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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Schon war ich daran, hier die Vorbereitungen zu einem Nachtlager zu treffen, als mich doch die verführerische Aussicht, noch in dieser Nacht ein warmes Zimmer und ein Bett zu erreichen, wieder weiter trieb. Drei Stunden konnte ich wohl noch bewältigen, irrelaufen war nicht mehr möglich, weil ich von nun an in der ebenen Schlucht des Rißbaches hinabgehen mußte. So verzehrte ich also meine letzten Vorräthe von Wein und Fleisch, ruhte ein wenig und trabte getröstet weiter. Wieder ging’s durch dichten Wald. Aber jetzt hatte ich nicht mehr zu besorgen, herabzustürzen oder unversehens zwischen das Geklüft einer Ache zu rollen – es war so eben, als es in einem Hochthal, welches vier Fuß hoher Schnee bedeckt, eben sein kann.

Aber ich sollte dafür bestraft werden, daß ich mich wieder von dem, wenn auch jämmerlichen, Asyl der Hagelhütte getrennt hatte.

Ich mochte eine Stunde mich abermals durch die Schneelager, die leider hier noch mächtiger, als an irgend einer bisherigen Stelle waren, durchgekämpft haben, als mich ein Gefühl der allgemeinen Erstarrung überkam. Meine Beinkleider hatten sich zusammengezogen und aufgerollt – zwischen Schuh und Strümpfe, endlich auch zwischen Strumpf und Fußhaut waren Eisnadeln eingedrungen und hatten allmählich den ganzen Zwischenraum in der Höhlung der Schuhe mit gefrorenem Inhalt zu einer Masse zusammengeschmolzen. Schon lange hatte ich keine Empfindung mehr in den unteren Extremitäten – ich hatte es der ungeheueren Ermüdung zugeschrieben. Jetzt aber erkannte ich, daß ich im Begriff stand, erfrorene Füße zu bekommen. Das ganze Schuhwerk war eine Eismasse, in deren Mitte die Strümpfe kaum noch zu erkennen waren. Erst wenn ich Eisschollen und Zapfen losbrach, konnte ich mit der Hand zur Wollenfaser gelangen. Mein erster Gedanke war, die Strümpfe mit neuen zu vertauschen – aber wie? So sehr ich mich bemühte, meine Schuhe vom Fuß zu bringen: es war ein Ding der Unmöglichkeit. Die Hände allein vermochten es nicht und in den Füßen war gar keine Kraft mehr, um sie gegen etwas anstemmen und so durch fortgesetztes Rücken dieselben befreien zu können. Es war Alles vom Eis wie angegossen. Das war eine Folge des zweimaligen In’s-Wasser-Stürzens und des fortwährenden mit Gewalt betriebenen Einkeilens und Zurückschiebens der Füße in den Schneewehen. Stechende Schmerzen lähmten mir die Kniee – ich wankte, die Füße gehorchten nicht mehr, im Kopf wurde es mir blöd und wirr, ich sank hin.

Nach einer Weile raffte ich mich wieder auf – denn es ist hart, so verkommen zu müssen. Die Verzweiflung konnte mich nur noch ein paar Schritte weit tragen, ich stürzte wieder zusammen. Ich kroch – aber Ellenbogen und Fingerspitzen erstarrten – ich konnte nicht mehr.

Da blieb ich denn liegen und dachte darüber nach, wie lange wohl der Schlaf des Erfrierenden dauern würde, bis er ihn zum barmherzigen Tode geleitete. Dann sann ich in wirren Bildern, wer mich im Frühjahre wohl hier zuerst finden sollte, von Füchsen und Adlern angefressen. Ich dachte an meine Jugend, an meine –, ich dachte nicht mehr, einige Thränen fielen in den Schnee und ich gab mich ihm hin, dem kalten Gott.

Nach einigen Minuten brachte mich ein seltsamer Schimmer wieder zur Besinnung. In diesem Augenblicke war dort über dem Falkenkar der Mond aufgegangen. Ich schaute noch wie im Traume nach ihm auf – aber welch jähes Entzücken schlug mir in die Glieder! Kaum dreißig Schritte von mir entfernt zeichneten sich in seinem Licht die Umrisse einer Alpenhütte.

Es war Mitternacht – das neue Jahr und mit ihm die Hoffnung des Lebens war angebrochen. Heil Dir, königliches Gestirn! Du hast mich in jener Todesnacht vom Rand der Vernichtung gezogen. Wie ein himmlischer Bote kam mir der sanfte Strahl. Ich fühlte die Erstarrung nicht mehr. Halb auf den Knieen, halb hüpfend schleppte ich mich in die Hütte. Es war das „Garbel“, eine dem Herzog von Coburg gehörige Alm. Die Zündhölzchen, welche den unnützen Cigarren bestimmt gewesen waren, dienten nun dazu, alles Papier, was ich bei mir trug, anzuzünden, um nach den Brennvorräthen in der dunkeln Hütte zu sehen. Ich hätte Tausend-Pfundnoten der Bank von England in Stößen verbrannt, wenn ich sie zur Hand gehabt hätte. Ich erspähte Heu; es war feucht, aber nach vielem Qualmen schlug eine mächtige Lohe daraus nach oben. Nun wagte ich es, eines der bereiften Scheiter, welche draußen, allerdings noch etwas vom Dach geschützt, aufgeschichtet lagen, darüber zu legen. Es siedete, es kochte und schäumte, es brannte. Jetzt holte ich noch mehrere Scheiter und bald hatte ich auf dem einen Fuß hohen Heerde, auf welchem im Sommer die Sennen ihren Schmarren kochen oder Käse bereiten, eine mächtige Gluth. Seine herzogliche Hoheit wird mir diesen Holzfrevel verzeihen – ich bin ihr Zeitlebens dafür dankbar, daß mich das Dach einer ihrer Besitzungen gerettet hat.

Die Hütte war aus losen Balken zusammengefügt; die vielen Zwischenräume zwischen diesen ersetzten den Kamin und so pfiff die Flamme lustig gegen die Decke. Eine lange Bank stand da; auf diese setzte ich mich und ließ die Schuhe gemach am Feuer aufthauen, bis ich dachte, daß innen das Eis sich von der Haut lösen würde. Daß ich sie nachher nicht mehr würde anziehen können, stellte ich mir wohl vor – aber was dann werden sollte, kümmerte mich nicht – für jetzt wollte ich nur der Fesseln von Eis los sein. Ich wurde ihrer los. Mit einem Ruck ging jeder Schuh mit seinem Inhalt, dem Strumpf und den an diesen gefrorenen Hautfetzen herunter und klirrend fielen die Eiszapfen auf den Backstein des Heerdes. Ich betrachtete die Füße. Sie hatten jene weiße Farbe, die von der erstorbenen Epidermis herrührt. Sie waren erfroren.

Ich dachte in diesem Augenblicke nicht daran, wie wenig ich eigentlich mit dem Auffinden dieses Asyls in Wirklichkeit gewonnen hatte, nachdem der Zustand der Füße mit Gewißheit voraussehen ließ, daß ich vor erfolgter Heilung nicht mehr damit würde gehen können. Was sollte mit mir auch nach Tagesanbruch werden? Ich hatte keine Nahrungsmittel mehr – in meine Schuhe konnte ich mit den aufgeschwollenen Füßen nicht wieder hinein, und wer sollte wohl in Monaten hier vorbeikommen? Aber das Alles kümmerte mich damals nichts – vergnügt schaute ich in die Flamme und freute mich, dem Erstarrungstode auf dem eisigen Abhang draußen entkommen zu sein. Freilich durfte ich mich dabei nicht umdrehen, sonst verlor ich die Illusion. Denn, sowie ich das Gesicht abwandte, spürte ich die zwanzig Grad Kälte und die Frostgeister, die mein Feuer von allen Seiten umlagerten. Mein Hund schaute kläglich zu mir auf und leckte mir Hände und Füße – ich glaube, er hat die Situation besser begriffen, als ich in meiner Verzückung.

Noch zweimal schleppte ich mich hinaus um von Seiner Hoheit Holz zu stehlen – dann legte ich mich auf die Bank und machte mir meine Neujahrsgedanken. Ich stellte mir das bacchantische Gewühl vor, das jetzt die großen Städte durchraste – die Trunkenheit bei Weinflaschen und Punschbowlen in schwülen Sälen. Und ich lag da oben auf der Alm, die unter demselben Schnee ruht, der heute mein schweigsames Leichentuch werden sollte! Draußen rauschte ein Bach; er kommt aus den unendlichen Wüsten des Karwendel. Die nächsten lebenden Wesen sind Gemsen und Steinadler. Wenn ich durch die Lücken meiner Behausung schaute, sah ich die Sterne in ruhigem, stetem Licht scheinen – nicht fackeln und zittern, wie draußen. Ich meinte, ich sei dem unendlichen Geist nah, der über diesen gewaltigen Strichen thront, und seine Hand liege schützend über mir. Die Stimme seiner Wasser wie das Schweigen seiner Einöden sprach zu mir. Solche Stunden ändern oft etwas in uns, und auch an mir ist jene Nacht nicht ohne Spur vorübergegangen.

Ich begann von meinem Unglück zu träumen und hörte Schritte von solchen, die mir zu Hülfe kamen. Schon waren sie ganz nah – es kam Jemand zu meiner Thür herein. Ich drehte mich auf meiner Bank um und suchte mein von der Flamme gebranntes Gesicht zu kühlen. Das Wunder geschah.

„Um Gotteswillen, was machen Sie da?“ fragte eine Stimme.

Ich weiß nicht, was ich dachte. Ich weiß nicht, ob ich im Schlafen oder Wachen zu sprechen glaubte. Ich sagte kurzweg:

„Ich wünsch’ ein glückseliges neues Jahr!“

Der Mann – es war ein kräftiger Mann in grauem Rock und mit umgehängtem Gewehr, trat näher. Er rührte mich an und betrachtete mich voll Mitleid. Ich kam nach und nach vollständig zu mir. Ein Wort gab das andere. Es war der k. k. Finanzpostenführer Azzolini. Weit unten hatte er, wenn ich die Thür öffnete, um Holz zu holen, den Schein meiner Flamme bemerkt. So führte ihn die Obliegenheit seines Berufes, den er gewissenhaft erfüllte, herauf. Es konnten Schmuggler, es konnte noch Schlimmeres hier verborgen sein. Nachdem ich ihm Alles, so gut

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_140.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)