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Seite:Die Gartenlaube (1861) 742.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

eine über alle Maßen defecte Kleidung über seiner Haut hängen hat. In der Ebene wohnen die reichen Bauern, die nur stattliche Kühe, aber keine Ziegen halten. Diese letztern sind blos Eigenthum armer Häusler und Handwerker, bilden also unter den Milchlieferanten eine verachtete Kaste, sind die Parias unter den Gehörnten, und dieses Verhältniß wirkt in sehr betrübender Weise auf den gesellschaftlichen Rang des Geißbuben selbst zurück.

Schon ganz anders gestaltet sich aber die Sache droben, in den schmalen Thälern des Hochgebirgs, wo der stolzen Bauernaristokraten nur wenige mehr zu finden sind, der schmale, von Geröll und Felsstücken vielfach verkümmerte Boden größern Viehheerden keinen Spielraum mehr darbietet, und die zierliche, jedem einsam wachsenden Grasbüschel nachkriechende Ziege ein für Jedermann hochwichtiges Hausthier ist. Hier oben, wo himmelhohe Felswände, in die Wolken emporstrebende Gletscherpyramiden das Thal umsäumen, wo die Gießbäche wie übermüthige Jungen sich von den Felsterrassen stürzen, und in tollem Laufe das trümmerreiche Bett durchrauschen, da ist das idyllische Element des Geißbuben. Da ist er schon ein ganz anderer Bursche, eine durch und durch poetische Figur, wie er da so auf einem mit Gebüsch und Moos bekleideten mächtigen Granitfündlinge oder Glimmerblock sitzt, den die vulcanischen Kräfte beim geräuschvollen Werdetag des Gebirgs zu Thal geschleudert, oder langsame wirkende neptunische Einflüsse von der überhängenden Felswand gelöst haben. Da lungert der rothbackige zehn- bis fünfzehnjährige Schlingel im sonnigsten Nichtsthun auf seinem felsigen Throne, schaut in den blauen Himmel hinein, oder hinunter die gebüsch- und trümmerreiche Halde, an deren Fuß der Gebirgsfluß sein tolles Wesen treibt, und silbern schäumend seinen Gischt in die Höhe schleudert. Zwischen den Steintrümmern umher weiden die muntern, klugblickenden Ziegen, und das Gebimmel ihrer Glöcklein mischt sich in wundersamer Harmonie mit dem Rauschen des Waldstroms oder dem donnernden Grollen des nahen Wasserfallen. Wie gesagt, er ist schon ein ganz prächtiger Bursche, der Geißbube hier unten, beneidenswerthe Selbstzufriedenheit und Klugheit strahlen in wohlthuender Weise aus dem hellen Auge, das ohne Scheu, blos mit freundlicher Neugierde den vorbeistreifenden Wanderer betrachtet, und auf Gruß und Frage giebt er unbefangenen, oft mit kaustischem Naturwitz gewürzten Bescheid. Und warum sollte er auch nicht so sein? Das „im Täschli ha–n–i Käs und Brod“ des Dichters hat hier seine volle Richtigkeit; Gefahren bietet, ohne etwa die freiwillig gesuchten, der Beruf hier keine, und die Luft ist von einer Frische und von einem Reichthum an Sauerstoff, daß an Appetitmangel kaum zu denken ist.

Trotz all der bestehenden Vorzüge aber, die der Geißbube des Hochthales unbestritten auf sich vereinigt, ist er doch immer noch keineswegs der echte Geißbub, mit dem wir es eigentlich hier zu thun haben, kaum ein schwacher Abklatsch des richtigen Individuums.

Hoch oben an den Rändern des letzten zwerghaften Baumwuchses, in der unmittelbaren Nachbarschaft der höchsten mit ewigem Eis gepanzerten Hochgebirgszacken, stundenweit von jeder Menschenwohnung entfernt, oft 6–8000 Fuß über der Meereshöhe, wo nur noch der Alpenrosenstrauch und die Legföhre dem Frost eines neun Monate langen Winters und den sausenden Stürmen, die da oben ihr Spiel treiben, Widerstand zu leisten vermögen, in dieser todtenhaft stillen Wildniß, die bei all ihren Schrecken doch durch ihre düstere Erhabenheit so wundersam packend einwirkt auf den Wanderer, dessen scheuer Fuß sie zum ersten Male betritt, wo Weg und Steg verschwinden, wo keine Kuh mehr hinaufgetrieben werden kann und selbst das im Klettern noch Erhebliches leistende Schaf sich nicht mehr hingetraut, weil der Abhang zu jäh und zu schroff, der Zugang zu schwierig und gefährlich ist, da, in der majestätischen Grabesstille der einsamen Gebirgsregion, tönt Dir plötzlich sanftschwellendes, märchenhaft in einander verklingendes Läuten und Klingeln entgegen: Du schaust verwundert um Dich, und hoch über Dir, auf einer mit schwachem, dürftigem Grün überflogenen Felsterrasse siehst Du eine Gruppe leichtfüßiger, gazellenartiger Thiere weiden oder vielleicht, durch das Rollen eines Steines, den Dein Fuß aus seiner Lage gebracht, aufmerksam gemacht, neugierig auf Dich herniederschauen. Dir entfährt ein Laut der Ueberraschung – die zierlichen, schlanken Formen der Thiere, selbst ihre häufig lichtbraune Farbe und der halsbrechende Standpunkt, auf dem sie sich bewegen, haben für einen Moment den Glauben in Dir hervorgerufen, Du befindest Dich endlich einem jener von Touristen mit nutzloser Sehnsucht erspähten und ersehnten Gemsrudel gegenüber, die selbst in den höchsten Regionen des Gebirgs beinahe zur Mythe geworden sind. Du lächelst bald über Dich selbst und Deinen leicht verzeihlichen Irrthum; denn schärfer hinsehend bemerkst Du leicht, daß das Klingeln und Läuten, die silberhellen Glockentöne, die Dich vorhin so seltsam ergriffen, von kleinen Schellen herrühren, welche die vermeintlichen Gemsen am Halse tragen, und jetzt hast Du auch den frevelhaft kecken Burschen entdeckt, der oben auf der Felskante sitzt und die Beine sorglos, über den Rand herunterhängt, unbekümmert darum, daß eine Bewegung, ein Losbröckeln des mürben Gesteins ihn in die Tiefe rollen lassen könnte, aus der man seine Gebeine nur in zerschmettertem Zustande wieder heraufholen würde. Er hat Dein Nahen bemerkt, und schaut Dich mit einem eigenthümlich überraschten, wildscheuen Blicke an; denn er begreift wahrscheinlich nicht recht, was Du „vornehmer Herr“ da oben in seinem Königreiche willst, und rührt sich mit dem trotzigen Gleichmuthe eines Indianerhäuptlings nicht von der Stelle, wenn Du nicht mit besonders freundlichen Worten Dir seine Gewogenheit zu erwerben weißt. Das ist der Geißbub von echtem Schrot und Korn, ein Bursche so recht eigentlich aus demselben Stoff gemacht, wie die gewaltigen Gebirgsmassen, die sich rings um ihn in ihrer ganzen wilddüstern Erhabenheit aufthürmen, oder als scheinbar frei in den Lüften hängende Felsterrassen in jähen, schwindelnden Abstürzen zu seinen Füßen ausdehnen. Er ist hier der wahre König des Gebirgs, dem kein Sterblicher sein weites Reich streitig macht. Gegen ihn ist der Geißbub drunten im Thale ein bloßer Dorfjunker, derjenige in der Ebene des Flachlandes ein purer Lump. Des Morgens früh mit dem ersten Sonnenstrahle hat er mit seinem Horne die flinken Unterthanen drunten im Bergdörfchen zusammengeblasen, und ist jauchzend und singend, auf schwindelnden, für gewöhnliche Menschenkinder kaum gangbaren Wegen, über schaurigen Abgründen, auf schmalen Felsterrassen dahin gezogen, hinauf in’s Reich der Lüfte, wo der Lämmergeier und der Goldadler sonst einsam horsten. Da oben braucht’s ein ganz anderes Naturell, als in der Ebene, um auf Pfaden, die sonst kein Menschenfuß betreten, kein Auge nur entdeckt hatte, die Ziegen zu den grünen, wie in den Lüften flatternden Rasenbändern zu führen, und dabei ein stets wachsames Auge zu haben für die Gefahren, mit denen die Schrecknisse des Gebirgs fortwährend seine Schützlinge bedrohen.

Er ist aber auch ganz der Mann zu diesem Wächteramt. Fast unglaublich klingt es, wie weit sein adlerartig geschärftes Auge sehen kann. Täglich und stündlich genöthigt, auf Punkte hinzuschauen, die anscheinend ganz nahe liegen, wie z. B. die auf der andern Seite der Thalschlucht sich gigantisch aufthürmende Felswand, die ein Ungeübter mit einem Steinwurfe glaubt erreichen zu können, die aber in Wirklichkeit stundenweit entfernt ist, hat seine Sehkraft eine solche Ausdehnung gewonnen, daß er auf Entfernungen, wo ein Bewohner der Ebene kaum ein paar schwarze Punkte erkennen würde, genau die weidende Gemsgruppe unterscheidet und er selbst jede einzelne Bewegung der Thiere beschreiben kann. Eben so gut wie mit seinen Augen ist es mit seinen Gliedmaßen bestellt. Keine Furcht, keinen Schwindel kennend, ist der Geißbube der verwegenste und unermüdlichste Kletterer; nimmt nichts sonst seine Zeit in Anspruch, so erklimmt er zu seinem bloßen Vergnügen Zacken und Zinken, bei deren bloßem Anblick den Beschauer der Schwindel erfaßt, und gleitet auf Felsenbändern, so schmal wie der Rücken eines Folianten, über schauerlichen Abgründen dahin, ohne daß die mindeste Besorgniß ihm einen Tropfen Schweißes auf die sonnenbraune Stirne triebe. Das ist aber auch bei seinem Gewerbe eine absolute Nothwendigkeit. Die gleiche verwegene Kletterlust, die dem Hüter innewohnt, beseelt auch seine gehörnten Schützlinge. Je mehr Schwierigkeiten die Passage darbietet, um so eifriger wird die Alpenziege daran gehen, um einen isolirten Punkt zu erreichen, wo einige würzige Kräuter auf schmalem Felsvorsprung in verlockendem Grün prangen; sie wird oft unbedenklich den Sprung über den 8–12 Fuß hohen Absatz hinunter wagen, um zu ihrem Ziele zu gelangen, denn die Bergziege ist eine sehr nahe Base von der Gemse. So geht’s oft weit hinunter, von Absatz zu Absatz, und ist für das genäschige Thier auf ein Stündchen ein Leben in Herrlichkeit und Freuden.

Bald aber, wenn die wenigen Gräser abgeweidet sind, oder der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_742.jpg&oldid=- (Version vom 27.11.2022)