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Seite:Die Gartenlaube (1859) 676.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Ich flog davon, erreicht den Oberst, der wieder gemüthlich auf der Pulvertonne Platz genommen hatte, in wenigen Minuten und rapportirte die Entgegnung des kleinen Capitains.

„Ho, ho!“ rief der Alte aufspringend, „den zungenfertigen Herrn werde ich in seine Stellung zurückweisen.“ Nach seinem Pferde fragend, setzte er hinzu: „Lassen Sie sich nicht stören, Herr Major. Sie müssen mich entschuldigen, ich bin da drüben durchaus nöthig, sonst nimmt der Unsinn überhand. Ich kenne den Mann, das ist ein Leuteschinder, aber auch weiter nichts.“

Noch einen Blick voll tiefer Wehmuth warf ich auf das für mich verlorene Frühstück hin, dann sprang ich mit Resignation in den Sattel, um dem eilig davonjagenden Brigadier zu folgen.

Als wir der Demontir-Batterie bis auf Gehörweite nahe gekommen waren, rief der Oberst dem Capitain F. ein vernehmbares „Halt“ zu. Das Feuer schwieg. Der Capitain trat meldend auf den Brigadier zu.

Dieser ließ ihn nicht zu Worte kommen. „Hauptmann F.,“ fuhr er ihn an, „ Sie müssen die Geschütze mit Maulwürfen besetzt haben, sonst könnten Sie unmöglich mit solcher geschickter Ungeschicklichkeit das Polygon fehlen.“

Nachdem er vom Pferde gestiegen war, fuhr er fort: „Aber ich weiß schon, woran das liegt. Da richtet zuerst der Bombardier, dessen Richtung der Unterofficier mit den vom Branntwein gerötheten blöden Eulenaugen verbessert, dann hilft der Herr Lieutenant, obgleich er in Folge der vielen nächtlichen Studien ohne Gläser kaum zehn Schritte weit sehen kann, und endlich gibt der Herr Hauptmann den letzten Senf dazu, und dann geht die Kugel auch richtig haushoch über das Ziel hinweg. Viele Köche verderben den Brei! Lassen Sie den Mann, der dazu bestimmt ist, allein richten und Sie werden auch Treffer haben. Ich werde Ihnen den Beweis sogleich liefern. Lassen Sie laden. Aber daß sich Niemand einfallen läßt, die Richtung des Bombardiers verbessern zu wollen.“

Die Batterie chargirte und feuerte demnächst. Schuß auf Schuß traf das Ziel.

„Na, wer hat nun Recht?“ rief der Oberst triumphirend. „In den Tag hineinschwatzen kann jedes alte Weib, aber die Sache beim richtigen Ende anzufassen, versteht nicht ein Jeder. Die schlimmsten Raisonneure sind stets, das weiß ich aus langjähriger Erfahrung, die unfähigsten und energielosesten Patrone.“

Der Capitain wollte eine Entgegnung wagen. „Schweigen Sie,“ rief der Alte mit einer Stimme, in welcher sich der heftigste Zorn aussprach. „Wenn Sie meinen, daß ich Ihnen zu viel gesagt habe, so steht Ihnen der Weg der Beschwerde offen; hier aber muß ich um Gehorsam bitten. So lange ich diese Epaulettes trage, werde ich meinem Grade Achtung zu verschaffen wissen, und wer es wagen wollte, sich dagegen zu vergehen, dem sollen Millionen Donnerwetter in den Magen fahren. – Lassen Sie laden.“

Der kleine Capitain bebte vor Zorn, wagte aber kein Wort der Erwiderung. Das Commando zum Laden wollte kaum aus der durch die gewaltige Erregung zusammengepreßten Kehle heraus und klang so heiser, wie das Bellen eines kleinen Hundes.

Die Batterie feuerte, und abermals wollte es der Zufall, daß ein jeder Schuß das Polygon traf. Der Capitain bebte vor Wuth. Er konnte diesen Zustand der fürchterlichsten Aufregung nicht länger ertragen, sondern zog es vor, sich krank zu melden, um dadurch für heute vom Dienste enthoben zu werden.

„Gehen Sie,“ sagte der Alte, „und lassen Sie sich eine tüchtige Dosis Brausepulver reichen, das soll gegen gewisse Zufälle ganz außerordentliche Dienste leisten.“

„Ich muß Sie bitten, Herr Oberst, Ihren ärztlichen Rath so lange zurückzuhalten, bis ich Sie darum ersuchen werde,“ bemerkte der kleine Mann mit Ingrimm, indem er sich mit militairischem Gruße verabschiedete.

Der Oberst übergab lachend das Commando an den Premier-Lieutenant und ließ das Schießen fortsetzen. Es wurden auch fernerhin gute Resultate erzielt. Der Alte, dessen Zorn sich nach der Entfernung des Capitains sichtbar abgekühlt hatte, äußerte darüber seine Zufriedenheit und setzte dabei auseinander, wie himmelweit Diensteifer und Pedanterie von einander unterschieden seien.

Nachdem die Batterie die ihr überwiesene Munition verschossen hatte, erhielt der Lieutenant den Befehl, die Leute zusammen zu ziehen und nach der Parkwache zu führen.

Der Alte wandte sich hierauf an mich und sagte: „Um das Frühstück sind wir gekommen, das hat die Ordonnanz gewiß bis auf den letzten Knochen verschlungen. Ich kenne den Appetit dieser münsterlandischen Jungens. Auch den Rum hat er ausgesoffen, aber es wäre immer möglich, daß er den Wein verschmäht hat. Der schmeckt „suer“, und was der Bauer nicht kennt, das frißt er nicht! Es verlohnte sich wohl der Mühe, einmal nachzusehen. Reiten Sie und versuchen Sie es, ob sich noch ein Tropfen für uns retten läßt.“

Ich warf mich mit der bereitwilligsten Eilfertigkeit auf das Pferd, forcirte es zur schnellsten Gangart und flog über die Haide dahin, als hätte ich die wichtigsten Befehle auszuführen.

Die Ordonnanz lag betrunken an dem Faschinenhaufen, die geleerte Rumflasche noch in der Hand haltend. Von den Fleischspeisen war der bei weitem größte Theil aufgezehrt; der Bordeaux war aber der allgemeinen Vernichtung entgangen; es waren noch ein und eine halbe Flasche vorhanden. Erst nach langer Anstrengung gelang es mir, den berauschten Menschen wieder auf die Beine zu bringen und ihn zu vermögen, das gebrauchte Geschirr einzupacken.

Mit dem geretteten Rothwein ritt ich vorsichtig nach der Demontir-Batterie zurück, wo der Alte auf einer Lafette saß und meiner Rückkehr sehnsüchtig entgegensah. Er forderte für sich die volle Flasche und überließ mir den Inhalt der halben, womit ich den Kuchen hinunterspülte, den der Westphale als „to söt“ verschmäht hatte.

Nach zehn Minuten war der Oberst mit seiner Flasche fertig. Er warf das leere Gefäß in den Graben und rief nach seinem Pferde.

„Na, nun noch die Geschichte mit dem Chinesen,“ brummte der Alte, während er sich in den Sattel hob.

Wir eilten nach der Parkwache, wo der Oberst von den Leuten, die an den heutigen Uebungen Theil gehabt hatten, bereits mit großer Sehnsucht erwartet wurde. Niemand wußte, warum die Mannschaft zurückbehalten wurde und nicht, wie dies sonst gebräuchlich, nach Beendigung der betreffenden Uebungen in die Quartiere entlassen worden sei. Dies Räthsel sollte sich bald lösen.

Von dem wachhabenden Officier empfing der Oberst die Meldung, daß der Sattler K. der zwölfpfündigen Batterie Nr. X. sich nach Befehl in Haft befinde. Der Oberst stieg langsam vom Pferde und befahl, den Arrestanten unter Begleitung von zwei Mann der Wache herauszubringen. Gleichzeitig ordnete er an, daß die Musik der Brigade vor der Wache zusammentreten sollte. Nachdem dies geschehen war, wurde der Sattler, eingeschlossen von zwei Mann mit gezogenen Seitengewehren, herausgeführt. Derselbe war noch ganz in dem Ausputze von heute Morgen. In der rechten Hand trug er den rothen Regenschirm, in der linken die lange Pfeife mit den gewichtigen Troddeln, der ungeheure Blumenstrauß prangte zwischen Uniform und Weste und die ungeknickten Vatermörder ragten in tadelloser Steifheit handhoch über den Kragen der Uniform heraus. Der ganze Ausputz war mit sichtbarer Sorgfalt conservirt.

Nachdem der Oberst dies mit Wohlgefallen bemerkt hatte, ließ er den Arrestanten mit aufgespanntem chinesischem Sonnendach, wie er den harmlosen Regenschirm noch immer nannte, unter Vortritt der Musik an der langen Front der erstaunten Artilleristen hinabführen. Die monströse Figur wurde mit schallendem Gelächter empfangen und mit lautem Hohngeschrei begleitet. Nach diesem Golgathagange wurde der arme Sattler vor die Mitte seiner Compagnie zurückgebracht. Die Musik mußte hier schweigen, und der Oberst stellte dies saubere Pflänzchen ihrer militairischen Erziehung, wie er sich auszudrücken beliebte, dem Capitain und den Compagnie-Officieren vor. Der Empfang war sehr warm. Der Aermste wurde mit Vorwürfen und Drohungen überschüttet, die er mit fatalistischer Gleichgültigkeit hinnahm. Hieraus ließ der Oberst die Brigade zum Kreise schwenken und setzte den Leuten das in seinen Augen unverantwortliche Verbrechen des Sattlers auseinander.

„Ich müßte den siebenfachen Millionenhund jetzt eigentlich krumm schließen und in das tiefste Loch zu seinen Vettern und Cousinen, den Kröten und Molchen, einsperren lassen,“ schloß er seine geharnischte Rede, „aber ich bedenke dabei, daß dieser chinesische Spinnenfresser eine gar herrliche Stimme hat, die in der unterirdischen Wohnung wahrscheinlich stark leiden möchte. Und das will ich denn doch nicht, denn der Kerl kann singen, daß einem vor Vergnügen das Herz im Leibe hüpft. Ihr werdet hören.“

Und sich an den Gefangenen wendend rief er: „Singe, Hanswurst! in Deiner Kehle liegt Deine Rettung.“

Der Sattler ließ sich dies nicht zum zweiten Male lagen; er stellte sich in Positur und intonirte mit unbefangener, klarer und schöner Stimme das Reiterlied aus den Wallensteinern. Schon beim ersten Refrain fielen mehrere Stimmen mit ein, und beim Schluß des zweiten Verses sang Alles mit, was nur einen Ton in der Kehle halte. Selbst der Oberst brummte mit, endlich fiel auch die Musik ein und begleitete die sich immer kräftiger erhebende Stimme des Arrestanten bis zur letzten Strophe des viel beliebten Soldatenliedes.

Der Oberst rieb sich vor Vergnügen die Hände. Der Zorn war verraucht und erstarb gänzlich in der allgemeinen Fröhlichkeit, mit welcher die Leute den singenden Chinesen umtanzten.

„Na, ist es nicht eine Schande,“ ließ sich der Alte zum Schluß noch einmal vernehmen, „daß ein Mensch, dem der liebe Gott eine solche Kehle gegeben hat, sich zum hanswurstigen Chinesen herabwürdigt und unsere einfache, schöne Uniform durch Troddeln, Lappen und Blumen zum Harlekinkleide macht?“

Sich an den Gefangenen wendend, setzte er gutmüthig hinzu: „Dies Mal sollst Du mit einem blauen Auge davon kommen. Herr Hauptmann H., schicken Sie ihn drei Tage in Mittelarrest. Wenn er diese Strafe überstanden hat, soll Alles vergeben und vergessen sein; kein Nachtragen, keine Neckereien mehr, das bitte ich mir aus. Und nun entlassen die Herren Hauptleute die Leute in die Quartiere. Es ist uns heute etwas spät geworden.“

Auch ich wurde hierauf von dem Alten gnädig verabschiedet und meinem Capitain als ein „kluges, talentvolles Kind“ zur väterlichen Ueberwachung empfohlen. In dem Kreise der mir befreundeten Cameraden hieß ich seit dieser Zeit „der Brigade-Adjutant“. Der Sattler K. wurde, so lange er in der Brigade diente, „der Chinese“ genannt.





Verlag von Ernst Keil in Leipzig – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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