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Seite:Die Gartenlaube (1865) 264.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Wohlstand der Bürger: Alles dies wirkte nothwendig auf die Zersetzung des Ständestaates. Mit ihm zugleich verfielen die Zünfte, diese mitten im Fluß erstarrten Genossenschaften, die ein Bestandtheil von ihm geworden waren, als sie, die ersten Hebel der Bewegung, in deren weiterem Verlauf mit der immer bewußter auftretenden modernen Richtung mehr und mehr in Zwiespalt geriethen, weil der Geist in ihnen sich ausgelebt hatte. „Nicht einen Bruchtheil der Arbeiter mit Vorrechten ausstatten und vor den übrigen begünstigen; nein, gleiches Recht, gleichen Raum zur Entwickelung für Alle!“ – so lautet jetzt die Losung. Und ist das Ziel weiter gesteckt, so ist auch ein guter Theil des Weges gegen sonst zurückgelegt. Nicht um Rechts- und Vermögensfähigkeit, nicht um Sicherheit der Person und des Eigenthums haben die Handwerker und Arbeiter mehr zu kämpfen. Diese Bedingungen zum Emporkommen gewährt ihnen heute der Staat. Vielmehr gebricht es ihnen an den wirthschaftlichen Mitteln, und sie befinden sich großentheils thatsächlich nicht in der Lage, um die gegebene rechtliche Möglichkeit sich gehörig zu Nutz zu machen. Und hier, von der wirthschaftlichen Seite muß die Frage angefaßt werden, um mittelst der Selbstständigkeit im Erwerb die gesellschaftliche Stellung zu erringen, in welcher alle höheren humanen und politischen Strebungen ihren Stützpunct finden. „Capital und Bildung“ – Besitz der äußeren Arbeitsmittel und körperliche, intellectuelle und sittliche Tüchtigkeit – das sind die Factoren, an welche in der modernen Gesellschaft der Erfolg geknüpft ist. Sie den Arbeitern in höherem Grade als bisher zu Gebot zu stellen, das ist die Aufgabe.

Bereits schreitet man rüstig, wenn auch erst in kleineren Kreisen, an ihre Verwirklichung, und hoffnungsvolle Anfänge liegen vor. Wieder sind es die freien Genossenschaften, in welche sich die Handwerker und Arbeiter schaaren, um das Ziel zu erreichen. Unsere Arbeiter-, Handwerker- und Bildungsvereine, unsere Wirthschafts- und Erwerbs-Genossenschaften, in ihnen organisiren sich die in ihrer Vereinzelung Machtlosen zu einer Großkraft. Sie, die wahren „Innungen unserer Zeit“, sind berufen, das große Princip der freien Arbeit in seiner ganzen Tragweite, die Volleinbürgerung der Arbeiter in Staat und Gesellschaft durchzuführen. Fester Zusammenschluß, Erproben der eigenen Umsicht und Thatkraft, Selbstständigkeit und rühriges Eingreifen in die nächsten Kreise des täglichen Lebens, in Haushalt und Erwerb, damit müssen wir beginnen, von da muß alles Weitere ausgehen. Das ist die Vorschule der Selbstregierung und Selbstverwaltung in Staat und Gemeinde, die Schule, aus der freie Männer, tüchtige Menschen und wackere Bürger hervorgehen, das ist die Saat, aus der unserm Vaterlande das Heil ersprießt! Es ist der dritte Anlauf, den das deutsche Volk mittelst der Genossenschaften nimmt, den Ausbau seiner nationalen Zukunft zu bewirken. Durch ihre Stammes- und Kampfgenossenschaften stürzten die alten Deutschen die römische Weltherrschaft. In ihren Zünften legten die deutschen Handwerker im Mittelalter den Grund zum Stadtbürgerthum, zum sogenannten dritten Stande. Das Ziel, welchem die gegenwärtige Arbeiter-Bewegung mit ihren Bildungs-, Erwerbs- und Wirthschafts-Genossenschaften zustrebt, ist größer. Nicht einen vierten Stand zu gründen, wie man sich unglücklich ausdrückt, sondern den Ständestaat mit allen Resten der Privilegien der alten Geburts- und Berufs-Stände völlig zu beseitigen, das gleiche Recht für Alle an die Stelle des Vorrechts begünstigter Minderheiten zu setzen und der politischen Freiheit in Bildung und Wohlstand der Massen die allein dauerhafte sociale Unterlage zu geben – darauf müssen alle Strebungen gerichtet werden! Wollten die Arbeiter einen wirklichen Stand bilden, eine politisch abgeschlossene Rechtsgemeinschaft außerhalb des allgemeinen Volksrechtes, dann müßten sie das Ständewesen als Staatsprincip, also auch die übrigen Stände mit ihren Vorrechten anerkennen. Das ist es eben, was man von gewisser Seite will.

Dieser neue vierte Stand, die breite Grundlage der Gesellschaft, stände natürlich auf der Stufe der Bevorrechtung zu unterst; denn eine andere noch unter ihm stehende rechtlose Masse, – das Material zu einem fünften Stande etwa – von welcher sich der Arbeiterstand durch seine Sonderrechte ausscheiden, vor der er gewisse politische Vorzüge behaupten könnte, gäbe es nicht. Nein, nicht im ständischen Sonderrecht, sondern im gemeinen für Alle gleichen Volksrecht beruht die Ausgleichung, für die der Arbeiter einzutreten hat. Und wer dem etwa entgegnen wollte: „gleiches Recht für alle Stände“, der hebt eben damit die Stände als solche auf, da deren Wesen in der Ungleichheit der Rechte und Pflichten besteht. Das haben unsere deutschen Arbeiter auch wohl begriffen. „Im Volke aufgehen gleich allen Anderen – als vollberechtigte Glieder desselben Theil haben an allen seinen menschlichen und bürgerlichen Attributen – den ganzen warmen Pulsschlag des nationalen Lebens das eigene Herz weiten zu lassen – so habe ich ihre Forderungen immer verstanden. In diesem Sinne verlangen sie die gleiche Freiheit und das gleiche Recht wie Alle, ihr wohlgemessen Theil an Volksbildung und Volkswohlstand, an menschlicher und politischer Geltung, eine gehobene Stellung innerhalb, aber wahrlich nicht außerhalb des Ganzen, wo sie nur zu kurz kämen. Darum fort mit dem ständischen Separatismus und frisch in die Genossenschaft hinein mit ihrer freien Verbrüderung aller Classen. Schon regt es sich tüchtig bei uns und manche gute Erfolge sind errungen. Ihnen aber, meine wackern Helfer und Mitgenossen aus unsern Associationen, die Sie den später Kommenden als Pioniere den Weg bahnen, möge die weitere Aussicht, die ich eröffnete, eine Ermuthigung sein, welche Sie über die mannigfachen Mühen und Unzuträglichkeiten der ersten Anfänge hinweghebt. Nicht das materielle Bedürfniß allein, das Ihnen zunächst den Anlaß zum Eintreten in die Bewegung gab, ist es, dem diese dient. Bewußt oder unbewußt treiben Sie, einmal von der Strömung ergriffen, höheren Zielen zu. Der Geist der freien Genossenschaft ist der Geist der modernen Gesellschaft! Hat er erst das Wirthschaftsleben der Nation durchdrungen, so kann es nicht fehlen, daß er von da aus auch das öffentliche Leben erobert und unserer staatlichen Entwickelung neue dauernde Grundlagen schafft. Darum, meine Freunde, lassen Sie uns mit dem Gedanken an unsere Arbeit gehen: daß wir in den bescheidenen Anfängen, wie sie im Drange des nächsten Bedürfnisses kleinen Verhältnissen angepaßt wurden, die Keime zu Gestaltungen pflegen, die schon in mächtiger Verzweigung, gleich der deutschen Eiche, sich zukunftsvoll über unser ganzes Vaterland zu verbreiten beginnen. Zu solchem Dienst mit Ihnen, mit Hunderttausenden wackrer Männer in allen deutschen Gauen verbunden, grüße ich Sie als Ihr Anwalt.




Bilder aus der kaufmännischen Welt.
Der Gerson’sche Bazar in Berlin.

Gerson – Gerson, welcher Zauberklang für die Weiberherzen, welcher Gipfelpunkt sehnlicher Mädchenwünsche, welches Paradies der Frauen, welche Hölle für so manchen Gatten, nicht nur an den Gestaden der sandumwehten Spree, nein durch ganz Deutschland, überall wo der Gedanke an neue Moden dem schönen Geschlecht das Blut rascher durch die Adern treibt! Gewiß werden es alle unsere Leserinnen, die nicht das Glück haben in der Stadt der Intelligenz und der Gardelieutenants zu wohnen, uns Dank wissen, wenn wir ihnen einmal von diesem berühmten Gerson’schen Bazar und seiner Geschichte erzählen.

Im Jahre 1836 wurde in dem Gebäude der Bauakademie zu Berlin unter der Firma Wald u. Gerson eine Modewaaren-Handlung gegründet, welche sich in ihrer bescheidenen Ausdehnung kaum von den zahllosen Concurrenzgeschäften unterschied, die in allen Gegenden Berlins zu finden sind und von denen so viele einige Jahre nach ihrer Entstehung tiefbetrauert von ihren unbefriedigten Gläubigern wieder spurlos verschwinden.

Vielleicht mochte auch damals mancher der älteren Concurrenten jener neuen Firma kein besseres Prognostikon stellen, jedenfalls aber ahnte wohl Niemand in jenen Tagen, daß nach einem unverhältnißmäßig

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_264.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)