter, fast bis zum Wahnwitz gereizt infolge ihrer furchtbaren körperliche Leiden und verblendet durch böswillige Einflüsterungen Anderer, dem Minister schweres Unrecht gethan habe.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_098.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)