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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

gastliche Land, die Schweiz, das theure Vaterland Deutschland, es lebe allwaltend die Freiheit!“

So laut auch das dreifache Hoch wiederhallte aus den Herzen der Menschen und Berge, als Hartmann diese Worte gesprochen, so herzlich auch die Harmonie einfiel mit ihren kräftigen Stimmen, ein merkwürdiges Gefühl blieb über der Versammlung schweben, sie fesselnd und sie niederdrückend. Keiner gestand es in diesem Augenblicke; Alle später; Keiner konnte sich selbst eine Erklärung desselben verschaffen, und doch haftete eines Jeden Fuß jetzt noch an der geweihten Stätte, als nehme der Geist dieser Berge ihn gefangen, bis er seine Söhne und die Fremdlinge, die ihn hier heraufbeschworen, angeredet mit Worten des Scheidens. Und siehe da, dieser Geist fuhr in die Gestalt des Herrn Bernold, Mitglied des Nationalraths und Oberst aus St. Gallen, der tiefbewegt von den Stufen des Denkmals herab also redete:

„Meine Freunde! Es will mich bedünken, daß wir nicht scheiden dürfen, nicht scheiden dürfen, bevor ein Schweizer sein volles Herz ausgeschüttet hätte. (Allgemeiner Beifall.) Ich stehe vor dem Denkmal eines echten Deutschen. Ich sage Ihnen, daß ich tief ergriffen bin, denn auch wir Schweizer sind Deutsche! (Lautes, stürmisches Bravo.) Wir sprechen deutsch, fühlen deutsch und haben in Deutschland unser Tiefstes und Höchstes geholt: unsere Bildung und Begeisterung für alles Hohe. Denn wenn wir Schweizer uns begeistern wollen, so müssen wir hinanschauen auf die deutsche Größe. Bekennen wir das offen, denn das hat nichts gemein – leider nichts gemein mit der andern Stellung, die Deutschland politisch einnimmt. Das ist leider etwas Anderes, und wir müssen uns wundern, daß ein solcher Geist, ein solcher Charakter, ein solcher Muth nichts Anderes zuwege gebracht hat, als wie es in Deutschland jetzt steht. Diese großen Errungenschaften im Geiste, und diese kleinen im politischen Volksinteresse, wie erklären wir uns das? Da steht Einem, wie man zu sagen pflegt, der Verstand still! Ich kann das Räthsel nicht lösen. – –

Verzeihen Sie diese kurze Abschweifung, aber ich mußte das sagen an dem Denkmal des Mannes, der uns hierher geführt hat mit seinem Geist und seinem Ruhm in den Dingen, die man jetzt anstrebt in Deutschland. Ja, wir geben uns heute das Wort (und als Schweizer spreche ich das aus), wir geben uns heute das Wort, dieses Denkmal treu zu wahren, diesem Denkmal unsere wärmsten Gesinnungen zu weihen und vor diesem Denkmal nicht vorüberzugehen, ohne den Weihegedanken eines edlen patriotischen Herzens. Hier gehen wir vorüber wie an den Thermopylen (stürmischer, fortdauernder Beifall), wo auf dem Denkmal auch stand: „Hier sage, Wanderer, dem Vaterlande, hier starben wir der Pflicht getreu!“ (Laute Bravos.) Und wenn wir hier vorübergehen, sagen wir Wanderer dem Vaterlande: Hier ist das Denkmal einem deutschen Manne geweiht. Thut Seinesgleichen; und wenn wir Seinesgleichen thun, dann wird und muß es anders werden! Er war leider allein, oder nicht Viele mit ihm, aber der Geist, der in Deutschland lebt, muß durchdringen trotz aller Cabale und Heuchelei, wie sie heute so treffend geschildert wurde.

Ja, meine Freunde, ich muß es sagen, auch ich war in Arkadien, auch ich war im Teutoburger Dynastenwalde, wo kein Hermann mehr war – ein paar Jahre. Und ich darf es sagen, daß ich meine Richtung in Deutschland geholt. Die schönsten Erinnerungen richten sich dahin, wo ich meine Jugendjahre verlebt habe mit den deutschen Herzen. Ich darf es frei und offen sagen, denn da war es noch eine Zeit, wo man hoffen durfte, in den 30er Jahren, kurz nach dem Sturm vom Juli. Und hier durften wir einander damals schon sagen: Es giebt ein deutsches Reich, ein großes deutsches Volk; und wir, damals ein Herz und eine Hand, erlabten uns an dem Gedanken eines großen deutschen Volkes, das die Knechtschaft abwirft, und umfaßt uns Deutsche Alle, Deutsche und – Schweizer. (Lauter Beifall.) Kein Land, keine Grenze, keine Confession, keine Scheide zog sich unter uns! Wir waren Brüder in der bekannten Burschenschaft! (Stürmisches Bravo.)

Meine Freunde! ich sage es nochmals, ich bin hierher gezwungen worden durch den innersten Trieb meiner Seele, Ihnen dies zu sagen, und Ihnen zu sagen, meine Schweizer Freunde, zu gedenken und zu thun, wie dieser Mann Ihrer gedacht und Ihnen gethan hat. Und daß wir schützen die heilige Stätte eines Patrioten im Exil, das geloben wir Ihnen!“

Während Alle dem wackern Oberst zuerst in donnerndem Applaus und dann in kräftigem Händeschütteln ihren Beifall bezeugten. Deutsche und Schweizer, hatte die Harmonie in glücklichster Wahl ihr letztes Lied an der Feststätte begonnen: „Die Wacht am Rhein.“ Sodann begab sich der Zug in umgekehrter Ordnung nach Murg zurück.

So viel Gäste hat wohl das Kreuz in Murg nie gesehen, wie an jenem Nachmittage des 5. October, als die geräumigen Localitäten des Hauses nicht zulangen wollten, um an einer Tafel die Verehrer Heinrich Simon’s zu versammeln zu einem heitern Mittagsmahle. So endete denn die Feier, wie sie begonnen, unter Gottes schönem Dom, und was hier gesprochen wurde, erhob sich, wie am Morgen, frei zum Himmel. Hinter dem Hause, der Eisenbahn zu, liegt ein kleiner Wiesenplan. Da reihte sich nun Tisch an Tisch und Bank an Sessel, die manches freundliche Nachbarhaus geliefert, als des Kreuzes fahrende Habe nicht mehr zureichte. So sehr aber auch Präsident Gmür’s wirthlicher Scharfblick bewundert wurde, da unter seinen Anordnungen der beschränkte Raum zu gewinnen schien an Länge und Breite – die braven Handwerker fanden keinen Platz mehr, ja sie suchten keinen zu finden, denn ehe man sich’s versah, waren sie vorübergezogen unter Sang und Klang in einen benachbarten Gasthof.

Beim Kreuz auf der Wiese ging’s unterdessen bunt genug zu, ehe Jeder sein Plätzchen erobert. Allein als dies geschehen und Schüsseln und Flaschen anfingen zu kreisen, herrschte die vollkommenste Ordnung ohne unsere deutsche Angewohnheit eines Tischpräsidiums. Frei nach Schweizersitte erhob sich Jeder an seinem Platze, der zu sprechen wünschte, und Alle hörten andächtig zu, und dazwischen füllte die unermüdliche Harmonie die Pausen mit einem kräftigen Liede. Und doch stand ganz Murg zwei Schritte blos von den Tafelnden, durch nichts geschieden, als durch einen leichten hölzernen Zaun, den jeder laute Toast in seinen Grundvesten erschütterte, und doch waren dies einfache Bauern und keine Polizei unter ihnen, und neben ihnen speisten manche der höchsten Würdenträger ihres Volkes. Deutscher Tafelbesucher, was meinst Du zu dieser Anarchie?! O wenn die Männer der Kreuzzeitung jene Liste gesehen hätten, wo sich die Männer und Frauen des 5. October zu Murg einzeichneten als Gäste des Festes – welche Fülle von gefährlichem Deutschland und anarchischer Schweiz würden sie darauf entdecken!

Diese Liste kreiste noch, als sich der junge Dr. Hilty aus Chur erhob, und den ersten Toast im Namen der Verwandten Simon’s dem Comité, Luigi Chialiva und Jacoby ausbrachte.

Jacoby erwähnte darauf das alte prophetische Wort: daß der Brocken einst mitten in der Schweiz stehen werde. Dies Wort könne sich bewahrheiten durch den Bruderbund der Schweiz mit Deutschland, und diesem gelte sein Hoch.

Mit diesen Worten war dem gesammten Zuhörerkreise wieder jene peinliche Wahrheit des Oberst Bernold nahe gerückt worden, daß das Mißverhältniß zwischen der geistigen Blüthe und der politischen Nacht Deutschlands den „Verstand stille stehen“ mache. Prof. Vögeli aus Zürich that den ersten Schritt zur Lösung des Räthsels. Er führte aus, wie sich nach der Durchbildung der Völkerindividualität der Deutschen Schweizer und Deutsche brüderlich lieben müßten. „Und dieser Ausbildung der großen germanischen Nation,“ schloß er, „die aber in der großen europäischen Völkerfamilie auch nur ein Stamm ist – der bringe ich mein Lebehoch an dem heutigen Tage.“

Der zweite Redner, der in die von Bernold angeregte Frage eintrat, war Bamberger aus Paris. Leider verstattet es uns der Raum nicht, diese vortrefflichen Worte in ihrer vollen Ausdehnung zu geben. Bamberger führte das heutige politische Elend Deutschlands auf jene Zeiten zurück, wo zahllose Kriege scheinbar religiösen Ursprungs in dem 30jährigen Kriege ihr letztes tragisches Nachspiel fanden, aus deren Zerrüttung es sich heutzutage noch nicht völlig erholt. Und daran schloß er Worte über die Stellung des Exilirten zum Vaterlande und dessen idealen Bestrebungen, die diejenigen hätten vernehmen sollen, welche in der Sprache des Exilirten blos eine Summe von Entstellungen und Bitterkeiten finden. Dann schloß er: „Und Sie, theure Bruder, denen es vergönnt ist, in das Vaterland zurückzukehren, bringen Sie ihm unsere Grüße; sagen Sie, daß wir im Auslande treulich aushalten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_735.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)