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Seite:Die Gartenlaube (1867) 660.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

ist, – ich will das bissel Zeit, das mir noch geschenkt ist, benutzen und will gut machen, was ein Anderes verbrochen hat! Bleib’ bei mir, Du armes Würm’l’ – ich will für Dich sorgen, anstatt Deiner ehrvergessenen gottlosen Mutter …“

„Das ist schön und brav von der Bäuerin,“ sagte die Magd, indem sie sich die Augen wischte, „aber vielleicht thut sie der Mutter doch auch zu viel! Wer weiß, in was für einer Noth und Schand’ sie vielleicht ist und ihr das Herz blut’t, daß sie ihr Kind muß von sich lassen …“

„Still sei!“ rief die Alte heftig, „davon will ich nichts hören … ich will das Kind behalten, ich will dafür sorgen, daß es ordentlich und brav werden kann und dem Oedhof einmal Ehr’ macht, aber von der Mutter will ich nichts hören und seh’n … die soll sich nit blicken lassen vor mir … und wenn ihre Noth so groß wär’, daß sie bis an den Himmel langt, und ihre Schand’ so tief wie die Höll’, sie müßt’ aushalten und müßt sie ertragen, aber ihr Kind darf sie nit von sich geben und eher muß sie ihr Herz zehn Mal verbluten lassen und brechen …“

Niemand wagte und fand eine Erwiderung.

„Und jetzt,“ fuhr sie nach einer Weile fort, „jetzt geht und legt Euch nieder – es ist lang Schlafens-Zeit! Komm’ Du auch, Susi … das Kind kann da liegen bleiben, da geschieht ihm nichts und wenn es sich rührt, hören wir’s wohl hinein in die Kammer … kannst die Ampel brennen lassen, daß man gleich Licht hat, wenn man’s braucht. … Und Du, Hies,“ rief sie, an der Schlafkammer sich umwendend, noch einmal zurück, „Du hast jetzt gleich ein Geschäft für morgen … der Andrä soll den Samen-Haber putzen, Du aber gehst in aller Fruh zum Herrn Pfarrer und hinein auf’s Gericht und erzählst, was geschehen ist … und so gute Nacht!“

Die Dienstboten gingen schweigend; die Bäuerin, von Susi geleitet, verschwand in der dunklen Seitenkammer und bald verrieth die völlige Stille, daß der Schlaf seine besänftigenden Schwingen über dem Hause und seinen Bewohnern ausgebreitet hatte. Düsterer brannte die Lampe; da huschte geisterhaft, wie die Alte es bezeichnet hatte, Susi im Nachtgewande aus der Kammer hervor: auf ihre Augen allein war die Ruhe nicht herabgestiegen. Sie wankte dem Tische zu; in der Nähe desselben sank sie in die Kniee, breitete die Arme gen Himmel aus und flüsterte ein heißes, nur ihm verständliches Gebet des Danks; dann trat sie zu dem Kinde, beugte das Angesicht darauf und überdeckte es mit glühenden Küssen. –

Es war nur natürlich, daß die Kunde von dem, was auf dem Oedhofe geschehen, überall das größte Aufsehen machte und daß das Gerede von Hof zu Hof flog und von Dorf zu Dorf, als wäre es durch fernhin leuchtende Bergfeuer angezeigt oder durch sogenannte Wasserreiter verbreitet worden, welche bei außerordentlichen Wettergüssen in die tiefer gelegenen Gegenden hinaus sprengen, um, der Ueberschwemmung voran eilend, die Kunde zu bringen, daß die Gebirgsflüsse „ausgießen“ und das Hochwasser hinter ihnen darein gesaust komme. Das Ungewöhnliche der Sache an sich hätte schon hingereicht, die allgemeine Neugierde zu erregen, die vielen besonderen Einzelheiten aber waren erst recht dazu angethan, sie anziehend zu machen; mit den Gerüchten um die Wette flogen Vermuthung und Argwohn einher, von der Neugier geweckt und von der Schmähsucht getragen, welch’ beiden ein um so ergiebigeres Feld sich öffnete, je geringer die Ausbeute des gleich am andern Tage vom Gerichte vorgenommenen Augenscheins war und je unbedeutendere Anhaltspunkte sich auf den von Pfarrer und Amtmann nach allen Richtungen angestellten Erkundigungen und Nachforschungen ergaben. Der Augenschein hatte gar nichts ermittelt. Die Vorhersagung der Oedbäuerin war eingetroffen: gegen Morgens hatte der „warme Wind“ über die Berge hereingeblasen und in wenig Stunden den Schnee hinweggehaucht, als wäre nie eine Flocke gefallen; nur stellenweise, im Schatten eines Baumes oder einer Zaunhecke entlang war davon eine besonders geschützte oder dichte Ansammlung liegen geblieben. In einer solchen fanden sich allerdings die Spuren von Tritten, die von einem weiblichen Fuße herzurühren schienen, aber sie trugen ebenfalls nichts Kennzeichnendes an sich und zeigten nur den Abdruck eines Schuhes, wie er von der gesammten weiblichen Bevölkerung der Gegend getragen zu werden pflegt. Der nächste Nachbar, der Besitzer des etwas weiter abwärts gelegenen Einzelhofes, war wohl auch am fraglichen Abend durch das lärmende Bellen seines Hundes aufmerksam geworden und hatte, den Kopf durch das Schiebfensterchen steckend, eine weibliche Figur zu sehen geglaubt, welche in der Richtung vom Oedhofe her gelaufen kam, aber Wind, Gestöber und die dichte Verhüllung hatten es ihm unmöglich gemacht, sie zu erkennen. Diesem gegenüber leitete die örtliche Vertrautheit, mit welcher das Unternehmen ausgeführt worden war, sowie das völlige Schweigen des sonst sehr wachsamen Haushundes dringend darauf hin, daß der Thäter ein Bekannter des Hauses gewesen mußte, – ja, ein später auftauchender Umstand schien sogar eine Weile dazu angethan, volles Licht nach dieser Richtung zu geben, diente aber schließlich doch nur dazu, die Unklarheit und den Zweifel noch mehr zu steigern.

Einige Tage nach dem Auffinden des Kindes hatte der Hütbube des Oedhofs in der Bretterluke, durch welche eingedrungen worden war, an einem vorstehenden Nagel ein Stückchen Zeug von einem Weiberrocke gefunden, dessen Beschaffenheit und Muster so eigenthümlich und von dem sonst üblichen abweichend war, daß man wohl hoffen durfte, in der Trägerin eines solchen auch die Thäterin aufzufinden. Es ergab sich bald, daß ein einziger Krämer im nahen Markt diesen Stoff auf seinem Lager gehabt und einen Rest davon lange vergeblich feil geboten hatte, – die eine Hälfte des letztern war vor mehr als einem Jahre von der Pflegetochter des Aichbauern, von Franzi, der schönen Kellnerin an der Kreuzstraße, gekauft worden, – das andere Stück hatte wenige Wochen vorher eine Landfahrerin gekauft, eine Tirolerin, die mit kleinem Landkram in einem Rückenkorbe von Dorf zu Dorf hausiren ging und nebst ihrer Waare ein Kind darin mit sich herum trug. Nun lag die Vermuthung dringend nahe, daß diese es gewesen, die auf dem Oedhofe die Gelegenheit erspäht, sich einer Last auf gute Art zu entledigen; auch das Alter des Kindes stimmte damit überein, denn dasselbe war immerhin ein paar Monate alt, mußte also, da es noch ungetauft war, in völlig unbegreiflicher Weise irgendwo verborgen gehalten und der Kenntniß der weltlichen wie der geistlichen Behörden entzogen worden sein. Auch das war durch das Herumziehen der Mutter am einfachsten erklärt.

So kam es, daß von Allem nichts auf die Spur der Thäterin leitete; das kleine Mädchen blieb wohl behütet und bewahrt auf dem Oedhofe und von dem ganzen Gerede nach einiger Zeit nichts übrig, als der Umstand, daß Franzi’s Name in der Sache genannt und in bedenklicher Weise in dieselbe verflochten worden war. Obwohl nun Franzi’s Benehmen überall und zu jeder Zeit tadellos gewesen, obwohl Niemand auch nur das Entfernteste über Beziehungen oder Verhältnisse zu sagen wußte, welche zur Bestätigung einer solchen Annahme dienen konnten, kam das einmal laut gewordene Gerücht doch nicht wieder zur Ruhe: es pflanzte sich fort, wie ein giftiger Wurm ungesehen unter dem hohen Grase dahin kriecht. Manche, denen Franzis herrische und entschiedene Art mißliebig gewesen, glaubten daran mit jenem Behagen, das gemeine Seelen immer als eine Art von Rachegenuß empfinden, wenn sie eine edlere Natur, der sie ihrer Begabung wegen gram sind, straucheln oder gar einen Schritt thun sehen, welcher geeignet ist, sie zu ihnen hinunter zu ziehen.

Die günstiger Gesinnten zuckten die Achseln; sie glaubten die Sache nicht, aber unmöglich erschien sie ihnen doch nicht: es war der eigen gearteten Person bei ihrem entschlossenen Wesen und ihrer stillen Gemüthsart wohl zuzutrauen, daß sie es verstanden habe, das Unternehmen mit solcher Schlauheit durchzuführen und noch obendrein in so gelungener Weise den guten Schein zu wahren. Nur wenige Orte waren, wohin das Gerücht nicht drang, wenige Menschen, die es nicht beschäftigte – zu den wenigen gehörten einmal Susi und die Oedbäurin, denen Niemand etwas davon sagen wollte, weil, wenn der Verdacht begründet war, der Gedanke an ein vorhergegangenes Einverständniß unabweislich nahe lag, und dann Franzi selbst, welche ruhig und unbekümmert dem Geschäft nachging und ihre Arbeit verrichtete, bis die Zeit heran kommen sollte, den Dienst an der Kreuzstraße mit einem andern zu vertauschen. Vielleicht hatte das Gericht die Sache nicht aus dem Auge verloren, bedachte sich aber, bei Franzis völligen Unbescholtenheit vor der Zeit mit einer Bezichtigung hervor zu treten; von den Gästen aber, die im Wirthshause einsprachen, kam Niemand dazu, der gewandten Kellnerin gegenüber eine Andeutung zu machen, denn man wußte, daß sie zu antworten verstand und daß sie nicht Lust und Geduld hatte, auch nur ein schiefes Wort ohne Abwehr hinzunehmen.

(Fortsetzung folgt.)



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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_660.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)