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Seite:Die Gartenlaube (1860) 278.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Burschen, der Alles sieht, was um ihn webt und lebt, an Allem Theil nimmt, sich an Allem freut, sitzen Seite an Seite zwei ganz verschiedene Wesen – andere Repräsentanten von Jugend und Alter: ein junges Mädchen das Eine, ärmlich, aber sauber und anständig gekleidet, bleich und schüchtern dabei, denn die vielen fremden Menschen ist sie nicht gewohnt. Und doch will sie gerad’ allein in’s Leben ziehen, allein und unbeschützt, die eben noch des Schutzes so sehr bedürfte. Als Gouvernante sucht sie eine Stelle, und wenn auch mit all den dazu nöthigen Kenntnissen ausgestattet, fehlt ihr doch der Muth, dem künftigen Schicksale fest in’s Auge zu schauen, fehlt ihr die Zuversicht noch auf sich selbst. Ist sie ja doch noch so jung, und leise nur und verstohlen hebt mancher schwere Seufzer ihr die sorgenvolle Brust.

Und wie verschieden von ihr sitzt ihr Nachbar mit ihr auf derselben Bank! Der „Vieh-Veitel“ – wie ihn die Bauern nennen, weil er ausschließlich mit Vieh handelt, ist eine kurze, schwammige, gedrungene Gestalt, in sich zusammengedrückt, und die kleinen Augen halb zugekniffen. Das verhindert ihn aber nicht, Alles, was um ihn her vorgeht, scharf und aufmerksam zu beobachten, und die dicken, schmutzigen, mit einem breiten Siegelring verzierten Finger auf einem schweren, um den Leib geschnallten Geldgurt gefaltet, die Wäsche unsauber, und doch auf dem mehrtägigen Vorhemdchen eine unechte Tuchnadel, die alte fettige Mütze neben sich gedrückt, die grauen Haare wirr und ungekämmt um die hohe gewölbte Stirn hängend, so sitzt er da, lauernd, wie eine fette, gesättigte und doch wieder beutegierige Spinne, den letzten Handel berechnend, den nächsten überlegend. Was kümmert ihn die Reise selber! sie dient nur dazu, ihn rasch von Ort zu Ort zu schaffen; je schneller das geschieht, desto besser; und seine Mitpassagiere? – was scheeren ihn die; ist doch mit ihnen kein Handel abzuschließen!

Ihm gegenüber sitzt sein vollständiges Gegentheil. Wohl wissen wir, daß es nicht zwei Menschen auf der Welt gibt, die sich einander vollkommen ähnlich sehen, aber man sollte trotzdem doch nicht glauben, daß zwei – im Aeußeren wenigstens – so verschieden sein könnten.

Das Gegenüber des Vieh-Veitels ist ein junger geschniegelter Mann – natürlich commis voyageur, die eingeölten und gekräuselten Haare mitten auf dem Kopfe bis hinten in die Cravatte hinein gescheitelt, daß es ordentlich aussieht, als ob der Kopf einmal mitten voneinander gebrochen und nur nothdürftig wieder verkittet wäre. Er ist äußerst modern und eng gekleidet, nur mit sehr weiten, kirschroth gefütterten Aermeln, mit sechs, sieben Ringen an den Fingern der rechten Hand, die linke in einem Glacéhandschuh, mit echt goldener – oder vergoldeter Uhrkette, Tuchnadel, Hemdknöpfchen, Rockhalter und eine Kneiplorgnette im rechten Auge, das junge, gar nicht auf ihn achtende Mädchen damit zu fixiren. Ein geöffnetes Taschenbuch, das getrocknete Blumen, Locken und Wirthshausrechnungen enthält, liegt auf seinem übergeschlagenen Knie, und nachdenkend hebt er den Bleistift zwischen die mit einem kleinen Schnurrbart gezierten Lippen – er muß seine Kostenberechnung vom letzten Nachtquartier zusammenstellen. Jetzt ist er damit fertig, steckt das Buch ein und nimmt eine gestickte Cigarrentasche vor, knipst seine Fünfpfennig-Cigarre mit einem an der Uhrkette hängenden goldenen Hufeisen ab, zündet sie mit einem Patentfeuerzeug an und erkundigt sich dann, um ein Gespräch anzuknüpfen, bei dem jungen Mädchen, ob ihr das Rauchen vielleicht unangenehm wäre.

„Nein,“ sagte sie leise, ohne ihn anzusehen.

„Sehr schönes Wetter heute, mein Fräulein!“

Keine Antwort.

„Reisen Sie weit mit uns?“

„Nein.“ Lange Pause.

„Ihr Arbeitskorb wird Sie belästigen.“

Keine Antwort, der Jüngling dampft stärker; das Gespräch ist total abgebrochen, der Vieh-Veitel lacht still und vergnügt vor sich hin, denn er haßt Jeden, der reine Wäsche trägt, und der commis voyageur findet das „Landgänschen abominabel abgeschmackt.“

Neben ihm sitzt eine ältliche Dame, die fortwährend den Rauch gerade in’s Gesicht bekommt und schon ein paar Mal heftig husten mußte, aber ihr Nachbar bemerkt es nicht. Der commis voyageur lebt nur ganz sich selbst, und wie der Auswanderer keine Zukunft, der auf Ferien gehende Knabe keine Vergangenheit kennt, so existirt für ihn weder die eine noch die andere, denn Alles, was für ihn Berechtigung hat zu sein, ist nur die Gegenwart. Er reist für Breihuber und Comp., eines der geachtetsten Häuser in Xstadt – er führt reizende Proben mit mäßigen Preisen, hat vortreffliche Diäten und Procente, und ist einer der glücklichsten Sterblichen, weil er eben nicht einsieht, daß er einer der unbedeutendsten ist. Ihn drängt auch keine Zeit, und doch sitzen neben ihm und ihm gegenüber zwei andere Personen, die selbst die Minuten zählen und vor Ungeduld vergehen wollen, wenn der Zug auf den Stationen zögernd hält.

Die alte Dame neben dem glücklichen commis voyageur eilt an das Sterbebett ihres Kindes – ihrer einzigen Tochter – die weit von da erkrankt ist und sich nach der Mutter sehnt. Die Stunden wachsen ihr dabei zu Wochen, zu Monaten an, und wieder und wieder nimmt sie einen zerlesenen, zerweinten Brief aus ihrem Arbeitsbeutel, die traurigen Zeilen, die er enthält, noch einmal verstohlen zu durchlesen. Wohl kennt sie den Inhalt schon lange auswendig, wohl weiß sie jedes Wort, das darinnen steht, denn das Herz ist ihr ja fast darüber gebrochen – aber möglich bleibt es ja doch, daß sie trotz alledem noch irgend einen bis dahin übersehenen Trost herausfände, denn an die letzte Hoffnung klammern wir uns an.

Der Andere ist ein kräftiger Mann mit lockigem Haar und vollem Bart, sonngebräunt, mit wetterharten Zügen, und im Schnitt seiner bequemen einfachen Kleidung den Seemann kündend. Und nach langer, langer Fahrt kehrt er zurück in’s Vaterhaus; nach langen Jahren grüßen zum ersten Mal wieder der Mutterlaute süße Töne sein Ohr, und still und in sich gekehrt, aber einen ganzen Himmel von Glück im Herzen, sieht er die Lerche draußen im Feld emporsteigen, hört er, wie der Zug hält, der Dorfglocken melodisch Getön.

In die eine Ecke fest hineingepreßt, den Hut in die Augen gezogen, den Rock bis oben hin zugeknöpft, sitzt ein bleicher, hagerer Mann. Auch er ist ein Reisender, aber weder die aufsteigende Lerche sieht er, noch hört er das Läuten der Glocken; nur wenn der Wagenschlag sich öffnet, fliegt sein scheuer Blick zum Conducteur hinüber, und wer die Hand dann an sein Herz legen könnte, würde fühlen, wie es da drinnen stärker klopft und hämmert.

Neben ihm sitzt ein Kind, das zum ersten Mal mit dem Bahnzug fahren durfte und jubelnd den vorüberfliegenden Bäumen und Häusern nachjauchzt. Die Mutter aber hält es an der Hand, ängstlich, daß es aus der festverschlossenen Thüre fallen könnte, und doch dabei mit lächelndem Blick die Freude des Lieblings schauend. Und immer drängt das kleine, muntere, muthwillige Wesen aus der Mutter Griff, stützt sich, das lichte Antlitz zu der Glasscheibe hebend, auf des bleichen Mannes Knie und schaut nur manchmal verwundert zu ihm auf, daß er allein so still und bleich und krank aussieht und seine kindische Lust nicht theilen will.

Auf dem Telegraphendrahte hin fliegt indeß die Nachricht von einem verübten großartigen Cassendiebstahl, und dem bleichen Mann ist es, als ob eben diese Drähte – wie sie schlangengleich neben dem Fenster hinschossen – ein Netz, ein dichtes, festen Netz um ihn zögen, das ihn, je weiter er flöhe, immer enger und enger umstricke. Er sieht nicht das lächelnde Kind zwischen seinen Knieen, er hört sein fröhliches Plaudern nicht, und wie es ihn fortdrängt, weiter und immer weiter, ist das Bewußtsein seiner Schuld das einzige Gefühl, das ihn erfüllt.

Und solch eine Mischung von Charakteren birgt oft ein einziges Coupé – aus solchen Elementen besteht wie häufig ein kleiner Trupp von Reisenden, die für eine oder mehre Stationen, oft auch tagelang zusammenhalten, bis sie auseinanderstieben, ohne Gruß, ohne Handdruck, wie sie gekommen – Jeder seine eigene Bahn verfolgend.

Das ist Reisen, und das Ganze eigentlich nur ein Miniaturbild unseres Lebens überhaupt. Der endlose Bahnzug kreist seinen wirbelnden Flug, gefüllt mit Passagieren, und hier und da, an einzelnen Stationen, nimmt er neue auf, setzt er alte ab, rastlos, ununterbrochen, ohne sich um den Inhalt seiner Fracht zu kümmern. Manche der Passagiere fahren dabei erster, Viele zweiter, die Meisten dritter Classe; verlassen sie aber den Zug, sind sie sich Alle gleich, und die Weiterbrausenden drehen nur höchstens den Kopf nach ihnen um und nicken ihnen zu.

Wunderliches Leben das, in der Welt! wunderliche Reisende, die wir sind!

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_278.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)