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glaube, Du zittert,“ und führte ihn an den alten Divan unter der Mutter Bild. „Ruhe Dich aus!“ Wilhelm setzte sich still. Bruder! Bruder!“ rief Karl endlich mit dem hervorbrechenden Ton der bittersten Verzweifelung, „wie soll das enden? Was soll aus uns werden, wenn wir so auseinandergehen? Wenn ich – wenn ich unser Aller Leben zerstört habe? – Wilhelm, Wilhelm, – ich kann nicht ohne Dich leben! Und nun soll ich von dannen gehen wie ein Missethäter, um mir ewig zu sagen, daß ich dem theuersten, geliebtesten Menschen das Herz gebrochen! Und ich soll Dich verlassen – Dich verlassen! Wilhelm, ich kann’s nicht!“

Er hatte die beiden Hände seines Bruders ergriffen; mit einem Blick voll trostloser, unendlicher Liebe sah er ihn an, und ohne Thränen in den Augen fing er an wie ein Kind zu schluchzen. Wilhelm sprang auf und stürzte ihm an die Brust. „Karl, liebst Du mich noch?“ rief er außer sich; „liebst Du mich wirklich? O mein Bruder, mein Bruder!“ Er umschlang ihn, als dürft’ er ihn nie wieder aus den Armen lassen, er küßte ihn auf die Wangen, auf die Lippen, er streichelte ihn, vor Glückseligkeit seufzend, und umschlang ihn von Neuem. „O Karl, Karl, was denkst Du! Du ein Missethäter? Du hättest die Schuld? Während ich Dir Dein Glück gestohlen habe – Dir und ihr und nie, nie mehr ruhig werden kann! Und doch liebst Du mich noch!“ Er sah ihm mit nassen, aber strahlenden Augen so nah in’s Gesicht, daß sie sich fast berührten, küßte ihn wieder und gab ihm die liebkosendsten Namen. „Ich weiß Alles, Karl“ flüsterte er an ihn hin. „Ja, ich habe gehorcht. Es ließ mir erbärmlichem Menschen keine Ruhe. Ich weiß, daß Tante Merling – O Karl, dieses Weib! Und in ihre Hände hatt’ ich meine Sache gegeben! Und als Du nun die alten Lieder spieltest, – da hielt ich es nicht mehr aus. Ich meinte, Du müßtest mich hassen – ich wollte Dich nicht wieder sehen ich dachte mir: wenn Du nur todt wärst und sie Beide weinten über Deiner Leiche und könnten sich dann befreit in die Arme sinken und Dich begraben, vergessen! – Aber sei ruhig, Karl; daran denk’ ich nicht mehr! Du hast mich noch lieb, und nichts, nichts ist verloren! Wenn Du mir nur vergiebst – In diesem Zimmer hier, weißt Du noch? haben wir uns als Knaben ewige Liebe geschworen; hier sind wir groß geworden, Karl – und haben Altes getheilt – und uns nie getrennt, als dieses eine Mal nach der unseligen Hochzeit – und Du hast Recht, wir können uns nicht verlassen.“

„O Bruder,“ sagte Karl mit dumpfer Stimme, „was sollen wir thun?“

„Ich will es Dir sagen, Karl,“ erwiderte Wilhelm und legte ihm die Hand auf die Schulter, „mir ist ganz klar, was wir thun sollen! Weißt Du noch, wie wir damals bei der alten Merling das Gespräch über die Ehe hatten und was Du Alles gesagt hast? und wie Du den Fall erzähltest von dem unglücklichen Menschen, der ein Mädchen heirathete, das einen Andern liebte? Da fragtest Du noch Annette, was sie in solchem Fall für das Rechte hielte und ob es besser wäre, drei Menschenherzen durch die Regel zu brechen, als durch die Ausnahme zu retten? Weißt Du das noch? Und wie drauf Annette antwortete, daß der Mensch dazu da sei, alle Schickungen Gottes mit Ergebung zu tragen? Aber was heißt das, Karl? Sagt man das nicht so oft, nur um sich vor einem neuen, schweren Entschluß zu retten? Und, wie Du ihr damals mit Recht zur Antwort gabst: ,Wenn wir eine Thorheit begangen haben, muß denn das immer Gottes Wille sein?’ O Karl, wie ein rechter Knabe bin ich in dieses Unglück hineingerannt; ich hatte keinen, keinen Begriff davon, was es heißt, einen Bund für’s ganze Leben zu schließen! Aber Gott sei Dank, noch ist ja nicht Alles verspielt; noch kann ich ein Mann werden, und noch kann ich es gut machen!“

Er sagte das, während ihm die Lippen vor Bewegung bebten, ließ, mit einem Blick voll der innigsten Liebe, Karl’s Schulter los und trat einen Schritt zurück. „Was wolltest Du thun?“ fragte Karl ihn gerührt und folgte ihm mit den Augen. Wilhelm trat an den Schreibtisch. „Du bist so viel klüger als ich,“ antwortete er in Thränen lächelnd, „aber das siehst Du nicht ein!“ Und indem er sich in seiner hastigen Weise setzte und nach der Feder griff: „Lieber Karl, willst Du nicht so gut sein und mir das Blatt Papier da herüberreichen?“

„Was soll das?“ stammelte Karl und gab es ihm hin.

„Laß mich, laß mich nur!“ erwiderte Wilhelm und begann schon in seiner gleichmäßigen, großen Handschrift zu schreiben. „Ich bin nicht eher ruhig, als bis es gethan ist! War ich damals so rasch, warum soll ich heute nicht noch rascher sein!“

„Allmächtiger Gott!“ rief Karl aus und trat an ihn heran, „errathe ich, was Du willst? Wilhelm, bist Du von Sinnen?“ Und er beugte sich über das Blatt und las den Anfang, und nahm dem Bruder die Feder aus der Hand. „Du bist außer Dir!“ sagte er. „Du willst Dich wieder übereilen wie damals; Du willst ebenso unbedacht lösen, wie Du geknüpft hast.“

Wilhelm stand auf und schüttelte den Kopf. „O nein, glaube das nicht. Ich bitte Dich“ und er ergriff seine Hand – „beirre mich nicht; rede mir nicht ein! Ich weiß, daß ich das nicht für Annette fühle, was Du für sie fühlst. Ich kann ohne sie leben – Du nicht. Dein Herz – Dein Herz, Karl, ist viel größer als meines; in meinem flackert es mehr – Deins verzehrt sich. Ich hab’s ja vorhin da drunten angehört, wie Du fühlst, wie Du bist. Sage kein Wort mehr! Ich liebe keinen Menschen auf der Welt so sehr, wie Dich, und ich will Alles verlieren, wenn ich Dich behalte.“

Karl erwiderte nichts, er warf sich dem Bruder an die Brust und hielt ihn lange umschlungen. Ihre überfüllten Herzen schlugen in der heftigsten Bewegung gegen einander. „Geh’ nun, laß mich allein!“ stieß Wilhelm endlich hervor. „Geh’ heim lege Dich schlafen! Und wenn Du nicht willst, daß ich wieder zu jener – Pistole greifen soll, so widersprich mir nicht mehr, so laß mich thun, was ich Dir schuldig bin, was ich mit Seligkeit thue, um Dir und ihr und mir das Leben zu retten.“

„O Bruder!“ stammelte Karl, küßte ihn auf den Mund und wankte zur Thür. Wilhelm geleitete ihn, einen Arm um seinen Leib geschlungen, und führte ihn hinaus’. Dann trennten sie sich mit herzlichem Gutenacht. Eine Weile hörte Wilhelm noch die verhallenden Schritte; als es endlich ganz stille war, kehrte er in sein Gemach zurück, mit zufriedenem Antlitz, mit einem unbeschreiblichen Feuer in den Augen, und setzte sich wieder auf seinen Platz und schrieb. Die Wanduhr hinter ihm schlug Mitternacht, als er die letzte Zeile vollendet hatte und sich erhob. Er ging eine Weile ruhelos im Zimmer umher; endlich trieb es ihn hinaus, er öffnete die Seitenthür, die in die anstoßenden Gemächer führte, er schritt durch das erste hindurch und stand im zweiten, in seinem und Annettens Schlafgemach, vor dem Bett seiner Frau.

Annettens Licht brannte noch; sie lag in dein großen Himmelbett, bei offener Gardine, den Kopf auf den Arm gestützt, und starrte ihm mit wachen Augen entgegen. „Du schläfst noch nicht?“ sagte er sanft und setzte sich neben sie auf das weiße Linnen. Sie schüttelte bang den Kopf. „Annette!“ fuhr er fort, „willst Du mir verzeihen, daß ich Dich unglücklich gemacht habe? So wahr ich lebe, Annette, ich habe es nicht gewollt. Sieh’ mich nicht so verwundert an; ich weiß, wie es steht. Ihr liebt Euch, Gott hat Euch für einander geschaffen; willst Du mir nun die Liebe thun, Annette, und mir mein Wort wieder zurückgeben? Ich muß Dir bekennen,“ und er blickte mit wehmüthig scherzenden Augen in die ihren – „ich habe nicht mehr Herz genug für Dich, um Dein Gatte zu sein; nur noch Herz genug für einen Bruder, und der könnte ich Dir ja werden. Es hat sich diesmal Alles so seltsam gefügt, Annette; Du glaubtest, Karl habe Brudergefühle für Dich, ich glaubte, ich müßte Dich um jeden Preis zur Frau haben – und umgekehrt wäre Alles in Ordnung gewesen! Ich bitte, unterbrich mich nicht; laß mich ausreden, schweige noch ein wenig. Da drinnen in meinem Zimmer, Annette, liegt meine Bitte an den Landesherrn und Landesbischof um Dispens, um Lösung unserer Ehe. Wir haben zwar keinen andern Grund, uns zu trennen, als daß wir Drei uns zu lieb haben, um uns zu Grunde zu richten, und die Welt erkennt ja eigentlich dergleichen Gründe nicht an, aber ich glaube, Annette, sie werden da oben in der Residenz gnädig gegen uns sein! Wenn Du mir einwilligst, – ich habe schon Mittel, unsere Sache zu betreiben. Ich fahre dann selber hin, mein Papier in der Tasche, um mit Allem, was helfen kann, für uns zu wirken. Und wenn sie dann endlich in ihrer Weisheit begreifen, daß es gut ist, uns von einander zu trennen und wenn Du dann frei bist, meine arme Annette, die Du so geduldig und so unaussprechlich viel gelitten hast – und wenn Ihr mir dann auch das Letzte noch zu Liebe thut, was ich von Euch verlange, und meine unglückselige Thorheit wieder gut macht

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 563. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_563.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)