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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Wie nun aber Stunde um Stunde verrann, ohne ihn zu ihr zu führen, schmolz all das leidenschaftliche Zürnen in Schmerz und Angst dahin. Todtmüde setzte sie sich endlich an’s Fenster, ihr Warten wurde schwere Bangigkeit, sie begann der Stunde der Erklärung entgegenzuleben, wie einem Urtheilsspruch. Sollte sie den Geliebten durch irgend ein Wort, eine Miene verletzt haben?

Grübelnd sann sie über ihr letztes Zusammensein mit ihm nach – jeder seiner Blicke, jeder Laut ging an ihrer Seele vorüber. Er war nicht anders gewesen, als sonst, wenigstens nicht anders, als während der letzten Wochen – aber gerade diese ganze letzte Zeit lastete ja wie ein Alp auf ihrer Seele. All die geheime Sorge stieg gespenstergleich aus der Tiefe ihres Herzens auf, in die sie stets zurückgedrängt worden war; was sind die Sorgen der Liebe denn auch Anderes, als Vorgefühle ihrer Schmerzen!

Oft und öfter war Otto in diesen letzten Wochen tagelang ausgeblieben, sein Blick war manchmal so trübe, er hatte so oft zu Boden gesehen, statt in ihr Auge. – Plötzlich fuhr sie heftig zusammen, jeder Blutstropfen wich zurück bis zu ihrem Herzen und ließ es stocken. Schaumberg war aus der Thür gegenüber getreten. Er sah zu ihrem Fenster auf, grüßte ruhig und kam herüber.

Als er vor der jungen Frau stand, schwiegen Beide einige Augenblicke. Jedes suchte und fand in den blassen, erregten Zügen des Andern den Widerschein der eigenen Empfindung.

„Sie haben vielleicht schon erfahren, gnädige Frau,“ sagte Schaumberg endlich, „daß ich heute komme, um Ihnen Lebewohl zu sagen?“

Helene bejahte durch ein Zeichen, ohne ihn anzublicken.

„Vielleicht haben Sie es seltsam, vielmehr unartig gefunden, daß ich Ihnen nicht vorher über diesen Wechsel meines Geschickes Mittheilung machte. Es kam rasch, unerwartet – die Entscheidung drängte – meine Zeit war in den letzten Tagen bis zur Athemlosigkeit in Anspruch genommen –“

„Mangel an Zeit also“ – sagte Helene, und ihre Lippen zuckten.

„Mangel an Muth vielmehr,“ sprach der junge Mann mit gepreßtem Ton. „Der Antrag eines größeren Wirkungskreises entsprach meiner Lebensaufgabe, meinem Bedürfniß. Ich fühle mich nur dann wohl, wenn ich angestrengt arbeite, und – nur arbeite. Dennoch ist der Entschluß mir nicht leicht geworden, ich wollte, ich müßte allein damit fertig werden.“

„Ich würde ihn nicht erschüttert haben,“ sagte Helene, indem sie ihn mit stolzem, leuchtendem Blicke fest ansah.

„Das weiß ich, gnädige Frau. Mir aber würde vielleicht die Kraft versagt haben, ihn auszuführen, wenn – – Ich komme, Ihnen Lebewohl zu sagen, Ihnen zu danken für all Ihre Güte, Sie um ein freundliches Andenken zu bitten!“

Er hatte Helenens Hand ergriffen; eiskalt lag sie in der seinen. „Wann reisen Sie ab?“ fragte die junge Frau tonlos.

„Morgen früh.“

Kein weiteres Wort fiel mehr zwischen Beiden. Die Regung von Stolz, die Helene einen Augenblick Kraft verliehen hatte, war dahin. Angstvoll zu Otto aufblickend, legte sie unwillkürlich noch ihre zweite Hand auf die seinige, und er erblaßte unter ihrem Blick bis in die Lippen hinein. Welche Sprache vermöchte die Beredsamkeit eines menschlichen Gesichtes zu erreichen, aus dem ein gequälter Geist anklagend zu einer Seele spricht, welche begreift!

Einige Augenblicke vergingen, in denen Keines von Beiden eine Bewegung machte, dann hob Schaumberg plötzlich die kleine, kalte Hand an seine Lippen, und hatte einen Moment nachher das Zimmer verlassen.

Helene stand regungslos, und blickte ihre Hand an. Ein Tropfen schimmerte darauf – war er aus ihrem – war er aus seinem Auge gefallen?

Zusammensinkend drückte sie die strömenden Augen in’s Kissen des Sopha’s, neben dem der Geliebte so oft gesessen, und dachte schauernd an Leben und Zukunft.

Noch war Helene jung genug, um an die ewige Dauer ihrer Schmerzen zu glauben.




Zweite Abtheilung.
Elisabeth.
1.

An der Pforte des Fichtelgebirges liegt ein altes Städtchen, das sich seit einigen Jahren zum Curort aufgeschwungen hat. Neben seinen stärkenden Fichtennadelbädern, seiner gut organisirten Molkenanstalt, bietet es den Curgästen noch den Vorzug der ungezwungensten Lebensweise und pittoresker Naturschönheiten.

Sagenhaft und sagenreich ist das Fichtelgebirge, allerwärts ein Hort von Märchen und Geschichten, und noch heute scheinen die kleinen Unterirdischen, von denen jedes Kind des Landes zu erzählen weiß, dort zu hausen. Ringsum sind ihre Schätze geheimnißvoll ausgestreut. Im Grunde des Baches schlummert die echte Perle, im Grunde der Berge Gold und Erz; je höher der Fuß sich hinaufwagt, desto häufiger begegnet dem Auge der funkelnde Glimmerstein, der im Sonnenlichte blitzt, wie eine Neckerei der Gnomen, die ihre Schätze wohl zeigen, aber nicht hergeben mögen. Sieben hohe, eng zusammengeschobene Berge, theils in nackten, grotesk aufsteigenden Felsmassen, theils dicht bewaldet, aber überall scharfkantig, schließen sich um das tief in enger Thalschlucht gelegene Städtchen, das nur nach Süden hin einen ebenen Ausgang hat, den gleichfalls sieben rasche Gebirgswasser sich nach dieser Seite erzwangen. Wer von dorther durch die schöne nach Baireuth führende Allee sich Berneck nähert, muß von dessen Anblick überrascht werden; langsam aufsteigend, die hochgelegene Kirche als Mittelpunkt von drei Burgruinen terrassenförmig überragt, erscheint der Ort wie eine lebendige Illustration des oft mißbrauchten Wortes: romantisch. Gleich freundlichen Augen blicken die hellen Fensterscheiben der reinlichen Häuser, welche, an hinabdrohende Felsmassen angelehnt, von ihnen oft thurmhoch überragt, gar originelle Straßen bilden. Der durchsichtig klare Perlenbach, die Oelsnitz, von einer freiliegenden Brücke luftig überwölbt, durchrauscht eilfertig das Städtchen; nur einzelne Gasthöfe und Amtswohnungen machen einen gewissen Anspruch auf Stattlichkeit, sonst trägt es einen durchaus ländlichen Charakter. Auch die neuen Anlagen, die zu Curzwecken entstanden, sind der natürlichen Scenerie mit Verständniß angepaßt, und nichts stört die Gäste, die sich meist aus Norddeutschland hierher wenden, im Genuß der ländlichen Freiheit. Wer einmal in Berneck war, kehrt gern wieder, und von Jahr zu Jahr bringt eine größere Zahl von Sommergästen Leben und Bewegung in dies abgelegene Stückchen Welt.

Anders sieht es dort freilich im Winter aus. Da sind die Bewohner dieser engen Bergschlucht wie losgetrennt vom Verkehr mit der Welt draußen, oft genug werden die Straßen unfahrbar, und der festgetretene, fußhohe Schnee schmilzt nicht eher, bis „der Frühling kommt und von den Bergen schaut“.

Auch jetzt lag, obgleich erst Weihnachten vor der Thür war, eine weite, flimmernde Schneedecke über Stadt und Land ausgebreitet, und die Bernecker hatten sich in den Bann ergeben müssen, den der Winter um sie legte. Vielleicht war keinem unter ihnen diese Isolirung so wenig störend, als Schaumberg. Er lebte nun bereits vier Monate an seinem gegenwärtigen Berufsorte und wünschte sich immer von Neuem Glück, eine Stellung eingenommen zu haben, die seiner Neigung so ganz gemäß war. Sein Wirkungskreis umfaßte eine ziemlich bedeutende Landstrecke und war, besonders in dieser Jahreszeit, nicht wenig anstrengend, doch fühlte er sich ganz an seinem Platze. Zum ersten Mal war es ihm vergönnt, in völlig unabhängiger Berufsthätigkeit zu wirken.

Namentlich in den ersten Monaten empfand der junge Mann den Segen unablässiger Thätigkeit als eine große Wohlthat. Durch den Abschied, die Trennung von Helene, war sein Gefühl für sie so gesteigert worden, daß der kaum überwundene Widerspruch zwischen Neigung und Ueberzeugung von Neuem, und diesmal leidenschaftlicher als je, in ihm hervorbrach. Wie aber solcher Widerstreit der unleugbaren Doppelnatur im Menschen nicht unlösbar ist, erfahren wir jedesmal, wenn wir wirklich arbeiten müssen. Da ordnet sich Alles dem Beruf unter, alle Fähigkeiten fügen sich der Einen, die zur That wird. Wenn auch oft in den Stunden der Rast jener schöne blonde Kopf lebendig vor ihm erschien, wenn der letzte, schwere Blick ihn verfolgte, die geliebte Stimme hineintönte bis in seine Träume, so fühlte er doch, daß es möglich sei, sie zu entbehren. Er vergaß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 739. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_739.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)