Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1868) 115.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Bleich, zitternd, keines Wortes mächtig, sah sie ihn an – und doch war es wieder, als drängen ihre Blicke weit über ihn hinaus und starrten in einen Abgrund von Elend und Verzweiflung. „Das war’s – das war’s – das tödtet mich!“ stammelte sie endlich.

Er faßte ihre Hand und sagte mit milderem Ton: „Rosalie, Ihr und Alfred’s Herz sind mir theurer als mein eigenes und ich erliege fast selbst der Qual, die ich Ihnen bereiten muß, aber so wahr ein Gott im Himmel lebt, ich konnte nicht anders! Sie stehen an einem Abgrund – ich muß Sie retten! An Alfred habe ich mich vergebens gewandt, darum rede ich jetzt zu Ihnen. Ihr Herz ist größer als das seinige – Sie werden mich fassen und mit starker Hand sich selbst und den Geliebten vor dem Verderben schützen!“

„Ja, ich fasse und verstehe Alles!“ murmelte sie, indem sie mit der Hand nach dem Herzen fuhr.

„Rosalie, ich kenne ein edles Mädchen, das ein Recht hat auf Alfred’s Liebe und dessen Herz fast gebrochen ist durch seine Leidenschaft für Sie. Geben Sie die Unglückliche dem Leben, Alfred seiner Ehre wieder!“

Eine Weile kämpfte sie einen furchtbaren Kampf.

„Glauben Sie,“ fragte sie dann, „daß Alfred neben ihr glücklich sein könnte?“

„Ja, Rosalie, es ist meine heilige Ueberzeugung!“

Sie preßte die Hände vor’s Gesicht und athmete schwer; endlich trat sie auf ihn zu und ergriff seine Hand. „Sie haben nicht umsonst gesprochen, Hermann!“ sagte sie.

„Ich wußte es!“ sagte er erschüttert. Dann schwiegen Beide.

„Das Leben behält Ihnen noch eine große Aufgabe vor, an der Ihre starke Seele sich ausrichten wird,“ begann er endlich tröstend.

Nicht ihr Mund, nur ihre Augen vermochten zu fragen.

„Die Rückkehr zu Ihrem Gatten, die Versöhnung mit ihm!“

Sie wendete sich mit Heftigkeit ab. „Nicht das – nicht das! in dieser Stunde nicht das! Gönnen Sie meiner Seele Frieden, daß sie beschließen kann, wie Alles werden soll, mir selbst Einsamkeit!“

Er drückte ihr noch einmal in tiefer Bewegung die Hände und wandte sich dann zum Gehen. Als er schon die Thür erreicht hatte, eilte sie ihm nach, erfaßte seine Hand und sank an ihm nieder.

„O Hermann, Hermann!“ schluchzte sie, „wenn ich doch in Ihrer Hut, in dem stillen Frieden von Lossau geblieben wäre! Mitten in dem Strom der Welt und dein Taumel der Leidenschaft habe ich oft daran gedacht, wie an ein verlornes Paradies. Mein Leben war meine Strafe, daß ich es verlassen hatte! Hermann, haben Sie mir Alles vergeben, was ich Ihnen gethan habe?“

Er war keines Wortes, keiner Erwiderung fähig, aber er legte die Hand auf ihr schönes Haupt, und sie fühlte, daß er sie segnete. – Als sie allein war, kam es wie eine ungeheure Erschöpfung über sie, aus der sie zuerst der Eintritt eines Dieners weckte, welcher ihr einen Brief brachte. Er war von ihrem Gatten. Nachdem sie ihn gelesen hatte, zuckte ein bitteres Lächeln um ihre Lippen und sie murmelte: „Ist es doch fast, als ob das Schicksal selbst Hermann das Wort reden wollte und seinen Vorschlag unterstützte!“

Dann legte sie das Schreiben bei Seite.

Nach einer Stunde etwa erschien Alfred. Mit heftiger Ungeduld eilte er auf die Geliebte zu und schloß sie leidenschaftlich in seine Arme. Sie widerstrebte nicht, aber sie erwiderte auch nicht seine Liebkosungen, sie sah ihm nur mit unsäglicher Zärtlichkeit in die Augen. Dennoch kam ihm ihr ganzes Wesen verändert vor.

„Ist Hermann hier gewesen?“ fragte er unruhig.

„Ja, Alfred!“

Seine Stirn runzelte sich: „Er war gestern während meiner Abwesenheit angelangt; – ich konnte ihn nicht zurückhalten! Sein strenger Sinn vermag unsere Liebe nicht zu begreifen, aber auch nicht zu erschüttern, nicht wahr, Rosalie?“

„Nein, er hat sie nicht erschüttert!“ sagte sie.

„Aber er hat Dich mit Warnungen, mit Vorstellungen gequält?“ fuhr er besorgt fort, „unmögliche Forderungen an Dich gestellt?“

„Er verlangte, ich solle zu meinem Gatten zurückkehren, Versöhnung mit ihm suchen.“

Alfred stieß einen Laut der Entrüstung aus.

„Und hier,“ fuhr sie fort, „hier ist ein Brief von meinem Gatten selbst, der das Nämliche von mir fordert. Seine Familie, er selbst wünscht, daß dem Eclat unserer Trennung ein Ende gemacht werden möge, und verspricht alles Mögliche, wenn auch ich das Vergangene vergessen wolle.“

„Und Du, Rosalie, und Du?“

Sie trat zu dem Tische, worauf der Brief lag, nahm ihn in die Hand und zerriß ihn.

„Das ist meine Antwort!“ sprach sie.

Entzückt schloß er sie in seine Arme. „Ich wußte es, Rosalie, daß Du mir jetzt angehörst bis in den Tod!“ rief er.

„Bis in den Tod!“ wiederholte sie, indem sie ihn leidenschaftlich umfing.

Mit dem ganzen Feuer ihrer Natur gab sie sich nun noch einmal dem Beisammensein mit dem Geliebten hin. Alles schien vergessen zu sein, was sie kaum noch bedrängt und beängstigt hatte, und sie riß auch Alfred zu einer gleichen Trunkenheit hin: er wußte nicht mehr, ob er Stunden in Minuten, oder Minuten in Stunden gelebt hatte.

Endlich aber sagte Rosalie plötzlich: „Nun laß uns Abschied nehmen, Alfred! Du mußt zur Stadt zurück und ich – muß allein sein!“

Wie er auch bat, sie drängte ihn zum Gehen, und er sah sich gezwungen, sie zu verlassen; doch wie gestern tröstete er sich mit dem Abschiedswort: „Bis morgen nur!“

Das Wort wiederholte sie heute nicht, doch wie gestern stand sie und sah ihm lange nach, als er auf dem Wege dahinschritt; und als er ihren Blicken entschwand, sprach sie mit ihrer tiefen und doch so wunderbar weich klingenden Stimme:

„Adios Alfredo!“ – Dann ging sie in ihr Zimmer zurück und sagte ihrem Diener, daß sie für den Rest des Abends ungestört bleiben wollte.

In später Stunde schellte sie ihm noch einmal und übergab ihm ein Billet, das in der Frühe des nächsten Morgens zur Stadt gebracht werden sollte; es war an Hermann von Lossau gerichtet. Darauf legte sie sich zur Ruhe.

Zu der von ihr bestimmten Stunde empfing Hermann am folgenden Tage den Brief. Er enthielt nur die Zeilen:

„Hermann, ich halte mein Versprechen – aber ich sterbe daran! Gott mag mir vergeben: ich kann nicht anders! Ich fühle es wie meine arme Mutter, daß ohne Liebe kein Leben mehr ist. Mein Tod macht Alfred frei; – auf Ihre Seele lege ich die Verantwortung für sein Glück. Mein letztes Gebet wird ein Segenswunsch für Sie sein. Rosalie.“

Als Hermann die Worte überflogen hatte, überfiel ihn ein namenloser Schrecken und eine tödtliche Angst trieb ihn nach der Villa, die er in der kürzesten Zeit erreichte.

Schon beim Ueberschreiten der Schwelle bemerkte er das erschrockene Hin- und Hereilen der Diener, begegnete überall verstörten Gesichtern und kaum vermochte er die Frage nach der Herrin des Hauses hervorzubringen, kaum zu begreifen, was ihm erst allmählich aus den verworrenen Antworten klar wurde. - Man hatte heute früh die Baronin auf ihrem Lager todt gefunden, wahrscheinlich war sie an einem Herzkrampf gestorben, woran sie in letzter Zeit häufig gelitten habe. Die weinende Gesellschafterin fügte hinzu, daß man neben ihrem Bette ein leeres Opiumfläschchen gefunden habe, was darauf deute, daß sie in der Nacht von jenem Leiden befallen, worden sei und das gewöhnlich gebrauchte Mittel selbst angewandt habe.

Hermann mußte sich an die Mauer lehnen, um nicht umzusinken. Dann forderte er, sie zu sehen, und man ließ ihn in das Gemach treten, wo sie auf ihrem Bett lag, bleich, ruhig und wunderbar schön. Kein Zug des Schmerzes, des Kummers entstellte das Gesicht, welches von einem fast glücklichen Lächeln verklärt war. Seine ganze Festigkeit und Mannheit brach zusammen vor diesem Anblick, und mit einem Aufschrei unendlichen Jammers sank er an dem Lager nieder. Dort lag er lange in heißem Gebet und in Thränen; dann stand er auf, deckte leise ein Tuch über das Gesicht der Todten und ging hinaus zu den Dienern, denen er sagte, daß er ein Freund der Verstorbenen sei und als solcher für alles Nöthige sorgen, alle traurigen Pflichten übernehmen würde. Auch dem Arzt, nach dem man in der ersten Verwirrung, als man sich noch nicht von ihrem Tode überzeugen mochte, geschickt hatte, ging er entgegen und sagte ihm, daß seine Hülfe zu spät sei.

Alfred war außer sich, als er die Nachricht erfuhr, die Hermann selbst ihm brachte, indem er dabei der Auslegung der Dienerschaft folgte; seine Verzweiflung grenzenlos.

„O, wer jetzt sterben könnte, sterben wie sie!“ rief er aus; „der Tod ist eine Wollust!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_115.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)