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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

jetzt noch war sie geneigt, ihm zu verzeihen, wenn er sein Unrecht einsehen würde. Aber Kleist beharrte auf seinem Eigensinn und stellte gebieterischer als je die alte Forderung, worauf sie eben so entschieden bei ihrer Weigerung verblieb. Als die ihr von ihm gesetzte Frist verstrichen war, kam er nicht mehr wieder. Damals soll er aus Verzweiflung über diesen Ausgang, den er selbst verschuldet hatte, zum ersten Male versucht haben, seinem Leben ein Ende zu machen. Die Freunde fanden ihn ohne Bewußtsein, neben ihm ein geleertes Fläschchen, das Opium enthalten hatte. Bald erholte sich der Unglückliche und fand bei der Poesie, der wahren und einzigen Geliebten seines Herzens, Trost und Erhebung. Sie führte ihm das Ideal weiblicher Hingebung, wie es in seiner Seele schlummerte, entgegen. Vor ihm erschien das holde „Käthchen von Heilbronn“, die reizende, unsterbliche Verkörperung seiner Liebesträume.

Kleist aber liebte seitdem kein irdisches Weib mebr, nur noch die Muse, welche ihm treu blieb und sein Grab mit ihrem unverwelklichen Lorbeer kränzte, als er, verfolgt vom Mißgeschick, seinem Leben mit eigener Hand ein Ziel setzte, wie wir früher den Lesern der „Gartenlaube“ erzählten.




Ein Künstlerleben.
Von Eugen Peschier.

Vor einiger Zeit sah ich in einem illustrirten Blatte zwei Abbildungen, deren Zusammenstellung einen eigenthümlichen Eindruck auf mich machte. Rechts Dorfbewohner aus dem Canton Tessin, bemüht, einen vom Schneesturm verschütteten Leichnam aus seinem eisigen Grabe zu befreien; links eine der blutigen Scenen aus dem polnischen Aufstande. Dort also eine ganze Gemeinde Tag und Nacht mit fieberhaftem Eifer grabend, um einen Unglücklichen an’s Licht fördern, während dieser schon längst der goldenen Sonne die Augen verschlossen hatte – und hier eine jener gräßlichen Metzeleien, wo Hunderte und Tausende hingeopfert, zu Dutzenden in’s gemeinsame Grab geworfen werden und noch glücklich sind, wenn im Spitale über dem Schmerzensbette eine Nummer den Namen ersetzt, nach dem Niemand fragt. Es liegt etwas tief Ergreifendes in diesem Gegensatze. Wie sonderbar ist nicht nur das Menschenloos, sondern auch menschliche Theilnahme vertheilt! Es mag allerdings oft die Größe des Verlustes den Schmerz erdrücken und nicht zur Besinnung kommen lassen; nach und nach zersplittert sich dieser, eine neue Woge des Lebens geht darüber hin und das Unglück ist vergessen, ehe man sich desselben recht bewußt geworden, während der einzelne Schlag viel tragischer wirkt, weil er, den eigenen Erlebnissen näher gerückt, um so leichter Furcht und Mitleiden weckt. Aber im Großen und Ganzen liegt doch viel Ungerechtes und Launenhaftes in der Theilnahme; das Zufällige, Blitzartige hat zu viel Einfluß, und selten denkt die Menge den großen Räthseln des Menschenlebens nach, die sich ruhig entfalten und ruhig lösen.

Dieser Eindruck wurde mehrere Wochen darauf wieder lebbaft in mir wach. An einem Sonntag des vergangenen Jahres bewegte sich ein endloser Leichenzug durch die Straßen Genfs. Die Freimaurer trugen einen Bruder, die Feuerwehrmänner einen Cameraden zu Grabe, der auf dem Schlachtfelde gefallen, d. h. vom Giebel eines brennenden Hauses zerschmettert unter die entsetzte Menge gestürzt war. Mit schmerzlicher Theilnahme erfuhr man, daß der Verunglückte ein junger Bildschnitzer gewesen, der sich vom Packknecht durch riesigen Fleiß zu großer Geschicklichkeit in seiner Kunst emporgeschwungen hatte. Die früh gebrochene Kraft wurde in’s Grab gesenkt, während in der Nähe des Friedhofs der Expreßzug in die weite Welt, in das volle Menschenleben hineinbrauste. Wie gesagt, fast alle Bürger der Stadt folgten dem Sarge. Vierzehn Tage zuvor, gleichfalls an einem Ruhetage, warf ein kleines, ganz kleines Häuflein Männer die schwere Scholle auf den Sarg eines Mannes, der auch in den besten Jahren seines Lebens der Kunst und dem Vaterlande entrissen wurde. Ja, dem Vaterlande, und darin finde ich das Ungerechte dieses kleinlichen Ignorirens, denn Alexander Calame – er war der von Wenigen zur letzten Ruhestatt Geleitete – war nicht blos ein großer, sondern vor Allem ein nationaler Künstler. Während man überall im Auslande um den Tod Calame’s trauert, erwiesen ihm in der Heimath nur wenige Freunde und des Anstandes halber einige Vertreter des Kunstvereins die letzte Ehre.

Die nachstehende Lebensskizze des Künstlers wird begreiflich machen, warum ich diese lange Einleitung vorausschickte. Ich bemerke aber zum voraus, daß ich keine fesselnden Episoden, keine spannenden Anekdoten mitzutheilen habe; still und anspruchslos, wie die Leichenfeier, war das Leben des Malers gewesen. Aber Eines wird aus dem Lebensbilde hervorgehen: was es kostet, um zu erreichen, was köstlich ist – und wie leicht der äußerlich Glückliche verkannt wird. Am liebsten freilich hätte ich den Leser in das prachtvolle Atelier Calame’s geführt, um dort das Bild des Künstlers in die verwaiste Stätte zurückzurufen, allein die Achtung vor dem Schmerze der Hinterbliebenen verbietet’s, neugierig an die noch immer geschlossene Thür zu klopfen; aber in eine andere Werkstätte werden wir eintreten, in die große erhabene Alpenwelt, deren Majestät und ewige Schönheit im Kampf der Elemente und in der Sabbathruhe der Pinsel Calame’s uns so wunderbar vor Augen zaubert. Aus den Fenstern seines Ateliers schweifte sein Blick über den See, welcher die Schönheit des Himmels ein- und ausathmet; mit der Sehnsucht, welche die Wasser in unserer Seele wecken, folgte er dem Wogenschlag bis zu den duftigen Linien des Jura; durch das düstre Rhonethal eilte die Phantasie über den Gemmipaß in jene Riesenwelt, wo Calame’s Kunst ihr Heiligthum und ihre Heimath fand.

Der Vater des Künstlers, ein armer Maurermeister, stammte aus dem Canton Neuenburg und vererbte seinem Sohne die zwei Haupttugenden seiner Heimath: Muth und Ausdauer. Beim Bau eines Hauses am Genfer See verunglückt, hinterließ er seiner Wittwe nichts, als das einzige Kind, Alexander, das den 28. Mai 1810 in Vevey geboren war. Der Knabe folgte der Mutter nach Genf und trat im vierzehnten Jahre in das Bankgeschäft des Herrn Diodati als Handelslehrling; seine hübsche Handschrift genügte und empfahl ihn für die Wahl dieses Berufs. Allein in der Hand, die so zierlich schrieb, zuckte ein neckischer Kobold. Während der Lehrling am Pulte saß und eifrig zu rechnen schien, verwandelten sich die Schnörkel, mit welchen die jungen Handelsbeflissenen gern die monotone Regelmäßigkeit ihrer Schrift zu verschönen suchen, in wundervolle Arabesken; die gleichförmigen Striche fügten sich aneinander zu allerliebsten Zeichnungen, die Nullen wurden zu zierlichen Elfen, die um die Blumen tanzten, und so füllte der Knabe jedes Blättchen mit den Gebilden seiner Phantasie. Sein Chef entdeckte den Frevel, und nun stellt man sich wohl irgend eine Krämerseele vor, einen ausgetrockneten Zahlenmenschen, der dem Knaben tüchtig die Moral liest, ihm einprägt, wie die Null die lieblichste Form, Schwarz auf Weiß die solideste Farbe und ein Wechsel auf eine gute Firma mehr werth sei, als ein unsicherer Wechsel auf den Geschmack und die Gunst des Publicums. Aber Herr Diodati dachte anders; er schenkte dem begabten Zeichner eine Farbenschachtel, nicht wie man sie Kindern zum Klecksen giebt, sondern gute werthvolle Farben.

Im Besitze seines Schatzes geht Alexander, obgleich er noch nie im Leben einen Pinsel in die Hand genommen hatte, an einem Bilderladen vorüber, sieht am Schaufenster einige colorirte Schweizeransichten und tritt ohne Weiteres ein, um den Händler zu fragen, ob er nichts auszumalen habe. Dieser giebt halb zweifelnd, halb überzeugt von dem glänzenden Auge des Knaben und dem zuversichtlichen Tone desselben einige Zeichnungen zum Coloriren her. Calame eilt nach Hause, arbeitet zwei Wochen lang ohne Lehrer und unermüdet die Nächte hindurch, bringt dem erstaunten Auftraggeber die bestellte Arbeit zurück und erhält ein glänzendes Goldstück. Voll Jubel über den Erfolg, mit der unbeschreiblichen Freude, welche der Arme empfindet, wenn er den ersten Lohn seiner Arbeit in Händen hat, stürzt der Knabe nach Hause und wirft mit Freudenthränen der armen Mutter das Geld in den Schooß. Diese Pietät für die Mutter hat Calame sein Leben lang bewahrt; die Liebe zu ihr verwob sich mit der Liebe zur Kunst und beide trieben ihn zu rastloser Arbeit. Der edle Diodati erlaubte ihm, einen Theil der Nachmittagsstunden zur Ausbildung seines Talentes

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_075.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)