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Seite:Die Gartenlaube (1861) 083.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

und nach schien sich das Mitleid in ein gewisses Interesse, selbst in Erstaunen zu verwandeln. Sie machte mir verschiedene Zeichen, die ich aber nicht verstand. Endlich, nachdem sie die Frau wiederholt beobachtet, schien sie ihrer Sache gewiß zu sein und raunte mir in’s Ohr: „Wissen Sie, wer die Frau ist?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Laurabella!“ flüsterte Else weiter. „Weiß der Himmel, es ist die Laurabella, die große Laurabella, das erste Sujet der Gesellschaft, die berühmte Reiterin, der Liebling des Publicums und das Ziel aller Stutzer, die Rivalin der Cuzent und heute so berühmt, wie vor einigen Jahren Landrinette und Adelheid Hinne. Eine Heroin des Circus; – seit vierzehn Tagen schlagen ihr in Amsterdam tausend Herzen voll Sehnsucht entgegen. Die kennen Sie nicht? Sie sind sehr zurück.“

Während mir Else so in’s Ohr flüsterte, sing das Kind zu weinen an. Laurabella erhob sich und ging an das Thor, so fern als möglich von der betenden Gemeinde, und lief dort tänzelnd auf und ab, indem sie das Kind auf den Armen wiegte. Else folgte ihr voll Neugierde und wie unwillkürlich. Als das Kind wieder ruhiger wurde und Laurabella am Scheunenthor in einem Winkel stehen blieb, näherte sie sich ihr mit jener Neugierde, welche die Frau der guten Gesellschaft der Frau gegenüber, die einer abenteuerlichen Welt angehört, immer empfindet und der sie gerne die Zügel schießen läßt, wenn es die Umstände erlauben.

„Ihr armes Kind ist krank?“ fragte sie theilnehmend.

„Seit mehr als acht Tagen.“ seufzte die Angeredete; „das arme Würmlein, wie soll es genesen? Seit fünf Tagen sind wir auf der Reise – keine Ruhe, keine Pflege möglich – kaum daß ich mit einem Arzte sprechen konnte.“

Sie sagte das Alles so traurig und in kurzen abgebrochenen Worten, daß Else’s Theilnahme sich in wahrhaftiges Mitleid verwandelte. „Nun,“ sagte sie tröstend, „Sie gehen ja nach Amsterdam, soviel ich weiß; dort finden Sie Aerzte und werden das Kind in Ruhe pflegen können.“

„Wenn wir nur erst dort wären! Wir bewegen uns mit unsern Pferden und dem ungeheueren Gepäck so langsam fort, und morgen müssen wir des Feiertages wegen hier rasten.“

„Könnten Sie nicht voraus reisen?“

„Wir dürfen nicht reisen an einem so hohen Feiertag, mein Fräulein; es ist der Versöhnungstag, der höchste und strengste Feiertag der Juden.“

„Ich glaubte immer, Sie wären eine Spanierin?“ sagte Elfe in fragendem Tone.

Laurabella lächelte. – „Eine Spanierin bin ich nur auf der Affiche, und nur auf der Affiche heiße ich Laurabella. Im Leben heiße ich Jettchen Mannheimer und bin aus Paderborn. Das thut man so. Für Jettchen Mannheimer hätte sich kein Stutzer der Welt interessiert, aber Senora Laurabella aus Valencia ist schnell berühmt geworden.“

Laurabella schien bereit, noch Manches in ironischem Tone ihrer Rede hinzufügen zu wollen, aber sie unterbrach sich plötzlich und ging rasch auf ihren vorigen Platz zurück, denn das Gebet begann.

„Jetzt horchen Sie!“ sagte ich zu Else.

Der Vorsänger hatte sein stilles Gebet vollendet und begann das laute, das mit den Worten anfängt: „Alle Gelübde, alle Schwüre.“

Die traditionelle Melodie dieses Liedes, die vielleicht Jahrhunderte alt, ist überaus melancholisch, sanft und herzergreifend, wenn sie von einem geschickten Sänger vorgetragen wird. Herr Wullenweber, der Director der Kunstreitergesellschaft, der den Vorbeter machte, schien musikalischen Sinn zu haben, denn er machte sie in ihrer ganzen tiefen Melancholie geltend. Kaum hatte er einige Takte gesungen, als bereits die Weiber zu schluchzen anfingen und selbst einige der betenden Männer, die vor ihnen standen, tiefe Seufzer ausstießen. Bald erscholl lautes Weinen und mit solcher Heftigkeit, als wäre es den Betenden nicht möglich, das überwallende Gefühl zurückzudrängen. Die christlichen Mitglieder der Truppe, die da und dort in der Scheune auf dem Stroh lagen, erhoben die Köpfe und blickten die zerknirschten und weinenden Beter mit eben so viel Erstaunen an, wie meine Begleiterin.

„Was mögen nur die hebräischen Worte sagen, die der Vorbeter singt?“ fragte Else.

„Diese Worte,“ antwortete ich ihr, „haben eigentlich nichts, was die Beter so sehr rühren könnte, auch verstehen sie sie nicht.“

„Warum weinen sie denn so sehr? Die Melodie ist zwar sehr originell und rührend, aber doch nicht so sehr aufregend.“

„Mein Fräulein,“ sagte ich, indem ich mich zu ihr setzte, „die große Feier beginnt. Morgen ist der große Gerichtstag, da tritt der Böse vor den Herrn und klagt an, grade so, wie Sie es aus dem Faustprolog im Himmel kennen. Morgen werden die Schicksale der Menschen für dieses ganze Jahr festgestellt, in ein Buch geschrieben und besiegelt. Morgen werden die Sünden vergeben oder die Strafen für die unverzeihlichen bestimmt von Gott, dem Allmächtigen. Da wird bestimmt, wer durch Feuer, wer durch Wasser, wer durch Pest zu Grunde gehen soll – da wird jegliches Glück und Unglück verhängt. Alles Elend, das diese Elenden in diesem vergangenen Jahre getragen, ist ihnen so am letzten Versöhnungstage verhängt werden. Nun, mit dem Beginn der Feier, erinnern sie sich plötzlich aller Drangsale, aller Mühseligkeit, aller Verluste, aller Schmerzen und, ach, aller Verachtung, die sie in diesem Jahre getragen. Sie weinen vor Gram über Vergangenes und vor Angst vor dem Zukünftigen. O, ihre Herzen sind in diesem Augenblicke vorn gesättigtsten Kummer erfüllt; alle Leiden des Menschen, alle Leiden ihres Standes und vorzugsweise alle Leiden des Juden stehen jetzt in Schaaren vor den Augen ihrer Seele.“

„Sie sind ein Poet,“ sagte Else lächelnd, „glauben Sie, daß Laurabella, die als Sylphe durch sechs Reifen springt und vier Pferde zugleich reitet, dasselbe fühlt?“

„Sehen Sie Laurabella jetzt an,“ antwortete ich.

Laurabella hielt mit beiden Armen das Kissen umklammert, in welches ihr Kind gehüllt war, und hielt sich so vorgebeugt, daß ihre Wange auf dem Kissen ruhte. Das Tuch war ihr halb vom Kopfe gesunken, und ihre dicken, schwarzen Haare fielen wie ein schwarzer Schleier über das halbe Gesicht. Ihr ganzer Körper zuckte krampfhaft unter dem Schluchzen, das aus tiefstem Herzen zu kommen schien, während das Kissen, auf dein ihr Kopf lag, von Thränen naß war.

„Sonderbar,“ sagte Else kopfschüttelnd, „wer hätte sich Laurabella jemals so vorgestellt? Und Sie, lieber Freund, was ist Ihnen? Sie sehen ja eigenthümlich aus.“

„Vielleicht etwas ergriffen,“ sagte ich und legte mein Gesicht in beide Hände.

Indessen war jenes Lied zu Ende gesungen; es folgten andere, dann wieder Gebete, die entweder still oder etwas lauter monoton hingemurmelt wurden. Das Ungewitter hatte sich auch beruhigt und der Regen fiel klopfend auf die Holzdecke der Scheune. Der Regen, das Murmeln der Beter, die Athemzüge der Schläfer woben, da auch das heftige Weinen aufgehört hatte, durch den ganzen Raum ein traumhaftes Gewebe von Tönen. Ich brütete, vertiefte mich in alte Erinnerungen und empfand endlich ein so schmerzliches Behagen, daß ich selbst ungeduldig wurde, wenn mich Else mit Fragen nach diesem und jenem im jüdischen Cultus oder auch nach den Ursachen meiner Vertiefung störte. Als dann der Vorsänger das Lied begann: „Wie der Thon in der Hand des Töpfers, wie das Silber in der Hand des Goldschmieds, so sind wir in der Hand des Schöpfers,“ fiel ich mit halber Stimme ein und sang zum größten Erstaunen Else’s die Melodie mit, wie eine allbekannte.

„Woher kennen Sie das Alles so genau?“ fragte sie, „und überhaupt was ist Ihnen? Sie sind, wie ich Sie nie gesehen habe, aufgeregt, vertieft, gerührt, als ob Ihnen plötzlich ein Unglück geschehen wäre. Erklären Sie mir –“

„Kommen Sie,“ erwiderte ich, indem ich aufstand, „der Regen hat aufgehört; sind wir in freier Luft, will ich Ihnen erklären.“

Wir sagten noch Laurabella Adieu, schwangen uns auf die Pferde, die derselbe Junge uns vorführte, der sie uns abgenommen hatte, gaben diesem ein Trinkgeld und trabten davon. Die Nacht war nach dem Gewitter klar und heiter geworden: der Mond trat aus den Wolken, die sich am Himmel verspätet hatten und nun mit Eile den verschwundenen Gewitterwolken nachzufliegen schienen. Wir sahen weit in’s Land hinaus; die breiten Straßen lagen weiß und deutlich vor uns.

„Nun,“ sagte Else, indem sie plötzlich ihr Pferd langsamen Schrittes gehen ließ, „nun erklären Sie mir, wie Sie zu der Kenntniß dieser jüdischen Bräuche gekommen sind, woher Sie selbst diese

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_083.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)