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Seite:Die Gartenlaube (1865) 593.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

No. 38. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die zwölf Apostel.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

Werner’s Haus, in der hübschesten und breitesten Straße des Städtchens gelegen, war ehemals auch ein Kloster gewesen. Es hatte jedoch, nachdem es in Privatbesitz gelangt war, beträchtliche Veränderungen erfahren. Der ganze vordere, nach der Straße gerichtete Flügel wurde niedergerissen, an seiner Stelle erhob sich ein stattliches Wohnhaus mit Mauern so massiv und dick, daß jede Nische der breiten Fenster ein kleines Cabinet vorstellen konnte. Die Fensterreihe im Erdgeschoß steckte hinter jenen dichten, bauchigen Eisengittern, die stets einen gewissen Respect einflößen und erkennen lassen, daß es ihre Aufgabe sei, ansehnliche Capitalien und Werthgegenstände zu beschützen, zugleich aber auch deren gesichertes Vorhandensein verrathen zu dürfen. Einige Hintergebäude, welche den weiten Hofraum umschlossen, waren jedoch ihrer Festigkeit und des späteren Datums ihrer Erbauung wegen stehen geblieben, ebenso die hohe, ungemein starke Mauer des Klostergartens, an der noch hie und da kolossale, von uralten Linden umrauschte Steinbilder verschiedener Heiligen unangetastet standen.

Die Nacht brach heute früh herein. Ueber der Stadt hing ein dunkler Himmel voll schwerer Gewitterwolken. Kein Lüftchen regte sich, wohl aber quollen ganze Ströme von Blüthenduft aus allen Hausgärten in die stillen, schwülen Straßen.

Es hatte eben neun geschlagen, als die Seejungfer in Magdalenens Begleitung vor Werner’s Hause erschien, um Jacob den verheißenen Besuch abzustatten. Der große Thorflügel war leicht angelehnt, aus der schmalen Spalte aber drang ein so heller Lichtstrom, daß die Seejungfer sich nicht entschließen konnte, diesen lichten Streifen eigenmächtig zu erweitern und ihre schüchterne Gestalt in der vornehmen Atmosphäre da drinnen beleuchten zu lassen. Allein Magdalene schob ruhig den Flügel zurück und folgte der schnell hineinhuschenden Muhme durch die große, gewölbte Hausflur nach der Hofthür. Ein gegenüberliegendes, erleuchtetes Bogenfenster im Erdgeschoß zeigte ihnen den Weg nach Jacob’s Wohnung. Die Gardinen waren nicht zugezogen und ließen den Einblick in die kleine, traute Häuslichkeit völlig frei. Der Alte stand vor der altväterischen Wanduhr und zog sie mit großer Sorgfalt auf, seine Frau saß still bei der kleinen, blanken Lampe am weißgescheuerten Tische und strickte. Neben ihr vor dem Sorgenstuhl mit der hohen, gepolsterten Lehne lag das aufgeschlagene Gesangbuch aus welchem Jacob vermuthlich das Abendgebet vorgelesen hatte.

Die Gäste wurden freudig, aber auch mit Vorwürfen begrüßt, weil sie gar so spät kamen, und Jacob meinte, er kenne seinen Nachtraben, schon: das könne den Sonnenschein nicht vertragen und gehe nur bei Nacht um, wie ein Geist; worauf ihm Magdalene erwiderte, daß sich die Muhme doch noch mehr vor dem Lampenschein fürchte, weil sie durchaus nicht in die hell erleuchtete Hausflur gewollt habe.

„Ja, heute ist’s aber auch ganz erschrecklich hell da drüben, es ist großer Thee bei der Frau Räthin.“ sagte Jacob und um seine Lippen spielte ein leichter Humor, der sein Gesicht oft so charakteristisch machte. „Die Frau Räthin haben drei Tage lang Brezeln und Torten gebacken, Kapaune gebraten, gescheuert und Teppiche ausklopfen lassen, von denen kein Stäubchen kam, weil sie beinahe alle Tage durchgeprügelt werden …“

„Jedes will seine Freude haben,“ sagte Jacob’s Frau neckend, „und wenn die da droben das Fegen und das Wasser liebt, so bist Du kein Feind vom Bier – laß gut sein!“

Mit diesen Worten stellte sie einen kleinen Steinkrug voll schäumenden Biers auf den Tisch und gab ihrem Mann dabei einen leichten Schlag auf die Schulter: sie standen nämlich sehr gut zusammen, die zwei alten Leute. Dann holte sie von einer altersschwarzen Eckconsole – Kannröckchen genannt – drei schönbemalte Tassen, eine blanke Zuckerdose von Zinn und einen Teller voll Semmeln, lauter Vortruppen eines gemüthlichen Kaffees, der denn auch bald dampfend auf dem Tische stand.

Magdalene hatte sich während dieser Vorrichtungen, bei denen Jacob’s Frau nicht unterließ, sehr lebhaft zu erzählen und der Seejungfer Fragen vorzulegen, wie ermüdet aus ein niedriges Bänkchen nicht weit von des Alten Lehnstuhl gesetzt und starrte, das Kinn auf die Hand gestützt, unverwandt hinauf nach der gegenüberliegenden, glänzend erleuchteten Fensterreihe, deren Flügel der Schwüle wegen weit offen standen. Was sieht das junge Mädchen? … Die weißen Vorhänge blähen sich im Nachtwind, der feucht und leise vorüber streicht; denkt sie an die gewaltige Fluth, die an den heimathlichen Strand rauscht? Fern, fern zieht ein Boot und die weißen Segel schwellen im Winde … oder taucht aus der Masse prächtiger Schlingpflanzen in der Fensternische das Vaterhaus im Süden mit seinen sonnbeschienenen Mauern und der niedrigen Thür, aus welcher die goldlockige Mutter mit den hellen, frommen Augen tritt? … Droben auf einer hellen Wand, von dem blendenden Licht des Krystallkronleuchters überströmt, hängt das lebensgroße Oelbild eines Knaben, ein schönes, stolzes Kind mit leuchtenden Augen und einer wunderbar klaren Stirn unter der blonden Lockenfülle … und die blauen Augen leuchteten mit so

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 593. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_593.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2017)