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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

gewandte Buchhalter trieb ein lucratives Commissionsgeschäft und hatte nebenbei durch die Dienste, welche er Douglas und Co. erwies, eine bedeutende Nebeneinnahme, außerdem aber einen gewissen Einfluß in der Geschäftswelt, weil Jedermann sich scheute, dem gefährlichen Agenten Opposition zu machen.

Einige Wochen später kündigte Francis Hargrave seine Clerkstelle in der Sägemühle, unter dem Vorwande, daß er L. ganz verlassen und nunmehr seinen längst gehegten Vorsatz, sich in Californien eine neue Existenz zu gründen, ausführen wolle. Wenige Tage darauf finden wir ihn in New-York wieder, wo er anscheinend eine Passage auf dem Dampfer „North-Star“ nach Aspinwall, Panama gegenüber, engagirte, indem er seinen Namen in der Liste der Passagiere eintragen ließ. Einen Tag vor der Abfahrt erschien er in der Office von Jones und Co., seinen alten Geschäftsfreunden, die ihn, weil sie mehr oder weniger sich an seinem Unglück schuldig fühlten, mit einem Gemisch von Freundlichkeit und Zurückhaltung empfingen.

„Ich bin nicht hergekommen,“ sagte er, „um Ihnen Vorwürfe zu machen, Mr. Jones, obgleich Sie mir sehr weh gethan haben, aber eine Gefälligkeit müssen Sie mir noch erweisen, darum muß ich bitten; dann soll auch Alles vergessen sein.“

„Und das wäre?“ sagte Jones, indem er ihm einen Stuhl hinschob und seine Verlegenheit zu verbergen suchte.

„Sie sehen, Mr. Jones, ich bin im Begriff nach St. Francisco zu reisen, um ein neues Leben anzufangen,“ antwortete Hargrave, indem er dem New-Yorker Kaufmann seinen Passageschein zeigte, „und ich habe mir fest vorgenommen, niemals wieder nach L. zurückzukehren, weil der Aufenthalt dort mir unausstehlich sein muß.

Ich möchte Sie nun dringend ersuchen, mir die Gründe anzuführen, auf welche Sie mir die Bitte abschlugen, meine Noten im Betrage von 9000 Dollars um sechs Monate zu verlängern. Sie wissen, die Creditverweigerung von Ihrer Seite war die erste Ursache meines Falles.“

„Ach, lieber Hargrave, geschehene Sachen sind nicht ungeschehen zu machen,“ klagte Jones, „beruhigen Sie sich doch. Wenn ich mich erinnere, so waren damals einige Gerüchte über Sie hier im Umlauf, welche von Ihrem damaligen Buchhalter ausgehen sollten.

Wir gaben wenig auf diese Gespräche, hielten uns aber als Geschäftsleute verpflichtet, bei der geheimen Agentur anzufragen, und empfingen dann einige Tage später eine Karte von Douglas und Co., deren Inhalt uns bewog, jene Schritte gegen Sie zu thun, welche wir jetzt so herzlich bedauern. Wenn Sie die Karte sehen wollen, so steht dieselbe Ihnen zu Diensten.“ Damit ging Mr. Jones nach der feuerfesten Geldspinde, öffnete eine Schublade und brachte ein kleines Couvert zum Vorschein, welches Hargrave hastig ergriff.

Seine Augen ruhten auf der verhängnißvollen Karte und sogen sich gleichsam daran fest. Er fand den Buchstaben E und die Zahlen 1 und 4 mit rother Tinte angestrichen, während auf der innern Seite des Converts sein Name zu lesen war. Ohne eine Miene zu verziehen, die den Zustand seiner Seele verrathen könnte, gab er die Papiere zurück, indem er sagte: „Mr. Jones, ich bin Ihnen dankbar für das Vertrauen, welches Sie mir soeben geschenkt haben; nach dem, was ich soeben gesehen, kann ich es Ihnen nicht übel nehmen, daß Sie damals feindselige Schritte gegen mich thaten. Eines versichere ich Sie: diese Karte enthält Nichts als faule Lügen. Doch, wie Sie eben sagten, geschehene Dinge sind nicht ungeschehen zu machen, und so will ich ruhig meine neuen Pläne verfolgen; vielleicht wird mir Californien das ersetzen, was ich im Westen verloren habe.“ Dann schüttelte er Mr. Jones treuherzig die Hand und eilte schnellen Schrittes auf die Straße. –




Es war am Weihnachtsabend desselben Jahres, und die Straßen von L. zeigten für diese Tageszeit eine ungewöhnliche Regsamkeit. Aus allen Schaufenstern strahlte das helle Gaslicht. Die Detailhändler machten vergnügte Gesichter, und eine Menge froher Menschen strömte durch die Gassen, theils um noch Einkäufe zu machen, theils um die festlich decorirten Läden zu bewundern. Das Wetter war trübe und die grauen Nebelmassen, welche aus dem großen Flusse aufstiegen, hingen wie ein dichter Schleier über den Straßenlaternen. Dafür war es aber in dem Innern der Häuser desto komfortabler, wo die flackernde Flamme des Kaminfeuers ihr helles Licht über die Gesichter glücklicher Menschen und bunter Teppiche warf. In dem eleganten Parlor eines hübschen Gebäudes mit weißer Marmorfronte finden wir ein paar alte Bekannte wieder, Mr. Cox und dessen cokette Ehefrau. Ersterer saß in einem bequemen Lehnstuhl, eine Cigarre rauchend und in einem Album blätternd, während Mrs. Cox am Centretable[1] stand und die verschiedenen Geschenke ihres Gemahls prüfend musterte. Da ertönte die Schelle des Hauses, und kurze Zeit nachher erschien das Dienstmädchen, eine kleine, aber gut geschlossene Kiste tragend, welche es auf den Tisch setzte.

Auf die Frage des Hausherrn, woher das Kistchen komme, antwortete die Magd, ein kleiner deutscher Knabe habe die Glocke gezogen und ihr an der Hausthür dasselbe mit der Bemerkung überreicht, es sicher in die Hände von Mr. und Mrs. Cox gelangen zu lassen. Nichts war natürlicher, als die Vermuthung, irgend ein Freund oder ein Verwandter habe sich das Vergnügen gemacht, dem Ehepaare am Weihnachtsabend eine angenehme Ueberraschung zu bereiten. Beide Gatten musterten das anonyme Geschenk mit sichtbarem Erstaunen, und die eitele Frau dachte vielleicht für sich, daß irgend einer ihrer stummen Verehrer ihr ein kostbares Cadeau übersandt habe. Neugierig prüfte sie die Schwere des Kistchens, welche ihr auffiel, dann erfaßte sie die Querleiste des Schiebedeckels und … da erschütterte eine gewaltige Explosion das ganze Haus, die Flamme im Kamine erlosch, Fensterrahmen und Laden flogen auf die Straße, und eine dicke Dampfwolke suchte sich aus den geborstenen Wänden den Ausweg. Die erschrockenen Nachbarn stürzten herbei, der Ruf „Feuer“ erscholl, und eine dichte Menschenmenge drängte sich vor dem Hause zusammen. Als der Rauch etwas abgezogen war, wagten sich die Muthigsten hinein, aber welcher Anblick bot sich ihnen dar, als man erst Licht angesteckt hatte und so das Unheil besser überblicken konnte! Cox und seine Frau waren dermaßen durch die Splitter einer Granate, deren Trümmer man in dem Zimmer fand, verletzt, daß sie nur noch wenige Stunden zu leben hatten. (Die nähere Beschreibung der fürchterlichen Wunden erspart uns wohl der mitleidige Leser.) Das arme Dienstmädchen, welches aus angeborener Neugierde in der Thür stehen geblieben war, um zu sehen, was etwa in der Kiste wäre, wurde hart dafür bestraft, indem es eine schwere, aber gottlob nicht tödtliche Wunde an der Schulter davon trug.

Nichts konnte die Schnelligkeit übertreffen, mit welcher die Behörden am Platze waren und die nöthigen Maßregeln trafen. Die neugierige Menge wurde rasch entfernt, Aerzte wurden herbeigerufen, die unglücklichen Verstümmelten in einem unversehrt gebliebenen Zimmer des Hauses gut gebettet und verbunden, und dann die sorgfältigsten Nachforschungen über die Ursache der Katastrophe angestellt. Außer den Trümmern und Fragmenten einer sogenannten Orsinibombe fand man ein verbogenes Pistolenrohr mit zerbrochenem Schloß. Es war also klar, daß das todbringende Wurfgeschoß vermittelst der Pistole, deren gespannter Hahn mit dem Schiebedeckel der Kiste durch irgend eine Vorrichtung in Verbindung gebracht war, abgefeuert wurde. Ein halb verbrannter und zerrissener Draht, der an einem kleinen aber starken Nagel hing und um den geknickten Drücker wahrscheinlich vorher befestigt war, gab weitere Aufklärung. Da die beiden unglücklichen Gatten im Todeskampfe lagen und somit keine Auskunft geben konnten, wurde das weniger verletzte Mädchen so schonend wie möglich befragt, und man erfuhr den Vorgang mit dem deutschen Knaben, eben wie er sich zugetragen hatte. Diesen auszuforschen war die Aufgabe der Polizei, und schon um zehn Uhr, zwei Stunden nach der Explosion, gelang es dem Citymarschall, denselben auf die Mayorsoffice zu bringen. Daselbst angelangt, gestand der übrigens unbefangene und unbescholtene Knabe, er sei, als er etwas vor acht Uhr habe nach Hause gehen wollen, in der Nachbarschaft der Cox’schen Wohnung von einem unbekannten Manne angeredet worden; derselbe sei in einen Mantel mit hinaufgezogenem Kragen gehüllt gewesen und habe ihn gefragt, ob er einen Quarter (1/4 Doll.) verdienen wolle; da seine Eltern sehr arm seien, habe er das Anerbieten angenommen, und der Fremde, der sich übrigens gehütet habe, den Gaslaternen zu nahe zu kommen, habe ihm dann das Kistchen übergeben mit der Weisung, es vorsichtig in das bezeichnete Haus zu tragen und bei der Ablieferung hinzuzufügen, dasselbe müsse direct in die Hände von Mr. und Mrs. Cox gelangen. Da er nichts Arges geahnt hätte, habe er keinen Anstand genommen, den Auftrag auszuführen, zumal da er für den erhaltenen Quarter seiner kranken Mutter etwas habe kaufen wollen.

  1. Centretable ist der elegante Tisch in der Mitte des Parlors
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 648. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_648.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)