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Seite:Die Gartenlaube (1861) 817.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Ein Beamtenleben.

Von Dr. J. D. H. Temme.
(Schluß.)


„Ich wollte Euch gute Nacht wünschen Kinder,“ sagte die Directorin. „Ich bin nicht wohl und wünschte hier zu bleiben.“

„Mutter, Du hast etwas Anderes,“ sagte der Gymnasiast.

„Du nanntest es das schwerste Unglück, Du wolltest es uns mitheilen,“ fügte die Tochter hinzu.

„Nicht heute, meine lieben Kinder. Ich bin in der That unwohl, der Kopf schmerzt mich. Morgen sollt Ihr Alles erfahren.“

Der Kopf mochte sie wohl brennend genug schmerzen. Die Kinder ehrten ihren Wunsch. „Gute Nacht, Mutter,“ bot Emilie, wie jeden Abend, ihr die Lippen dar, die heute nicht so frisch, wie sonst waren.

„Gute Nacht, meine liebe Emilie. Ich sehe, Du hast ein starkes Herz.“

„Der Vater hat mich aufgerichtet.“

„Und Dein klarer Geist wird Dich noch mehr aufrichten. Nur das Herz, das betrogen hat, muß zu Grunde gehen. Das betrogene erhebt sich zuletzt doch wieder.“

Sie küßte herzlich die blasse Tochter. Sie konnte fest, mit der ganzen Kraft, die sie sich errungen hatte, Abschied von ihr nehmen. Der Sohn nahete sich; der blühende, reich begabte, so viel versprechende Jüngling war der Stolz der Mutter. Er reichte ihr die Hand.

„Gute Nacht, liebe Mutter!“ Das war auch sonst sein Nachtgruß. Sollte er es heute bleiben? Konnte sie von dem Liebling ihres Herzens scheiden, ohne ihn an ihr Herz zu drücken, ohne ihre Lippen auf die seinigen zu pressen? Sie hob die Arme auf – sie zog sie zurück. Sie hatte auch dazu die Kraft.

„Gute Nacht, Oskar!“ Sie drückte seine Hand, die er ihr dargereicht hatte.

Die Kinder verließen sie, und erschöpft fiel sie auf ihren Stuhl. Sie sah nach dem Bette des kleinen Bruno, ob er schlafe. Der Knabe war eingeschlafen. Sie ließ jetzt erst ihren schmerzlichsten Thränen den ungestörten Lauf. Warum hatte die unglückliche Frau diese Kraft, von der sie jetzt so hoch und fest getragen wurde, nicht früher gehabt? Fragt, warum erst das Unglück die Kraft des Menschen reifen muß; das Unglück, wenn es zu spät ist. – Aber kann der Mensch zu seiner Kraft zu spät gelangen? –

Die gebrochene und doch so starke Frau hatte lange über ihr Unglück weinen müssen. Sie erhob sich und trat zu einem Kleiderschrank, der in dem Zimmer stand, und ordnete Kleider darin. Einen Shawl, einen Hut nahm sie heraus. Sie that Alles mit Ruhe und Festigkeit und verschloß den Schrank wieder. Sie legte den Shawl um ihre Schultern, setzte sich den Hut auf und kehrte an den Tisch zurück, an dem sie geschrieben hatte. Die beiden Briefe lagen noch da. Sie legte sie zusammen auf die Mitte des Tisches, daß sie Jedem, der an den Tisch trat, sofort auffallen mußten.

Dann stand sie auf einmal entschlußlos. Der entscheidende Augenblick war da. Sie wollte gehen; sie wollte sich trennen, von Allem, auch von den Kindern. Sie wollte sie verlassen, ohne sie noch einmal zu sehen. Sie lagen um sie her in ihren Bettchen und schlummerten keine drei Schritte von ihr. Sie brauchte ihre Augen nur aufzuheben und nach den Betten zu lenken, so sah sie die geliebten Wesen, die sie nicht mehr sehen, die sie nie wiedersehen wollte. Konnte sie sich von ihnen trennen, ohne sie noch einmal zu sehen? Sie senkte die Augen, sie erhob den Fuß und schritt zu der Thür. Sie konnte doch nicht.

Das Mutterherz weinte plötzlich laut auf. Sie flog von der Thür zurück und lag an dem Bette des jüngsten Kindes. Sie warf sich auf die Kniee vor das Bettchen, die Arme um das schöne Kind geschlungen, die Lippen auf das blühende Gesichtchen gepreßt.

„Mein liebes Mütterchen,“ sagte das Kind, das im Schlafe die heißen Küsse der Mutter fühlte.

Sie flog zu dem Knaben im Alkoven und warf sich auch über ihn. Er erwachte ganz.

„Nicht wahr, meine liebe Mutter, Du verläßt uns nicht?“

„Nie, nie, Ihr Engel meines Lebens!“

Die Kranke war wach geworden. „Mutter, ich bin durstig,“ bat sie mit ihrer schweren, trockenen Zunge.

Die Mutter mußte ihr jede Nacht den erfrischenden Trunk reichen. Sie war schon an dem Tische, auf dem die Wasserflasche mit dem Glase für das Kind stand. Sie füllte das Glas und ließ das Kind trinken.

„Danke Dir, trauteste Mutter.“

Sie stellte das Glas zurück. Konnte sie fort – fort von dem Liebsten auf der Welt? Und doch mußte sie. Sie fiel betend auf die Kniee.

„Herr, hoher Herr des Himmels, zeige Du mir den Weg! Den Weg der Buße, der schwersten Buße für mich, des Glückes für die Anderen.“

Die Thür des Zimmers öffnete sich. Ihr Gatte trat in das Zimmer. Sein Gesicht war noch bleich, wie am Tage, aber es war finsterer. Er sah sie auf ihren Knieen liegen, die Hände zum Gebet gefaltet. Er sah sie angekleidet zum Ausgehen. Die Miene


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 817. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_817.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)